Jahr der Wende: Amazonisches Tagebuch, fortgesetzt
Die Nächte im Dschungel streben, so drängt sich der Eindruck auf, einer Kulmination zu. Seltene Gäste, manche unter ihnen abstrakte Erscheinungen, geben sich die Ehre: Der traurige Aymama, seit Jahren nicht gehört, zieht stundenlang seine Kreise, so als klage ein Kind unter Schmerzen oder Wehmut. Nachdenklich liege ich im Bett und spinne, notgedrungen mutiger als sonst, einen ahnungsvollen Faden. Hoffentlich kostet er mich nicht mein Leben. Wahrhaftige, der scheue Ayamama zieht mitten auf den freien Flächen, die wir akribisch abgeholzt haben, seine Kreise. Vielleicht ist es auch nur ein Rufen, ein magisches. Doch Esmeralda und Zoila liegen ebenso wach wie ich und starren beklommen nachdenklich ins Dunkle einer wolkenschweren Nacht. Doch sosehr sich die Nacht auch dunkel gibt, vielleicht liegt es nur am fehlenden Mond, der, weiß der Teufel, gar nicht mehr aufgehen will. Vielleicht ist er gar vom Himmel gefallen? Zuzutrauen wäre es ihm jedenfalls, diesem launischen Gesellen. Den Ayamama jedenfalls fichts nicht an. Er dreht von 21 Uhr bis 3 Uhr in der Früh seine Kurven, sozusagen seine Kompensation dafür, daß er sich jahrelang rar gemacht hat. Wo nur mag er sich in all der Zeit herumgetrieben haben? Haben ihn die Brasilianer in 60 km Entfernung vertrieben?
Der Mond seinerseits, um sogleich zum heurigen Hauptdarsteller umzuschenken, läßt sich bitten wie Gina Lollobrigita in ihren besten Tagen des grünen, also launenbehafteten Mondes. Nicht nur, daß er inexistent erscheint. Nein, der gute Mann taucht erst nach Mitternacht wie eine Brandfackel auf der im Westen gelegenen, unmenschlich ausgedehnten Kakaoplantage auf und erhebt sich gemächlich, so als wäre er ein überfälliger, von einem zürnenden Gott Jach-haw-weh gesandter Racheengel, der seinen folgenschweren Auftritt um nichts in der Welt übereilen möchte. Sein Licht, das gar nicht seines ist, sendet er ohne Umschweife gen Westen, wo die Scheinwerferkaskaden drohend, weil unnachgiebig durch das Blätterwerk des immergrünen Busches gleißen. „Was ist das nur für ein Scheinwerfer?“, denkt Kapistran Clemens, der heute, weil unangekündigt aufgetreten, auf die Schnelle im Haus der Wächter in einem unbelegten Bett Platz genommen hat. In einem leeren Bungalow will er partout nicht schlafen. Es fehlt auch Judith, die als einzige den Schlüssel zum Bettwäschekasten bei sich hat. Seltsamer Geselle, doch was soll´s? Ist er vielleicht der Herr des Waldes im Langzeitmodus? Schön langsam kann ich ja gar nichts mehr ausschließen. Der Mond jedenfalls hat von Grün auf Goldgelb und volle Pracht geschaltet, doch an seinem späten Aufgehen hat er nichts verändert. Um acht Uhr morgens steht er erst im Zenit über der Baucar-Kastanie, dem Königspalast der Webervögel. Daß er dergestalt das Firmament mit Frau Sonne teilen muß, scheint ihn nicht im Mindesten zu inkommodieren. Auch die Werwölfe legen wegen der schrägen Zeitverschiebung nicht ihr Veto ein. Was also braucht es mehr? Lange schon ist´s her, daß Andreas nachts nackt durch den Busch lief, sieben Stunden lang, nachtsichtig, ohne Kratzer. Seltsame Zeiten, doch was soll´s? Die Stockdunkelheit 14 Tage zuvor liegt schon wieder lange zurück, und mit ihr der gespenstische Auftritt unserer Baumwanderer, die du um keinen Preis der Welt zu Gesicht bekommst. Du hörst sie nur, wenn sie in den Aguaje-Kronen Platz nehmen, als wäre dies ihr Königsthron, und sie gemächlich, aber dafür umso akribischer, die rostbraunen, leuchtenden Früchte, die wie zu Eiern deformierte Golfbälle wirken, sich zu lukullischem Gemüte führen. Dann und wann jedoch springen sie aus dem Sitz auf das Dach, mit ein paar Armschwüngen, und landen plumpsend am Blechdach, wo sie sofort in den Amoklauf-Modus umschwenken und so tun, als wollten sie die vollen Aluminiumplanken wohl samt ihren Nägeln vom Dachbau herunterreißen. Das jagt den unter der Decke versteckten Frauen groben Schrecken in die Knochen, denn kaum hat der Buriburi Fersengeld gegeben und die gröbste Gefahr scheint erstmal gebannt, gibt sich der nächste ungebetene Gast die Ehre, genau genommen sind es zwei, und sie schmatzen, grunzen und kratzen, so als wären beide rollig und wollten ins Gemach der Frauen stante pede lüstern vordringen. Stachelschweine wissen, wie sie Frauen eins auswischen können. (Warum gerade Frauen, gehört zu den sieben Weltwundern). Das ruft Clemens auf den Plan, der, ganz in ungewohnt ritterhafter Anwandlung, sich um Wohl und Wehe der Frauen urplötzlich Sorge macht, so als erinnere er sich gerade in diesem Augenblick daran, daß die Schöpfung seines Arbeitgebers aus Manderl und Weiberl, wie es seine Großmutter immer zu predigen pflegte, geformt ist. Clemens somit macht also seinen wackeren, todemutigen Auftritt in dieser unheilschwangeren, unwägbaren Nacht, freilich unbewaffnet. Verflucht sollen die beiden Arbeiter sein, die da ganz unbeteiligt wie die gröbsten Übeltäter weiter in ihrem schnarchenden Delirium fortfahren. Denen ist doch alles egal, selbst der Weltuntergang! Doch andererseits: Was tun sie dann wirklich, sollten wir hier Trunkenbolde am Terrain haben, Banditen? Dann würden sie wohl doch nicht dermaßen schnarchen, sondern nach ihren Flinten greifen! Oder doch nicht? Muß ich eingreifen? Clemens also betritt in Unterhose die Szene und begibt sich furchtlos zum Tatort des Tumultes. Seine einzige Waffe die Taschenlampe. „Nur keine Sorge, Herr Friedsam“, tönt es da rechts hinter seiner Schulter. „Das sind unsere Spaßvögel, die Stachelschweine. Ein Glück, daß wir derzeit keine Hunde am Terrain haben. Denn die hätten es abgekriegt. Hundeschnauzen können sich vor Stachelschweinen nicht zurückhalten. Dann haben wir die Bescherung.“ Bruder Clemens kann es egal sein. Hauptsache, der Beweis ist geliefert, daß beim vermeintlichen Weltuntergang nicht alle schlafen, sondern ihm die Aufwartung geben. Ob in Unterhose oder nackt, kann ihm egal sein. „Ist es da draußen gefährlich?“ ertönt prompt Esmeraldas Stimme vom hölzernen Fenster. „Typisch“, denkt sich da Clemens. „Wir Gringos stehen nachts in der Gegend herum, während für die Hiesigen das Ganze hier, wenn ich´s recht bedenke, gar nicht zu existieren scheint! Wie kann man nur dermaßen die Ruhe weghaben?“ „Fürchten Sie sich, Herr Clemens?“, kommt es frivol vom Fenstergitter. Wollen sie nicht bei mir Schutz suchen?“ Clemens Friedsams Schultern sacken zusammen. Sein weiteres Schicksal in jener Nacht bleibt diskret.
Die nächsten Wichtigtuer, um nunmehr einen Schwenk vorzunehmen, sind unsere Schildkröten, die sich zu veritablen Platzhirschen am Grund, sprich, an der Quebrada, mausern. Ich habe vorvorgestern zur frühen Mittagsstunden nachgezählt, als die gesamte Belegschaft selbstherrlich stoisch im prallen Sonnenschein auf den Flößen lag. Sieben ausgewachsene Exemplare, fünf, sechs mittelgroße und ein dutzend kleine, allesamt im Dickicht des Varrijals geboren. Die Natur weiß sich zu helfen, auch wenn kein grauer vulkanischer Amazonasufersand zur Verfügung steht. In diesen friedlichen Verhältnissen, wo heuer kein Jaguar herumstreift, kann auch die hochschwangere Frau Taricaya improvisieren. Unsere Charapa, die Königin, die sich bitten läßt, hat sich derweilen endlich, nach Monaten, auch akklimatisiert und zeigt sich, scheu wie sie ist, nur für Minuten in der größten Frühnachmittagshitze, wo sie aus der Tiefe emportreibt wie der majestätische Alacrón am Lago Yarinacocha in Pucallpa, als es noch golden war, in den 50ern und frühen 60ern. Der Stillstand der Menschheit jedenfalls tut der Tierwelt gut. Der Äther ist gereinigt, kein Lärm, kein Verkehr, kein Irrsinn. Die Vogelwelt erholt sich in ungekannter Radikalität. Sogar im Dorf werden seltene Vögel gesichtet. Sie brüten an allen Ecken und Schlupflöchern unter den Dächern. Und heute nacht ein Glühwürmchen, so als hätte es vom Himmel einen Freibrief für ein paar Minuten erhalten. Kolibris ihrerseits brauchen keine Freibriefe. Ihr Tun obliegt dem eigenen Ermessen. Üblicherweise bekommt sie um 06:20 Uhr unten am Ufer der zu Gesicht, der/die reinen Gewissens ist. Und das will ja schon was heißen in diesen todesschwangeren Zeiten, wo manche meinen, das ganze wäre ein „Hoax“, eine Erfindung.
Nein, das ist keine Erfindung. Oscar Pezo, mein Vorarbeiter, starb innerhalb von vier Tagen, und er war Anfang der Fünfzig. Und bei einer Grippe sterben nicht Ärzte und medizinisches Hilfspersonal wie die Fliegen, trotz ihrer Weltraumschutzausrüstung. Der Leiter der Pathologie des Regionalen Krankenhauses Loreto/Iquitos starb innerhalb von Tagen. Die Warnung des Robert Koch-Institutes hatte ihn nicht erreicht. Und da gibt es in Deutschland Leute, die meinen, sie würden sich profilieren, wenn sie das Ganze als Verschwörung hinstellen. Das Dramatische an der ganzen Sache ist nur, das war erst der Anfang. Doch darüber will ja keiner reden. Hauptsache, die Geschäfte laufen wieder an. Wir hätten gar nicht zusperren sollen, sagen manche. Hätten wir es doch so gemacht wie die unbekümmerten Schweden! Prinzip Eigenverantwortung. Dann hätten wir uns viel Zores erspart. Wer redet von den Kleinen, die bankrott gingen, und wer von denen, die sich gar deswegen umbrachten? Hätten wir das ganze nicht auch anders anpacken können und nicht mit diesen lächerlichen Schneuztüchlmasken, die ja nur ein Witz sind gegen das Virus. Das Virus! Ein Achtzigmillionster Teil von einem Millimeter. Und da zeigt uns der Milchbube im Bundeskanzleramt wichtigtuerisch vor, wie man weiße Masken als neue Mode trägt. Was für eine Verarschung! Weiß er denn nicht, daß für dieses Virus sogar noch das Trommelfell ein offenes Scheunentor ist? Das Virus selektiert. Doch jede Aussage zu diesem Phänomen ist im Grunde hinfällig. Wir wissen ja nicht einmal, was es ist! Auf jeden Fall ist es keine Erfindung der Chinesen. Nichts lächerlicher als solche Behauptung. Hier spricht die Erde, und sie ist faktibel die oberste Autorität auf diesem Planeten. So schaut´s aus, Herr von Kraus. Derweilen dürfen wir Modifizierungen anbringen, an uns selbst, zum eigenen Wohlergehen. Zu unserem und dem des Nächsten. Das freundliche Lächeln hinter meiner Plastikgasmaskenangriffsmaske, freundlicherweise aus Lima per Extrapost zugeschickt von meiner Bürgermeisterin. Ich wandere herum wie Darth Vader. Und mein Atem hört sich wie eine Pumpe an. So schaut´s aus, Frau Pospisyl. Bitte nicht weinen! Bitte! Oscar war ein prima Kerl. Immer freundlich, gar lustig. Ein Superkoch. Alles autodidaktisch. Seine Frau ist schon lange tot. Sie haben ihn begraben, bevor die Kinder die Todesnachricht erreichte. Begraben? Verbrannt. Doch von den Pesttoten wollte noch nie jemand etwas wissen. So verschwinden wir alle von einem Nu auf den anderen. So wie Wolferl, der Mozart.
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Wovoka, wie er spricht
Was Wovoka und seinen Gesinnungsgenossen, den Geisterhemdkriegern, nicht gelang, nämlich seine Heimat, die Schildkröteninsel, von der weißen Pest leerzufegen, das schaffen Mächte, die sich beharrlich dem Zugriff des Menschen entziehen. Sie können dies, weil jene Menschen, die sich der Macht verschrieben haben, ja von ihnen letztendlich nichts wissen wollen, denn selbst wenn diese Mächte die reinste Antithese zu unmenschlichem Tun, wie auch immer es geartet sein möge, darstellen, der Machthungrige wird das Menetekel, das vor ihm in brennenden Zeichen an der Wand sich bildet, nicht verstehen wollen. Die Mörder wollen eben sogar auch vom Teufel nichts wissen. Sie wollen gar nichts wissen. Am wenigsten wollen sie wissen, was wahr und was falsch ist, was Wahrheit und was Lüge ist. Das ist der große Unterschied zu Beelzebub, dem alten Zottelbär. Der alte Zottelbär, der es sich auf dieser Erde wohnlich eingerichtet hat, kennt sehr wohl den Unterschied von Wahrheit und Lüge. Auch wenn er die Lüge geboren hat (und das will ja immerhin etwas heißen), er kennt auch seinen Gegenspieler, und er kennt seinen Gegenspieler besser als wir ihn kennen. Wir wollen den Gegenspieler ja gar nicht kennen, denn im Grunde langweilt uns diese ganze vermaldeite Dogmatik ja zu Tode. Wir spielen lieber Russisches Roulette. Das ist unsere Erfindung, oder formulieren wir es nicht so rigoros: unsere Co-Erfindung, so wie der Colt des Herrn Samuel Colt. Wir wollen das alles nicht wissen. Wir wollen ja gar nicht wissen, was Lüge ist. Wir wollen uns nur in ihr selbstgefällig suhlen, wie bei einem opulenten, ausschweifenden Mahl im alten Rom, wo schlußendlich die Konkubinen nackt auf den Tischen tanzten und die Senatoren und Konsule betrunken grölten. Wir wollen das nicht wissen. Wir wollen nicht wissen, was den Menschen ausmacht, obwohl es in der Präambel Nummer Eins zur Charta der Vereinten Nationen klar und deutlich formuliert steht. Der Mensch gehört entmenschlicht. Das ist die Präambel des Bösen. Dem Menschen gehört alle Macht. Das hingegen ist die Präambel der Mörder, die nie ein Buch gelesen haben. Das ist eben der große, große Unterschied. Der Antichrist hat die Bibel sehr wohl gelesen. Er hat sie nicht nur Wort für Wort gelesen, nein, er kennt sie auswendig; und schlimmer: passagenweise hat er sie mitverfaßt. Er konnte eben sein Maul nicht halten, auch wenn er immer schon wußte, die Menschen werden ihn nie verstehen. Das Wort des Nazareners, seinem eigentlichen Widersacher, dem er seit je spinnenfeind gesinnt ist, weil ihm vor ihm durch und durch ekelt, dieses Wort mußte er bereits an seiner Wurzel, also an der Transkription, mit Gift besprühen. Besprühen und bespucken. An der Wurzel pflanzte er den Zweifel ein, so wie Unkraut neben einem 3.000 Jahre alten Olivenbaum am Ufer des Sees Genezareth. Stacheliges Unkraut, das nicht auszurotten ist. Wowoka, ein Wavioka-Paijute Schamane, war Prophet, und was er sah, war alles andere als erheiternd. Das verstanden auch seine Mitkämpfer, jene, die sich, stammesübergreifend, zur letzten Schlacht, jener am Little Big Horne, versammelten. Sie wußten, dies wird ihre letzte Schlacht, auch wenn sie mit der kompletten Auslöschung des 6.Kavallerieregimentes des selbstherrlichen General Custer enden sollte. Alles danach war nur mehr ein Abgesang. Cochise, Geronimo, Wounded Knee, die Einpferchung in die Reservate, die Krankheiten, die Missionierung. Die Missionierung, die sie nicht verstehen konnten. Zunächst nicht verstehen konnten. Die große amerikanischen Nation an First People, 80 Millionen Menschen groß, wie Anthropologen schätzen, wurde in einem beispiellosen Genocid ausgerottet auf wenige Zehntausend. Ich meine, Wovoka sah dies alles. Und ich meine, er behielt sich gegenüber seinem Gott, Wakan Tanka, ein Vetorecht vor. Und nicht nur er. Crazy Horse ebenso und vielleicht der eine oder andere Heyoka, wie sie unerkannt, unerinnert hinübergingen. Das Vetorecht der Rache. Rache.
Mit Rache hat jeder etwas im Sinn. Anfangs zumindest. Später könnte man klüger werden, man will es aber nicht. Was bringt mir das Klügerwerden, fragen wir uns. Mit Klugheit komme ich der Ungerechtigkeit nicht nahe. Mit meinem Racheschwur vielleicht hingegen schon, erst recht, wenn ich ihn somnambul, in mir, in meiner Seele tief verborgen, hinüberschleppen kann, hinüber, an das Gestade des Styx, wo mich Chiron, der Fährmann, zurückweist: „Guter Mann, für meine Ziele sind Sie viel zu schwer beladen. Ich schlage Ihnen vor, treiben Sie sich noch ein wenig in der hiesigen Zone herum und werden Sie glücklich mit der Herumtreiberei. Der Herr Schaitán handhabt es ähnlich: Herumtreiberei. Also, warum nicht?“ Und so treiben sich ein paar Tunichtgute, die sich selbstgerechterweise sagen, das kann nicht alles gewesen sein! Bei Gott, das kann nicht alles gewesen sein! So hätte es nie und nimmer enden dürfen! All diese Gesellinnen und Gesellen, alle mit einem schmählichen Todesurteil am Rücken, nehmen von ihrem Vetorecht Anspruch und treiben sich somit, unergründlichem Engelsrat folgend, noch ein Weilchen auf Erden herum. Welch eine Erleichterung, sagen sie sich, der Fährmann, der Schwarze ohne Gesicht, ist der Erste, der mich versteht. Der uns versteht, wirft der Nachbar sogleich ein, und eine Dame im Halbschatten nickt eifrig. Ich habe noch einige Rechnungen offen. Ich mache mich hier und jetzt auf, dieselben zu begleichen. Wer von euch kommt mit? Und alle kommen mit. Und so kehrt die ganze Schattenbande zurück. Sie wissen, was ihnen zusteht: Sie dürfen die Mörder in den Irrsinn führen. Und der alte Zottelbär verzieht keine Miene, als er die rachelüsterne Rasselbande zurückkehren sieht. Und die Bande geht keineswegs kopflos vor. Und sie findet Gesinnungsgenossen, sogar unter den Lebenden, und nicht nur das: Sie findet erst recht Gesinnnungsgenossen unter den Seelen der Tiere und der Bäume. Und damit ist das Inferno, das selbst dem Zottelbär Respekt abringt, vom Zaum getreten. Die Kettenreaktion hat bereits gezündet. Nur einer könnte dem Ganzen Einhalt gebieten. Er, der Eine, der von sich sagte, er werde wiederkommen, am Ende aller Tage, doch jenen Tag kennt nur der Vater im Himmel, er allein. Am Ende aller Tage kommt das Ende des Kosmos, und es kommt in einer Weise, die wir uns nicht vorzustellen vermögen. Doch meine Freunde in Peru rechnen damit fix, so wie die Hopis. Wir leben in der Endzeit, lang kann es nicht mehr dauern. Was können wir uns vorstellen? Viel. Nur nicht den eigenen Tod. Ich kann mir viel vorstellen. Mehr noch: ich rechne mit allem. Ich rechne mit der Apokalypse. Mit ihr sogar in den nächsten fünf, spätestens zehn Jahren. Eine Konvulsion aller Elemente, gepaart mit komplettem Irrsinn, einem Rachefeldzug aller Viren, dem Roten Knopf, 2.500 Atomsprengköpfe in action, Kannibalismus und Ende. Stille. Kein Greinen eines Kindes. Nur heulender Wind. Doch das ist ja nicht das Ende des Kosmos. Die Hopis aber, sie, die treuen Hüter der Überlieferung, bereits transferiert nach Drüben, und neben ihnen ein paar Menschen mehr, sicherlich mehr als 144.000. Und die schwarzgraue Rasselbande, die sich bis zuletzt, bis zur Sperrstunde, hier bei uns herumtreibt, weil sie nicht genug kriegen kann, sie wird klammheimlich staunen und eine metaphysische Neuaufnahme, eine Revidierung des Menschheitsprozesses befürworten. Sie werden wie aus einer Stimme im Chor ausrufen: „Das haben wir nicht gewollt! Gerechtigkeit muß siegen! Wir wollten ja nur Gerechtigkeit. Den zürnenden Gott, in dessen Absicht all dies liegt, oder liegen muß, den wollten wir nicht! Wir entschuldigen uns für etwaiges Ungemach, das wir in unserer Rachelust DIR bereitet haben. Hörst DU uns?“
Der Wind weht, wo er will
Der letzte Vollmond samt seiner Eklipse um 17 Uhr hat, so scheint es wieder einmal, für ein wenig Unruhe im Gebälk gesorgt. Unsere Patienten jedenfalls zeigten sich allesamt unruhig und zogen es vor, die Nacht zumindest für ein paar Stunden unten am Bach zu verbringen, natürlich mit einer glimmenden Mapacho. Wenn Patienten im Sanatorium mit einander zu schwafeln beginnen, ist nicht viel Unterschied zu einem vormittägigen Straßentratsch vor dem Fleischhauerladen in St.Pankratz zu merken. Sie regen sich nur viel schneller über Nichtigkeiten auf. Anstaltsinsassen sticheln niemals gegeneinander. Das ist der große Unterschied. Sie sind wie große Kinder, Autisten. Sie sitzen also unten am Bach. Ihr Gerede dringt zu mir hoch. Ich merke, das sind keine sprechenden Bäume nach dem Regen und auch keine Frösche oder Kröten, das sind sie, Rasmus und Hildegard. Nikolaus ist auch dabei, das ginge ja gar nicht anders. Wir haben keinen Empfang fürs Netz, also muß er ohne Pornographieschmökern in den Nächten auskommen. Seltsamerweise lassen die Mücken die kleine Teegesellschaft in Ruhe, was mich, als ich mich diskret im Pyjama dazugeselle, sofort verwundert, doch nur kurz, denn das Sprichwort, wonach „Irre machen sich nicht kirre“ (freie Übersetzung nach Franco Basaglia), hat eben seine bewährte Bewandtnis.
„Der Mond ist heute wieder mal geil“, startet Nikolaus die Runde. Er als halbwegs Gesunder der Wortführer. Rasmus und Hildegard nicken unisono wie wohlerzogene Zaungäste. „Hier kann man´s aushalten“, fährt er fort und schwenkt zu einigen anzüglichen Phantasien über, die hier der Zensur zum Opfer gefallen sind. Rasmus kümmert dies alles ohnehin wenig, denn er ist nur des Schwedischen und des Englischen mächtig. „Dr.Himmelbauer“, läßt er sich vernehmen, „i think, it could be a good idea to start a short jungle walk towards Tamshiyacu. Without flashligt. What do you think about that?“ Eine geniale Idee, in der Tat. „Brauchst du eine Waffe, irgendein Nachtsichtgerät?“, frage ich der Formalität halber, denn ich weiß, er wird mir alles ablehnen. „No, Doctor. In case the Jaguar shows up i will battle it out with my bare hands. I am the Bear, as you are used to say, n´est-ce pas?“ Nun gut, damit ist alles geklärt. Ich hole den Schlüssel und sperre ihm das Tor auf. Rasmus bereits in seinen offenen Bergschuhen, seiner Trademark. Den Totschläger, vor dem sich Fanny (und nebenbei bemerkt, auch meine Arbeiter) vor ein paar Wochen noch sosehr fürchtete, bleibt im Haus. Ich sehe auf die Uhr. Es ist 23 Uhr. Rasmus wird querfeldein gehen, nicht auf der Hauptstraße. Das ist ihm zu billig. Er geht wie ein Bär, auf Wildwechselpfaden im Gebüsch. Angst kennt er nicht, soviel steht fest. Wenn alles zügig verläuft, kommt er noch in der Nacht bei meinem Haus an, nach vielleicht vier Stunden, also in der Finsternis. Keiner wird ihm aufmachen, außerdem liegt es entschieden außerhalb seiner Manieren, vor dem verschlossenen Haus Lärm zu machen. „The house will be closed“, stelle ich nur ruhig fest. „Don´t worry“, kommt es zur Antwort. „Ich mache es mir am Vorbau bequem. Die Fliesen kühlen nur wenig ab.“ Zum wiederholten Male bewundere ich seine Gemütsruhe. Und einem solchen Bär trauen die Ärzte in seinem Heimatland nicht über den Weg, ergänze ich in Gedanken. Den „Predator“ hat er offenkundig in der Abstellkammer verstaut, sonst käme er nicht auf diese spontane Idee. Ich spekuliere kurz mit einer Begleitung, doch das kann nur schief gehen. Rasmus braucht bedingungslose Freiheit. Nach dem ersten Kilometer wäre ich ihm eine Stechfliege, die er um jeden Preis abschütteln müßte. Besser nicht. Als er verschwunden ist, trolle ich mich wieder in die Hütte zurück. Die Gebetswimpel aus Sikkim entführen mich am Schlag in weite Ferne, als ich bemerke, wie sie in plötzlich aufkommender Brise unerwartet zu tanzen beginnen. Und wie von Zauberhand fühle ich mich zurückversetzt ins Wiener Konzerthaus, zu einem Vortrag von Reinhold Messner über den Nanga Parbat. Josef, mein Studienkollege, lauscht hingerissen. Wir schreiben das Jahr 1977. Ich glaube, es war im September. Draußen ist es bacherlwarm. Der Saal ist voll. Messner am Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Werner Herzog dreht einen Dokumentarfilm über ihn, im Himalaya. Messner sprudelt in einer Thermenquelle und weint, als er auf seinen toten Bruder zu sprechen kommt. Josef ringt ebenfalls mit den Tränen. Ich beobachte ihn hingerissen. Was für ein Mitgefühl. Als wir hinausschlendern, unterbreitet er mir seinen Jahrhundertvorschlag: „Wolfgang, was der Messner kann, können wir auch, immerhin zu zweit. Mit Sauerstoff. Der Buhl hatte auch Sauerstoff. Bist du dabei? Laß dir gesagt sein, wir schaffen das!“ Und ich wiegle ab. „Josef, achttausend Meter, Todeszone!“ „Na und? Wolfgang, mit etwas Training kommen wir da hoch. Glaub mir, kein Klettern. Es ist nur die Höhe. Da Terrain ist unbedenklich. Ich habe den Nanga Parbat bereits studiert. Glaub mir, wir würden es schaffen.“ Ein Jahrhundertkommentar. Die Gelegenheit kommt nie mehr wieder. Wie schade!
Der Nachtwind weht immer noch, lautlos, zart, so als ob er um meine … Sentimentalität wüßte. (Oder ist es gar Selbstmitleid, eine der crucialen Schwächen, auf denen der Nagual gerne herumzureiten beliebte?) Morgen wird es stundenlang regnen, doch das weiß ich jetzt noch nicht. Einstweilen holt mich zum ungezählten Male wieder einmal die Vergangenheit ein, und wieder einmal darf ich alles bereuen. Bereuen! Was bleibt denn anderes zurück als Trauer? Wer denn nähme heute meine Entschuldigung hin? Sie sind doch alle fort, die Lieben, die noblen Begleiterinnen, die rauchenden (Pall Mall lang, mit Menthol; Hobby; Davidoff; Marlboro light, die andere Marlboro rot), die Damen voller Pathos. Und die Herren Krieger, die es zu ihren persönlichen Schlachtfeldern führte, so wie Alexander, mein zweiter Freund aus der Kloake Wiens. „Diese Generation ist durch!“, rief er mir vergangenen Herbst zu. „Wolfgang, diese Generation ist durch, doch keiner will´s hören! Sie wollen einfach nicht lernen. Die Selbstzerstörung kennt kein Jahrhundert, doch dieses wird das letzte sein. Glaub mir.“ Und trotzdem schlafe ich wieder ein. Nikolaus und Hildegard mögen derweilen noch treiben, was sie wollen. Die Wasserschildkröten und Frösche machen´s ja nur vor.
Draculas Saat
Die Lage ist zwar bedenklich, doch nicht hoffnungslos. Da wir ja alle sterben könnten (vielleicht, aber nicht sicher), erlaube ich mir an dieser Stelle, zweckgerichtet etwas Dung abzuladen, ich könnte auch sagen: meine Notdurft an Ort und Stelle zu verrichten, so wie der Prediger der Pfingstgemeinde, der straßenlaut soeben aus dem Fenster des Nachbarn tönt. Ich weiß nicht, welche Mücke ihn gestochen hat, doch er steht unter Zwang. Das ist offenkundig. Es ist Viertel vor Fünf, immer noch sonnig, doch für die Pfingstler, so wie für die Baptisten und die Mormonen, läuten die Glocken. Die Pastoren legen sich lautstark ins Zeug. So etwas erlebt man nur hier, so wie die Prediger auf den Märkten und an dichtest frequentierten Straßenkreuzungen in der Verkehrshölle von Iquitos. „Christus ist nahe, und er kommt mit Entschiedenheit. Bekehrt euch!“ Die Bekehrer haben Hochsaison und sie gehen mit Entschiedenheit vor. Meine Nichte publiziert ein Foto mit maskiertem Mark Zuckerberg und Gattin. Kommentar: Der Multimillionär ist sich nicht zu schade, eine dreifach beschichtete Qualitätsmaske zu tragen. Also bitte, geht in diesen Laden in Iquitos, wo es solche Masken gibt. Zitat Ende. Meine Nichte nutzt wie unzählige Andere die Plattform, um maßzuregeln und vorzuschreiben, denn die Maske wurde über Nacht zum Abgott. Maskenlose werden von der Polizei gnadenlos gejagt und abgestraft. Wer positiv gestestet wurde, wird sowieso zum Paria. Man liest seine Spuren. Wo hat er sich infiziert? Alle werden in Haft genommen. Über Nacht sitzen wir in einem Überwachungsstaat, und die, die mitmachen, dürfen Teufel spielen.
Während die einen nichts dabei finden, einen Überwachungsstaat aus der Taufe zu heben, rebellieren andere gegen diese Vorschriften. Das teilweise sogar militant, wie in den USA vorexerziert. Schweden und Weißrussland lassen sich wegen der allerorten grassierenden Hysterie nicht ins Bockshorn jagen, auch der brasilianische Präsident riskiert eine lockere Lippe. Derselbe Mark Zuckerberg hingegen mimt den braven Vorzugsschüler, und das aus gutem Grund, schaffte er es doch, in guten zwei Monaten 15 Milliarden Dollar einzuheimsen, ganz nach dem Vorbild des Herrn Bezos, der in der Krise ganze 36 Milliarden Dollar erwirtschaftete. Davon aber nehmen nur die wenigsten Notiz, ganz zu schweigen, daß sie es sich erklären könnten, denn sie denken nicht in diesen Maßstäben. Sie bewegen sich nicht auf dem Parkett des Casinos von Monte Carlo. Sie wissen nicht, wie schwer die täglichen Spekulationen in Manhattan und in Chicago wiegen. Im Fall Zuckerbergs ging es um Öl, und ich hege den starken Verdacht, hier arbeiteten die beiden Kerle sogar zusammen, um ihre Öl-Optionen abzusichern. Mehrere Pötte lagen an der texanischen Küste im Golf von Mexiko vor Anker. Niemand wollte die Fracht. Der Ölpreis stürzte ins Bodenlose, praktisch ins Nichts. Das Öl wurde verschenkt. Freilich, damit halst man sich als Käufer ein Logistikproblem gröberer Dimension auf (Dockkosten, Verteilerschiffe für West- und Ostküste, Trailer, Personalkosten), deshalb muß man Reserven zu mobilisieren imstande sein. Die Öl-Bredouille ist auch noch nicht vorbei. Die beiden US-Boys wurden somit um 51 Milliarden Dollar reicher, eine unbekannte Anzahl von Anlegern in diversen Hedge-Fonds um die gleiche Summer ärmer, darunter, mit Sicherheit, eine erkleckliche Anzahl von Mafiosi unterschiedlicher Provenienz. Bezos und Babyface Zuckerberg horten also Blutgeld. Mexikanisches und, zum kleineren Teil, russisches Blutgeld. Das alles richtet ein simples kleines Virus an. Allerhand.
Doch diese Sache ist eben deshalb gerade eine, die Bedacht erfordert. Wir wissen nicht, woher das Virus kommt. Die Fledermaus-Theorie läßt sich nicht verifizieren, auch wenn sie wahrscheinlich erscheint. Gestern brach in der Zentralmongolei die Beulenpest wieder aus, der „schwarze Tod“ des Mittelalters. Doch das Bakterium der Beulenpest, in Rattenflöhen überwinternd, ist ein plumper Geselle im Vergleich zu Sars-Cov-2. Das neuartige Virus zeichnet sich durch Winzigkeit aus, seine Größe variiert zwischen 80 und 125 Nanometer, das heißt, der 80 bis 125 millionste Teil von einem Millimeter. Sein solitärer Ribonukleinsäure-Strang umfaßt nur 29.903 Nukleotide. Und dennoch ist es dermaßen effizient. Seine Effizienz erwächst ihm aus der leichten Übertragbarkeit und der Tatsache, daß es sich eine Zeit lang wie ein Schläfer verhält. Es zerstört seinen Wirten erst, wenn es bereits weitergesprungen ist. Das Virus ist airborne und haftet sich an mikroskopischen Dunst, Wasserdunst wie Nebel, Dampf und Kohlenmonoxyd-Abgase, wo es bis zu drei Stunden zu überdauern vermag. Die Gesichtsmaske ist angesichts dieser Eigenschaften nur lächerlich. Es dringt ebenso über die Augen und die Ohren in den Körper ein. Warum tragen die Sanitäter und das medizinische Personal Weltraumschutzanzüge? Wohl aus gutem Grund.
Doch was an dem Virus komplett unbeantwortet bleibt, ist seine Finalität. Warum geht es dermaßen selektiv vor (wenn ich dieses Zeitwort notgedrungenerweise einmal strapazieren darf)? 75% aller Corona-positiven Toten in Peru sind Männer. 90% aller Toten sind Personen zwischen 60 und 70. Warum zerstört es die Lunge dermaßen aggressiv, sodaß selbst Pathologen vor dem erschrecken, was sie da am geöffneten Leichnam vorfinden? Warum lagert es sich praktisch in allen Organen ab, ja sogar in den Geschlechtsorganen und im Gehirn? Warum geht es in manchen Städten und Dörfern wie in Ischgl, Tirol, an der Hälfte der Bevölkerung unbemerkt vorüber? Die Menschen entwickeln Antikörper, ohne zu wissen, daß ihnen ein potentieller Todfeind bereits einen Besuch abgestattet hatte. Währenddessen breitet sich das Virus in ganz Europa über die Besucher der „Kitzlochbar“ (eine sexuelle Anzüglichkeit sondergleichen, bei der kein Tiroler Schifex etwas dabei findet) aus, sogar in Island und im fernen Skandinavien. Der Hauptverteiler in Peru hingegen war das Geld, im besonderen das Münzgeld, aber auch das papierene. Das Virus ging über die Hände, nicht über den Husten. Offenbar reicht auch lautes Sprechen und Singen. Wir bekommen diese Erscheinung, die nicht einmal ein Organismus ist, nicht in den Griff. Es entzieht sich unserem Zugriff. Und das ahnen bereits viele. Wir werden mit dieser Erscheinung leben müssen. Besser so. Es ist auf unserem Mist gewachsen, also werden wir es auch austragen müssen, wie ein Alien. Es wird ja sowieso nicht das einzige bleiben. Andere werden auf den Plan treten, so wie (siehe Mongolei) auch bestimmte Schläfer. Ein der Erde ergebener Engel küßt sie in den Ställen unwürdigster Massentierhaltung wach. Auch Ebola schläft nur. Ein leichter Schlaf. Die Viren übernehmen das Kommando, und der Mensch fährt unbekümmert fort, Schweinefleisch zu fressen. Doch wem die Viren unterstehen, das bleibt ein Ratespiel. Und wo wir in einem Jahr stehen, das wagt ja sowieso keiner zu fragen. Jetzt, wo am Polarkreis in Sibirien 29° gemessen werden und riesige Waldflächen in Brand stehen. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen.
Angst
Die vergangenen Tage waren schrecklich. Ein gespenstisch leerer Flughafen in Lima. Die Passagiere unseres Fluges stehen vor der Halle bereits Schlange. Wir werden durch einen Thermoscanner durchgeschleust, der uns auch gleich filmt. Für diese Prozedur dürfen wir die Vollvisierhelme abnehmen. Die Schalter selbst mit Glasvitrinen abgesichert, das Abfertigungspersonal im ähnlich martialischen Aufzug wie wir. Überall Alkoholgelflaschen zur Selbstbedienung. Der eine oder andere Passagier reist in Ganzkörperplastikhaut, die auch seinen Kopf einhüllt. Was ist das? Brigitta, die nach knapp sieben Monaten wieder zurückfliegt, zeigt sich entsetzt. Wir sind negativ getestet, Blutbefund. Kostet alles. Der Flug eine einzige Strapaz. Air Europa spart hinten und vorne. Das Ticket standardmäßig zu 990,- $ die einfache Strecke Lima – Madrid. Nur ein kleines Essen, eine Flasche Wasser. In Madrid sind wir jenseits jeden guten Maßes, wir torkeln hinaus. Für uns ist es zwei Uhr morgens. Wir landen im Augustsommer der Meseta, immer noch alles gespenstisch leer. Ich sehe einen Priester, der ebenfalls mit uns geflogen ist. Er wirkt traurig und einsam. KLM fliegt von Terminal Eins. Der Bus bringt uns hin. Ich fühle mich zurückversetzt ins Jahr 2004, so wie auf Charles de Gaulle, der auch seit 40 Jahren unverändert dasteht, ein einziges Labyrinth. In Schiphol, endlich, alles ziemlich wie sonst. Die Passagiere tragen die Papiermundtücher, das ist alles. Dann Wien Schwechat, alles wie immer. Unsere Cityhopper-Crew marschiert auf Seitengängen zur Gepäcksausgabe. Die Grenzschutzjungsoldaten grüßen freundlich. Niemand hält uns auf. Das Gepäck kommt nach weniger als einer Minute. Ich werde die nächsten sieben Stunden am Flughafen verbringen. Nicht am Boden. Irgendwie auf der Bank. In meinem pflanzenähnlichen Zustand des Geschehenlassens und der Ausweglosigkeit wird mich auch das nicht mehr behelligen. Ein Iraner mit markanter Schädelform nimmt neben mir Platz und beginnt sofort ein angeregtes Gespräch, sobald er sein Telefonat beendet hat. Er erzählt mir seine Lebensgeschichte. Mit 18 unter Khomeini emigiriert, weil seine Familie christlich und er dafür gefoltert worden war. „Mit Kabel…“, wie er es zusammenfaßt. Er floh nach Dänemark, wo seiner Familie Asyl gewährt wurde. Heute, mit 55, ist er pensioniert. „Alles wohlgeordnet, aber teuer“, kommentiert er. Ich unterlasse alles Fragen. Er befindet sich am Sprung nach Athen, zu Freunden. Trägt sich mit dem Gedanken, auf einer Insel in der Ägäis sein Leben zu beschließen. Er wird nicht im Hotel übernachten. 81,- Euro sind ihm zuviel. „Für eine Nacht!“ Die Nacht verläuft still und friedlich. Jugendliche am Essensautomaten des Spar, ohne Masken, alle in Sommerkleidung, während ich froh bin, mit Winterkleidung adjustiert zu sein. Letztendlich kann ich meine momentane Existenz ja noch gar nicht fassen, so tief sitzt mir der Schock von Madrid noch in den Knochen. Alles fremd. Dann im Railjet, welche Wohltat. Die ÖBB-Vorteilscard habe ich bereits bestellt, das Ticket ist ausgedruckt. Der Schaffner freundlich wie immer. Wir düsen durch St.Valentin durch, zum zweiten Mal erst in meinem Leben, wenn ich mich recht entsinne. Ich darf nach Linz und von dort wieder zurück. Kostet nicht mehr. Auf die ÖBB ist eben Verlaß. Als ich aus dem Regionalzug steige, ruft mir Sohn Abraham nach. Welch ein Zufall. Er auf dem Weg nach Steyr, Wohnung besichtigen. Freundliche Umarmung und Mafiosikuß samt Rückenklopfen, wie es in Lateinamerika Brauch ist. Ich spare fünf Euro und rolle mit meinen Koffern quer durch den Ort zur Wohnung. Österreich liegt immer noch im Schock.
Ich sehe, wie ein faschistisches System im Nu geboren wird und sich hochreckt. Alles aus Angst. Sogar meine Schwester, eine Volksschullehrerin, ist davon erfaßt. Die Ernüchterung meines Lebens. Als ich sie im Stiegenhaus umarmen und küssen will, weicht sie reaktiv einen Schritt zurück. „Komm mir nicht zu nahe, Bruder! Besser so.“ „Du machst Witze!“ „Nein, das meine ich ernst. Besser so.“ „Ja weißt du denn nicht, daß ich negativ getestet bin, unmittelbar vor dem Abflug.“ „Mag schon sein, doch du weißt nicht, wer noch aller mit dir im Flugzeug gesessen ist. Wir sehen uns jetzt eine Woche nicht, und wenn du Fieber bekommst, weißt du, was es ist.“ Ernüchternd, denn ich weiß sehr wohl, wer mit mir im Flugzeug saß. Allesamt Leidende mit Plastikmasken am Kopf, zehneinhalb Stunden lang. Dafür besucht mich nur wenige Minuten später die jüngste, eine ehemalige Klosterschwester. Sie steht unangemeldet vor der Tür. Die Wohnung habe ich bereits geputzt, Tee gibt es auch. Theresia Benedicta lebt in einer Gartenhütte, wie die Karthäuser. Anspruchslos ein Leben lang. Dafür hat sie einen Herzplatz. Im Alter kann sie zu mir nach Otorongo kommen, dann, wenn der Schmerz um den endgültigen Verlust des Vaters verklungen ist. Drüben, im Dschungel, wo Faschismus und Polizeiwillkür unbekannt sind, sorge ich dann für sie.
Ein faschistisches System der Vernaderung und absurd hämischer Bevormundung, alles geboren aus galoppierender Panik und seit Jahrzehnten hintangehaltener Todesangst, inmitten von Hiobsbotschaften. Eisschmelze in Grönland und am Nordpol. Die Hitzewelle an der Polarküste Sibiriens. Und jetzt die offenen Fracking-Bohrlöcher in den USA. Millionen. Millionen! Das Methangas, das ungehindert aussickert. Die rücksichtslos gierige Ausbeutung der Natur, die diese Konzerne weltweit skrupellos praktizieren, beschert uns die Katastrophe wie im Handumdrehen. Kalifornien hat sie bereits. Jetzt hilft nur ein Quantensprung und flehentliches Beten. Ein Vorhang fällt. Eine Todeskammer. Doch die Toten des heurigen Jahres sprechen. Jesus, komm herab!
Noch sind wir am Leben
Tatsächlich: Bayrisches Unkraut vergilbt nicht. Der Herr namens Benedikt fristet sein Erdendasein mit heimischem Bier und warmer Pelzkleidung. Wer will es ihm verargen? Er hat einen Erzbischof als Kammerdiener, der ihm jeden Wunsch von den Lippen abliest. Herr Gänswein kennt viele Geheimnisse. Oder sagen wir besser: Intimitäten. Und sein jenseits der Todeszone in 10.000 Metern schwebender „Chef“ wird kein zweites Mal im Badezimmer ausrutschen und plump dergestalt hinfallen, auf daß er sich den Schenkelhalsknochen breche. Ohnehin bereits kompliziert genug. Doch in diesem Alter wären solche Fehltritte tödlich. Das wissen alle beteiligten Akteure. Das Badezimmer ist der delikate Ort schlechthin, trotz behindertengerechter Einrichtung. Eine hilfreiche Hand ist vonnöten. Im idealen Fall die Assistenz einer resoluten Doppelschwester in hochgeschürzter, ärmelhochgekrempelter Arbeitskleidung. Das hat nicht jeder. Erst recht nicht die Zivilkleidung, maßgeschneidert und von edler Qualität. Sogar eine Hermelinmütze für den Winter.
Mein Onkel, der diesen Mann zu seiner Regensburger Zeit kannte (damit sei gesagt, dessen Denken kannte und auch teilte), lebt zu meiner und seiner eigenen Freude noch, hat somit den Tod seines besten Freundes bereits um knapp sechs Monate überlebt. Der gute Onkel wohnt nun bei den Kreuzschwestern in Linz. Das Pflegepersonal kümmert sich rührend um den Professor, der nicht mehr weiß, wie er heißt, doch er liest Marie von Ebner-Eschenbach, „Meine Kindheit“. Seine Manieren sind maklellos wie immer, trotz der saloppen Kleidung, die ihm gut steht, so wie er, in den Rollstuhl hineingelümmelt, in der andächtigen Lektüre versinkt. Er murmelt den Text und streicht liebevoll über den Einband. Ich werde per „Sie“ angesprochen. Leben blüht und sprüht auf. Endlich ein Mitbruder, auch wenn ein namenloser. Gedankenfetzen aus dem Grau des Nebels kommen dahergeflogen und schaufeln mich hoch. Im Nu muß ich mit den Tränen kämpfen. Diese Freundlichkeit, diese Zuvorkommenheit! Bernardo war immer die Kultiviertheit in Person. Ich lausche ihm. Punktuell gleiten wir in Gebrabbel ab. Dann wieder fehlen die Worte, erst recht die Namen. Doch da flitzen Pfeile hervor, aus dem Nebel. „Welchem Orden gehören Sie an, Bruder?“ Mir verschlägt es die Sprache, sosehr, daß ich mich in der Adresse irre und nur Wucherer Huldenfeld vor mir sehe. Eine Notlüge, aus Verwirrung geboren. Gott möge es mir nachsehen. Wir tanzen und torkeln weiter. Da schon wieder ein Pfitzipfeil: „Was macht Ihnen im Glauben am meisten zuschaffen?“ „Die Begriffsstützigkeit und Mundfaulheit, wenn ich weiß, Gott ist mir gerade sehr nahe.“ Mein Onkel lächelt wissend. „Ging es dir manchmal auch so?“, will ich ihn gerade fragen, als die Antwort von selbst kommt, auch wenn gelallt. „Bald sehe ich ihn.“ Die Tränen lassen sich nur mehr mit Kraftanstrengung zurückhalten. Ich habe keine Windel eingepackt, also sage ich mir, weihen wir diese Gefühlswelle dem Heiligen Geist. Und siehe da, das Knorrige siegt. Wir schwadronieren weiter. Und schon wieder, gerade dem Ende zu, ein Generalanschlag. „Wenn ich zurückreise nach Wilhering, werde ich gemeinsam mit den Engelschören das Gotteslob anstimmen.“ Ich gaffe ihn entzückt und sprachlos an, als er mir, ohne locker zu lassen, den Gnadenstoß versetzt: „Wie war Ihre Kindheit?“ „Intensiv…“ Das ist keine Ausrede. Ich weiß, er versteht mich. Wieder läßt er seine gut erhaltene, blasse, überraschend kräftige, ohne Altersflecken versehene linke Hand über den Eschenbach-Einband gleiten. „Mein Vater… Das Kind spielt. Spielen…“ Die Schwester, eine flotte naturalisierte Rumänin kommt mit der Spätnachmittagstablette und einem Glas Wasser dahergestatzt. Onkel Bernhard schluckt alles wie ein Vorzugsschüler. „Kennen Sie Bochum?“ Und nach einem kognitiven geographischen Bogen: „Gibt es Amerika noch?“ Wie aus Übermut stößt er sich mit den Füßen vom Boden ab und rollt zurück. „Ich muß langsam aufs Klo. Verstehen Sie?“ Ja, ich verstehe. Er mokierte sich bereits in der ersten Minute unserer Begrüßung über die eingelegte Windel. Das also ist das Leben, das nichts vom Tode, dem fürchterlichen, weiß. Alle Angst ist verflogen. Nur Liebe und Freundlichkeit im Gesicht. Ich verabschiede mich mit Breschnjew-Küssen. „Sie sind nicht vom KGB“, tönt es mit seiner Stimme in meinem Kopf. Ich starre ihn an. Er sitzt bereits zwei Meter zwanzig von mir entfernt. Nein, er hat schon Abschied genommen. Ich hüpfe auf und verabschiede mich laut. Unten trage ich mich ins Register ein. Der Seifenspender, ein automatischer, funktioniert natürlich nicht. Draußen, gleich neben den Kreuzschwestern, eine sensationelle Bäckerei. Schwester Teresia Benedicta läßt sich vernehmen: „Bruli, Brot ist im Fasten erlaubt.“ Ich ergattere eine Jahrhundertteesemmel vom Feinsten. Eine handgeknetete Jahrhundertausgabe, plus zwei weiterer Beigaben. Das gab es vor 50 Jahren hier noch nicht, so wie auch nicht diesen modernen, weitläufig gezogenen Bau, der so viel Frieden ausströmt. Das Kruzifix im Eingangsfoyer spricht halt…Segen.
Luis und Milton
Die Regenzeit hat wieder eingesetzt, pünktlich wie immer. Am 1.Dezember gibt es Regen, das ist mit dem Wettergott (oder wie viele es derer auch geben mag) so ausgemacht. Zwischen dem Regen, dem Wind, der Sonne und der Erde, die mir bis heute nicht eröffnet hat, wie das Süßwasser zu ihr kam. Zeitweise schüttet es wie aus Schaffeln und es donnert und heult noch dazu. Am nächsten Morgen: hoher Pegelstand im Schildkrötenteich. Die Strömung des Baches nennenswert. Milton und Luis bereits am Brunnen. Auch sie halten auf Morgentoilette. Die Baucare schnattern bereits umtriebig. Regenzeit ist Paar- und Brutzeit. Ihre Kolonie an der Kastanie behängt den Baum mit Dutzenden Nestern. Dieses Webergeschick! Diese Freude! Judith hat den Kohleofen in der Küche bereits angeworfen. Ein Morgentee, und wir sind lebensfähig. Die Arbeiter essen mit ihr gemeinsam um Acht, Pango, gesalzener, gedünsteter Fisch mit Yuca, alles fein säuberlich lecker mit Aji-Saft beträufelt. Dazu der leckere Kaffee, den sie zuhause nicht immer genießen können. Danach geht es in den Wald, Blätter für die Blattdächer des Tempels sammeln. Die Machete ist bereits geschliffen, das ist tägliches Morgenritual. Zur Freude des Tages werden die beiden Männer mit ausreichendem Mapacho-Vorrat ausgestattet, gegen die Sancudos und auch als Schutz gegen einen zu übermütigen Chullachaqui, dem Onkel, der zuweilen Schabernack auf Lager hält, je nachdem wie er heute gelaunt ist. So stapfen sie von dannen. Furcht kennen sie nicht, auch nicht vor den Vipern. Sie tragen Stiefel und eine scharf geschliffene Machete. Freilich, auch das Busch- und niedrige Baumwerk will beachtet werden. Der hinterhältige Loro Machacco liegt auf Bäumen. Klein, aber oho. Manrique kann ein Lied von ihm singen. Biß nah am Hals. Für einen Gringo tödlich. Doch Manrique wurde in seinem Trapperleben drei Mal gebissen, und jedesmal stand er wieder auf von seinem Bett, spätestens nach einem Monat. Abgemagert zwar, doch lebendig, und um ein Eitzerl stärker.
Milton und Luis werden mir immer bleiben, so hoffe ich. Die beiden Brüder, samt ihrer Schwester, die mir seit 2003 die Stange hält. Judith hat immer im Wald gearbeitet. Sie freut sich in der Natur. Sie freut sich über die Arbeit, und sie freut sich, wenn sie Mapacho für die Gäste kochen darf, denn morgen gibt es den flüssigen Tabak zur vorgeschriebenen Reinigung. Teufelsaustreibung. Dann wird sie gefordert sein mit dem Abträufeln der glühenden Häupter und dem Abschleppen der lebenden Leichen auf das provisorisch errichtete Matratzenlager auf der Veranda, zusammen mit Eugenia, aus deren Händen das Teufelszeug kommt. Ein inbrünstiges Gebet aus Baptistenmund, und schon ist es geschehen um die Mitglieder des österreichischen Jagdkommandos und der französischen Fremdenlegion. Der Chef macht heute auch mit, zum Glück hat er seine Sünden bereits großteils abgebüßt. Der Herr der Dunkelheit gewährt ihm wie immer abgestochene 120 Minuten Hochkonzentration, keine Harakirischmerzen mehr. Kein Messer, das ihm in den Magen gerammt wird, und auch kein elektrischer Stuhl. Kein Hinrichtungskommando, das hämisch grinst, während man selbst am Boden liegt und vor Schmerz brüllt und speibt. Die Brüder Sinarahua geht das Ganze natürlich nichts an, sie widmen sich derweilen ihrem Pango, denn es ist ja acht Uhr. Glucksendes Lachen läßt sich aus dem Bordrestaurant vernehmen, derweilen Brigitta weint (für ein paar Minuten) und Rosina ja schon überhaupt nur mehr einen nassen Mehlsack abgibt (für Stunden). Heidi derweilen schaukelt in ihrer Hängematte („Herr H., ich werde Ihnen nicht die Freude bescheren, daß Sie mich krepieren sehen wie diese armen Leute. Ich bin die Superhexe, nur damit Sie’s wissen. Hab ich Ihnen ja schon zu Anfang gesagt. Was ich sag‘, meine ich ehrlich.“). Netter Kontrast. Ich spüre, sie ist mir noch böse, weil ich ihr gehorsam Don Agustins Order überbrachte, mit Wächtern fängt man während Ayahuasca bitte nichts an. So ist es halt. Das Fremde lockt. Sind die Peruaner denn nicht allesamt Tiere und stimmt es denn nicht, blonde Frauen wären für sie das reinste Gift? Wahrlich, diese Leute hier sind Spaßverderber. Und was stören mich die etwaigen Todkranken am Gelände? Gedanken schwirren durch die Luft, Sehnsüchte. „Sehnsucht der Frauen“, denke ich immerzu. Filmtitel einer genialen Komödie Ingmar Bergmans in Schwarz-Weiß. Doch alles löst sich auf, früher oder später. Irgendwann ziehen sie wieder ab, diese sierigen Besucherinnen, nach Hause, zu ihrer geliebten heißen Dusche und original Nescafé samt Klo mit Fließwasserspülung. Zurück bleiben die Haudegen des Waldes, die nur zwei Arbeitsgewänder ihr eigen nennen, ein paar Stiefel, ein Paar Sandalen, ein Paar Sportschuhe, und wenn sie Glück haben, eine Ehefrau, mit der sie nicht verheiratet sind.
Die beiden Brüder sind mit dem Urwald verwoben. Sie arbeiten schon immer in ihm. Eigenartigerweise hatte noch keiner der beiden jemals ernsthafte Zwischenfälle zu vermelden. Keine Begegnung mit dem „Gescheckten“ (wäre auch nur in der Nacht; vorwiegend), auch keine Tarantel im Busch, die Giftpfeile abschösse, und keine Begegnung mit dem entengleich quakenden Buschmeister, der in der Regel das letzte Wort beansprucht. Noch nie hat ein Waldläufer eine verhängnisvolle Begegnung mit dem Buschmeister, sprich: dessen Biß, überlebt. Doch Buschmeisterjäger kannte unser Dorf: Manuel Ahú, der zerfledderte, mapachogegerbte Brasilianer, und Carlos Lomas, der vierschrötige Jaguar- und Vipernjäger, zu seiner besten Zeit, damals, als er wie ein Untoter noch in unserem Dorf wohnte. Sporadisch wohnte. An Milton und Luis nun ist manches anders. Sie trinken nicht und nehmen auch nicht an Festen teil. Milton sowieso nicht, denn er ist – zumindest hat es so den Anschein – auf immer von den Frauen gebrannt. Welche Frau hat ihm damals wohl den Mut des Verehrertums gestohlen? Milton, der Brave. Der immer freundlich Lächelnde. Und Luis sowieso, er, der sich einer älteren Dame angenommen hat, die es ihm durch Anhänglichkeit und Treue dankt, eine Verschwiegene, die offen bekennt, mit dem Kochen kenne sie sich nicht sosehr aus. Den beiden Brüdern ist das Gesicht Otorongos zu verdanken, auch jenes des Hühnervolkes, das sich zu Fütterungszeiten von liebevoll gestreutem Mais aus Arbeiterhand ernährt. Milton zelebriert das Maisstreuen mit System. Sein gurrendes, den Zuhörer verdutzendes „Putt, putt, putt, putt“, und schon kommt das Volk von weit her dahergestrampelt. Zuerst die Körner, dann erst die Streu für die Kücken. Und läßt sich der Hühnerhabicht hoch droben in den Höhen blicken, schon wird die Schrotflinte aus dem Wächtehaus geholt und der Jagdinstinkt bricht in beiden Männern brennend durch. Piff, paff, puff. Der Habicht wird mit der Machete zerschlagen und den Schildkröten zum Fraß vorgeworfen, nachts, versteht sich, denn wer will schon die frechen Geier, die selbst den kleinsten Bissen an Hühnergedärm in luftigen Höhen riechen (eines der unbedankten Naturwunder) vorsätzlich füttern? Geier kennen keine Scheu. Riechen Sie Fleisch oder Aas, kommen sie von hinter dem Horizont dahergesegelt und setzen sich provokant direkt vor deiner Nase auf einen Pfahl. Die perfekten Wächter. In Iquitos treiben sie sich massenhaft herum. Dort hüpfen sie behende zwischen den Motokars herum, denn sie wissen, es gibt Fisch- und Hühnergedärme in Hülle und Fülle. Kein Mensch kommt auf die Idee, einen Geier zu schießen und diesen sich ausgestopft in der Wohnung aufzustellen. Doch was noch seltsamer anmutet: Niemand hat je einen Geier brüten gesehen. Wie machen sie das? Die Antwort ist einfach: Geier sind Bodenbrüter. Sie machen sich nicht die Mühe, Nester zu bauen. Geier sind niemandes Feinde, trotz aller Häßlichkeit hegt kein Mensch feindselige Gedanken gegen diese Zeitgenossen. Und die Geier ihrerseits sind verläßlich. Sie halten Wort. Kein Geier käme auf die Idee, ein frisch geschlüpftes, in den ersten Minuten seines Lebens putzig dahertorkelndes und bald flugs daherwuselndes Jungkücken zu schnabulieren. Geier nimmt man zur Kenntnis, auch etwaige abenteuerlich gestimmte Kondore, die auf ihren Ausflügen alle 10 Jahre ein Mal hunderte Kilometer dahergeflogen kommen, um in Otorongo zu begutachten, ob hier alles noch steht. Und dann starten sie vom Boden aus, denn eine Klippe, um sich von dieser fortzustoßen, gibt es hier nicht und wird es auch nie geben. Harpyien gibt es im Dschungel auch, man sagt, auf 100 mal 100 Kilometer ein Paar. Der weltgrößte Adler gewährte uns ein einziges Mal seine Aufwartung, um halb Zehn, als Freund Lukas, der Überflieger schlechthin, die Szene betrat. „Lukas, bitte still! Da drüben sitzt er, neben dem Hühnerhaus, und beäugt dich. Sieh doch, von Manrique und Guillermo läßt er sich nicht nicht stören. Die dürfen weiterflechten an den Blattstreben. Doch wir, die Gringo-Gaffer, müssen uns artig benehmen, denn wegen uns ist er gekommen. Genau genommen wegen dir. Irgend etwas will dir dieser mächtige Vogel sagen. Das mußt du selbst herausfinden.“ Lukas betrachtet mit eifrigem Lippenspiel den majestätischen Adler. „Kommt sowas öfter vor?“ „Nein, mit Sicherheit nicht, Lukas. Manrique und Guillermo sehen den Adler zum ersten Mal. Darauf kannst du Gift nehmen. Sie kennen nicht einmal seinen Namen. Der ist auch nicht wichtig. Wichtig ist das Wesen. Die Männer wissen, im Dschungel kommst du, wenn es der liebe Gott so will, aus dem Staunen nicht heraus. So wie du, wenn dir am helllichten Tag eine 15-Meter-Anaconda um Zehn in der Früh über den Weg läuft, während du mit Musik aus den Ohrstöpseln frischfröhlich dahergehoppelt kommst.“ „Nicht wahr!“ „Doch, Lukas! Frag Betzabe!“
Luis und Milton ihrerseits freuen sich schon auf den nächsten Holzbau. Freund Hans vom Ammersee hat einen Privatbungalow in Auftrag gegeben. Das gibt Arbeit für zwei Monate, zu fünft. Da wird keine Langeweile aufkommen. Da gibt es viel zu bereden und abends zu berauchen. Und davor oder danach reparieren wir die Brückleins am Zwergenweg, und danach bekommt Judith hundert neue Säcke Holzkohle. Dann wird geköhlert, daß es eine Freude ist, und Brigitta bekommt vom Herrn des Waldes, Yushin, wieder nächtliche Aufwartung. Das nächste Mal, so mein Tipp, wird es der Radetzkymarsch oder gar der Donauwalzer sein, aus einem unsichtbaren Radio am Balkon. Und Luis bringt frühmorgens Blumensträuße (oder das, was er für Blumen hält), die er mit einem Busserl auf die Wange galant überreicht. Was will ich mehr?