„Wieviel Kubikmeter misst die Zelle eines Unschuldigen? Ein Dutzend? Es ist schlimm, dass ein so beengter Raum dermassen viel Schmerz beinhalten kann.“ R.P.Hubert Lanssiers
Sein Herz hoerte gestern in der Frueh zu schlagen auf. Mit seinen 76 Jahren wusste Pater Hubert Lanssiers, dass er jeden Moment seinen Herzbeschwerden erliegen konnte, an denen er in den letzten Jahren litt. Doch kein Schmerz und keine Beschwerde konnte ihn von den Gefaengnissen abhalten. Jeden Dienstag erschien er im Ornat in der Frauen-Zuchtanstalt der hoechsten Sicherheitsstufe in Corrillos und an Sonntagen in Castro Castro, um die Insassen zu besuchern, jene, die er zu seiner Familie zaehlte.
„Niemals wollte er damit aufhoeren. Wenn ihn etwas schmerzte, nahm er eine Pastille und fertig. Er sagte: Ich kann sie nicht allein lassen, sie warten auf mich“, erzaehlt seine Assistentin der letzten 15 Jahre, Ana Rivera S?nchez. Der Vater der Unschuldigen, wie sie ihn manchmal nannten, suchte die Gefaengnisse seit 1974 auf. Sein erster Kontakt ergab sich mit der Anstalt von Lurigancho, wo er die Schaffung eines Industriepavillons mit der Absicht bewarb, die Wiedereingliederung der Internierten zu foerdern.
Die Zeit gab ihm recht. „Wovor ich sie bewahren kann, ist der alltaegliche Stumpfsinn. Dass sie aufhoeren zu traeumen, sondern einer Arbeit nachgehen, die ihnen taugt, so wie in Castro Castro, wo wir ihnen die Kunstwerke direkt abkauften“, erzaehlte er im vergangenen Jahr.
„Es nahm ihn sehr ein, denn die Leute gewannen ihre Selbstachtung wieder, ihre Wuerde. Er spuerte wie am eigenen Leib den Schmerz, die Armut, das Elend. Es gab ihm einen Herzstich, die Machtlosigkeit angesichts der Problemen der jungen Leute in den Gefaengnissen mitansehen zu muessen“, erinnert sich Ana.
Und so arbeitete er bis zum Ende. Die letzte Visite noch am vergangenen Dienstag. Er wollte nicht fehlen, obwohl ihn der Magen plagte. „Deshalb, weil es sein Leben war. Er sagte: „Ich muss gehen, die Maedchen erwarten mich. Ich kann sie nicht enttaeuschen.““ Ana erinnert sich, dass an jenem Tag die inhaftierten Frauen auf ihn zugestuermt kamen, um ihn wie immer zu umarmen, und sie verbrachten die ganze Zeit im Gespraech mit ihm, hoerten, was er ihnen ueber Hilfe und Selbsthilfe sagte.
Seine Naehe zu den Haeftlingen verdeutlichte ihm die Realitaet, in der sie dahinschmachteten. Deshalb war er einer der ersten, der in den 90er-Jahren Hunderte von Faellen aufgriff, in denen Menschen unschuldig des Terrorismus angeklagt und veruteilt worden waren.
„Ich habe hoechst Seltsames gesehen: Einen Mann verurteilten sie wegen subversiver gemalter Sprueche, aber es stellte sich heraus, dass er ein Analphabet war. In Castro Castro lieferten sie Bauern ein, die zeitlebens in einer Huette gelebt hatten, und die sich ploetzlich vor einem Spiegel wiederfanden, wo ihnen das eigene Antlitz entgegenblickte. Das war, als wuerde man uns heute aufgreifen und verurteilen fuer Strassenlieder Singen“, so Lanssiers vor 3 Jahren, als er in einer Kampagne befangen war, die ihm weite Bekanntheit einbrachte.
Seine staendigen Anzeigen bewirkten, dass die Regierung 1996 die Kommission „Ad Hoc der Gerechten“ zur Befreiung der unschuldigen Gefangenen ins Leben rief, eine Gruppe, in der der Ombudsmann des Volkes, Jorge Santistevan de Noriega, mitwirkte, auch er einer, der gestern in der Kapelle de la Recoleta anstand, um seine letzte Ehre zu bezeugen.
Santistevan unterstreicht, dass der Wesenszug, der ihn am meisten am Geistlichen beeindruckte, die Einfachheit war, mit der er sich allen naeherte, um ihnen Beistand zu geben. „Die Wichtigkeit von Lanssiers bestand nicht in den Interviews, die er gab, auch nicht in seiner Mitarbeit in der Kommission „Ad Hoc“, sondern darin, dass er in jeden Verschlag eines Gefaengnisses ging, bis hin zum letzten, und dort faehig war zu reden.“
Ohne Zweifel, die Arbeit des Paters Hubert Lanssiers war wichtig: Sie erlaubte die Freilassung von 1.600 Haeftlingen, die unschuldig gesessen waren, manche von ihnen 5 Jahre, einfach willkuerlich ihrer Freiheit beraubt. Auch viele von diesen waren gestern in der Recoleta anwesend, sein Ableben beweinend.
Lanssiers war ein friedlicher Mensch, aber kein passiver. Er kannte den Unterschied genau und konnte wild werden angesichts der Traenen, wenn es um Unrecht ging, und im naechsten Moment mit all seiner Energie Partei ergreifen, um das Unrecht anzukreiden und es zu bekaempfen.
„Man konnte ordentlich staunen ueber seine Kritikfaehigkeit. Denn er war das Gegenteil eines nachgiebigen und diplomatischen Menschen, nein, das Gegenteil. Er war faehig, die beissendste und bitterste Kritik anzubringen, und das machte er geschickt. Und ich glaube, das insbesondere wird uns fehlen“, bedauert der ehemalige Ombudsmann.
In die gleiche Kerbe schlaegt Pater Gast?n Garatea, Mitglied der Kommission fuer Wahrheit und Versoehnung. Er kannte Lanssiers seit 1964, kaum dass er in Peru angekommen war, und teilte mit ihm die Solidaritaet mit den Enteigneten.
„Er lehrte mich, an Gott zu glauben. Es gelang ihm die perfekte Synthese: Liebt jemand Gott, so liebt er die Menschen. Was du an Gott liebst, liebst du am Menschen. Es geht nicht nur um das Rezitieren des Vater unser und des Ave Maria, das sind Hohlheiten. Er lebte im Menschlichen, fuer das Menschliche. Denn das ist es, was dich bereichert und naeher zu Gott bringt“, bezeugt er.
Lanssiers sagte immer, was er dachte. Einmal bekannte er seinen Hass, den er damals gegen die Nazis, die seine Familie umgebracht hatten, empfunden hatte. Bei einem anderen Anlass gestand er, aus der Bestuerzung ueber ein unglaubliches Verbrechen heraus spontan die Todesstrafe gefordert zu haben. Spaeter, im Bedenken, aenderte er seine Meinung.
Mehr als bei einer Gelegenheit erzaehlte er die Geschichte von Kapitaen Scott, den man mit seinen Maennern zum besagten Wettlauf zum Suedpol geschickt hatte. Als einer von ihnen erkrankte, standen sie vor dem Dilemma, diesen zurueckzulassen, weil er den Marsch verlangsamen und alle gefaehrden wuerde, oder ob sie ihn mitnaehmen. Sie entschieden sich fuer Letzteres. 6 Monate spaeter stiess man auf die Leichen der Expeditionsteilnehmer.
In der gleichen Weise ergriff Lanssiers immer Partei fuer die Menschenrechte der Benachteiligten und Armen, jener, die niemand mochte und doch alle fuerchteten. Er war der Engel der Haeftlinge.
Hubert Lanssiers. Geboren am 3.November 1929 in Bruessel. Zum Priester geweiht am 8.Dezember 1959 in Tokyo. Erreichte Peru am 25.Maerz 1964, nach einer 40-taegigen Ueberfahrt. Arbeitete seit 1974 in den Gefaengnissen Castro Castro, San Jorge, El Front?n, Santa M?nica. Autor des Buches „Die Zaehne des Drachen (Los Dientes del Drag?n)“
La Republica, Freitag, 24.Maerz 2006
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Die Nachricht vom Ableben Hubert Lanssiers‘ erreichte mich vor ein paar Tagen im Ausland.
In einem Moment, wo Peru mehr als alles Erleuchtung, intellektuelle Klarheit und seelische Abgestimmtheit benoetigt, stirbt einer der hellsten Geister und eines der vornehmsten Herzen unserer Heimat. Hubert wird uns riesig fehlen in der Zukunft, aber zuvorderst fehlt er uns heute.
Die Mildtaetigkeit und die Intelligenz gehen nicht immer vereint. Die Gutherzigkeit, die Zurueckweisung, die Empathie angesichts fremden Leides und die Widmung seiner selbst, es zu vermindern, scheinen unvereinbar mit der Schaerfe der Ironie, der Schaerfe des Rasiermessers eines Intellekts, der faehig ist, ein rueckhaltloses, den Schmerz aufgreifendes Konzept zu formulieren oder eine sich in Besserwisserei kleidende, zum Himmel schreiende Dummheit zu entkleiden. Aber bei Hubert war der Verstand – und eingeschlossen seine erinnernswerten Wutausbrueche – Ausdruck der Milde und Werkzeuge, die „Menschliche Bedingung“ selbst im Zentrum aller Hoellen dieser Welt zu retten.
Die Route, die diesen Belgier mit so unverkennbarer Zunge von einem zerstoerten Europa seiner Kindheit zu den Kriegsschauplaetzen und Nachkriegsschauplaetzen in Asien und von dort nach Peru fuehrte, bedeutete, als Zeuge und Mitwirkender die groessten Tragoedien des vergangenen Jahrhunderts miterlebt zu haben, um schliesslich, am Ende, von dort die Kraft der Intelligenz oder der reinen Menschlichkeit jenen Verdammten in den Gefaengnissen unserer Erde mitzubringen.
Hubert war Gefaengniskaplan in Peru, so wie er – im Abwechslungsreichtum einer eindrucksvollen Lebenserfahrung – persoenlicher Kaplan des ermordeten Praesidenten von Suedvietnam, Ngo Dim Diem, war, mitten im Krieg gegen den Vietcong und Nordvietnam. Als ich ihn das erste Mal interviewte, in den 80ern, beeindruckte mich, ich erinnere mich, das Fehlen eines etwaigen Konflikts zwischen seiner ausnehmenden akademischen Gebildetheit, einer gelebten und wahrheitsbedachten, angesichts all des Grauens, das er am eigenen Leib und aus naechster Naehe miterlebt und -erlitten hatte. Da war es nicht weit, zu verstehen, dass Hellsichtigkeit Weg und Ziel fuer Solidaritaet vorgeben.
Lanssiers hatte aus naechster Naehe die Tragoedien miterlebt, die die totalitaere Ideologie des Kommunismus in Asien verursacht hatte. Dann allerdings, als er mit dem Fanatismus des „Leuchtenden Pfads“ Bekanntschaft schloss, hatte dieser Priester und Ehren-Legionaer der „Legi?n Extranjera“ nicht eine Sekunde einen Zweifel, nicht als Kaplan fuer jene militanten Atheisten zu wirken und als Stimme der Vernunft zwischen Fanatikern. Denn, mit seinen Worten, „eine Spezies, die zu absoluter Logik faehig ist, hat nicht weit zu absoluter Verruecktheit“, und diese fuehrt zu Gefolterten, zu Gespaltenen im Konflikt zwischen ihrer Feinfuehligkeit und den nicht wieder gutzumachenden Folgen ihrer Taten; gespalten zwischen den schreckenerregenden Forderungen ihrer Ideologie und der allgemeinen Ruehrung, die in jedem schlummert. Fuer viele, die jene blutigen Jahre ueberlebten, war Hubert das Innbild des Weges der Vergebung, nicht nur ueber das Mitleid, sondern auch ueber den Weg des Verstandes und des Verstaendnisses.
Und hier, in der quaelenden und grausam grauen Welt der Gefaengnisse, in der die Suche nach Rettung im allgemeinen die Form der Unterbrechung jeder charismatischen Reinigungsbemuehung annimmt, hier bot Hubert den Weg gelebter Versoehnung an. Niemand besser als er, in seinen intelligenten, abgeklaerten, eleganten Gedanken, ganz in der Tradition der franzoesischen Kultur, aber alles, um das Ziel zu erreichen.
Weniger cartesianisch war sein enormer Einsatz zur Befreiung der Unschuldigen und sein Kampf gegen die Stupiditaet der Buerokratie. „Was mich wirklich ermuedet“, gestand er mir in einem Interview, „ist der Kampf gegen die tiefe Dummheit. Du kannst gegen das Uebel angehen, denn es hat seine eigene Logik, aber gegen die Hirnlosigkeit ist es vergeblich. Der Typ ist verschlossen, ohne jeden Laut und ohne jeden Fehler.“
Im Juedischen gibt es eine Legende, geboren im Babylonischen Exil und spaeter in der Kabbala und in den haschidischen Legenden weiterentwickelt, eine Erzaehlung, die besagt, die Welt ueberlebe nur deshalb, weil es auf ihr 36 gerechte Menschen gaebe, deren gemeinsamer Verdienst die Menschheit vor der Zerstoerung durch Gottes Hand bewahrt, eines Gottes, der genug habe von dieser Korruption und Selbstergoetzung. Beim Tod eines dieser „Lamed Vav“ (36 sind es in der hebraeischen Zaehlung) bekennen jene, die von ihm wussten, in Trauer, „Er war einer der 36“.
In dem Moment, als Hubert starb, verblieben 35.
(Gustavo Gorriti, Codirektor der „Republica“, Sonntag, 26.3.2006)
Interview mit Terry Guerra Tananta, 27.Maerz 2006, Tamshiyacu. Terry verbrachte 11 Jahre unschuldig im Hochsicherheitstrakt von Chiclayo, in Blickweite zum ideologischen Anfuehrer der maoistischen Bewegung, Abimael Guzman, nachdem man ihn wegen seines ungestuemen Wesens als vermeintlichen Terroristen des „Leuchtenden Pfades“ denunziert hatte. Terry arbeitet heute als Kunsttischler und besucht im Zuge der bevorstehenden Praesidentschaftswahlen hier seine betagten Eltern.
W.H.: Terry, du kanntest Pater Lanssiers…
T.G.: Ja, er besuchte mich 4 Mal, als ich in Chiclayo und Piura einsass, 11 Jahre. Er war Chef der Kommission „Ad hoc“. Er sprach mit dir unter 4 Augen, und wenn er hinausging und sagte, dieser ist unschuldig, liessen sie dich frei. Er war der rechte Arm von Fujimori und Montesinos. Natuerlich, da waren andere Organisationen vorgeschoben, ONG’s, die jeden Fall akribisch prueften, aber es lief auf ein Gespraech mit Pater Hubert hinaus. Er sah dir in die Augen, du erzaehltest ihm die Wahrheit, und er entschied. Also es war reines Glueck. Und natuerlich, zuerst kuemmerten sie sich um die, die zu 20, 25, 30 Jahren verurteilt waren. Ich hatte nur 13. Mich liessen sie erst mal auf der Seite.
W.H.: Er war der rechte Arm von Fujimori und Montesinos…
T.G.: Ja, natuerlich. Sie sagten zu ihm, Pater, machen Sie mal. Er hatte ein gutes Dutzend der besten Anwaelte des Landes um sich. Sie hatten alle Gewalt. Aber es ist ihnen nicht gelungen, alle Unschuldigen herauszufiltern. Einmal, als er krank wurde, gegen Ende des Jahres, zu Weihnachten, brachte man ihn in seine Heimat zur Genesung. Waehrend dieser Zeit blieb die Maschinerie stehen. Seine Anwaelte fuehrten zwar Gespraeche, aber keiner entschied. Bis er wiederkam.
W.H.: Was fuer ein Mensch war er?
T.G.: Wenn er ins Gefaengnis kam, war das erste eine gemeinsame Messe mit allen, auch den Schweren. Wenn er ins Haus kam, konnten wir uns frei bewegen. Ueberhaupt fing es damit an, dass sie uns frei herumgehen liessen. Im ersten Jahr hattest du nur eine halbe Stunde Luftschnuppern im Hof, das Essen kam durch den Spalt im Boden, aber ansonsten liessen sie dich in Ruhe. Du konntest nachdenken. Es war korrekt. Dann kam er, und sie fingen an, dir Arbeit zu geben. Ich habe 2 Jahre Kunsttischlerei gelernt, mit allen Geraeten, wunderbar. Vorher war ich Mechaniker, beim Militaer gelernt. Es gab noch eine andere, Schwester Christina, eine Kolumbianerin, auch schon aelter. Sie impfte uns Selbstachtung ein. Sie sprach auch viel mit uns. Wir machten unsere Spaesse, wenn wir sagten, ihr war es wohl in ihrer Heimat zu wenig gefaehrlich, dass sie es mit uns nun aufnehmen wollte. Und sie ist dann wieder nach Kolumbien zurueckgegangen. Wer weiss, was aus ihr geworden ist. Sie sagte, Soehnchen, wenn du rauskommst, trink nicht und schlag nicht deine Frau. Sie kannte uns wie eine Mutter.
W.H.: Also, Pater Hubert las mit euch die Messe.
T.G.: Nein, nicht nur gelesen. Du brauchst nicht glauben, dass die Schweren nicht auch die Kommunion bekommen haetten. Die Messe war die einzige Zeit am Tag, wo er nicht rauchte.
W.H.: Der Pater rauchte?
T.G.: Wie ein Schlot. Die roten Winston. Sein Arbeitstag dauerte manchmal bis um eins in der Frueh. Und er war nicht mehr der Juengste. Damals, in den 90ern, er war auch schon 60. Grossgewachsen, nur mehr ein schmaler weisser Haarkranz hinten. Es machte ihm nichts aus, dass er nicht perfekt unsere Sprache sprach.
Fujimori hat die Kommissionen zugelassen, weil er wusste, dass bei weitem nicht alle „Senderistas“ waren. Internationale ONG’s. Es war bemerkenswert. Er sagte zum Pater: „Machen Sie mal, bitte.“ Das gleiche wird Toledo zu ihm gesagt haben.
W.H.: Goritti hat einen Nachruf auf ihn verfasst.
G.T.: Ja, ich hab ihn grad gelesen. Sie kannten sich aus Europa. Goritti war ja in Spanien im Exil wegen Fujimori.
…. Der Pater ist wirklich tot?