Die Wenigen

Fürwahr: In Ruhe betrachtet, sollte man sich selbst, aber erst recht der Medizin gegenüber Rechenschaft ablegen, was die eigene Diät wert war. Denn die Gefahr, einer im Wahn aufgeblasenen Selbstlüge aufzusitzen, ist nicht gering. Es gibt nicht nur eine Frau, die einem Herrn direkt ins Gesicht sagt, sie brauche keinen Diätbegleiter, sie brauche schlichtweg überhaupt keinen Ratgeber, denn sie wüßte sowieso bereits alles. Von Meister wollen wir da noch gar nicht sprechen. Manche Personen unterhalten bereits eine Liste von Meistern, bei denen sie in die Lehre gingen. Wozu dann also darüber hinaus eine Diät – bei wem auch immer -, die einen doch nur von den prickelnden Annehmlichkeiten sozialer Koketterie und Selbstdarstellung entzieht?

Erfolgreiches Diätieren unter sogenannten Westlern beschränkt sich auf wenige Personen. Ich rechne jetzt nicht jene Besucher hinzu, die sich mal in einer Woche versuchen. Ich möchte auf jene Unerschrockenen Bezug nehmen, die, als zusammengefaßte Zeitstrecke, ein halbes Jahr oder länger in Diät verbracht haben. Belegterweise in Diät verbracht haben. Mit Ausnahme einer willensstarken Dame bemerkenswerten Charakters aus Österreich, die in ihrer Heimat zwei Jahre lang am Stück diätierte (zwei Jahre am Stück!), verbrachten alle anderen Damen und Herren ihre Diäten in Peru. Ein anderer Herr, einer meiner besten Freunde, hat neben den zweieinhalb Jahren in Peru etwa ein halbes Jahr in Wien abgelegt. Alle andern Damen waren Shipibo-Indio-Frauen. Eine Dame aus Moskau diätierte mit ihrem Gatten ein ganzes Jahr lang, ein Kalenderjahr, bei den Conibo. Neben diesen Ausnahmefiguren fällt jeder Vergleich mit kürzer Diätierenden drastisch ab. Ich spreche hier, wohlgemerkt, von überprüften Fällen, mir bekannten Personen. Menschen aus dem Westen sind ungeschaut an einer Hand abzuzählen. Aus pragmatischen Gründen sollte ich also diese Heroen außen vor lassen. Kümmern wir uns um jene Personen, die zwischen vier und sechs Wochen diätieren. Freund K.K. aus Innsbruck hat etwa zehn Diäten zu einem Monat abgelegt. Ich habe schon lange nichts mehr von ihm gehört und befürchte seit dem Tod seiner Eltern das Schlimmste. Ein Mann, der in der Diät zu trauern und zu weinen lernte. Schlimm genug. Ein Mann, der nie eine Frau hatte, oder nie für längere Zeit. Dieser Umstand zeichnet all diese Freunde aus und ist nur allzu bezeichnend für das Dilemma des Diätwilligen: die Aufgabe der Familie, so sie überhaupt existiert. In der Mehrzahl der Fälle existiert sie nicht. Das gilt auch für die Indios. Auch die Indios, Männer wie Frauen, ziehen in ihr erstes Diätjahr (und das ist sogleich eines am Stück, ein verpflichtendes. Das eigentlich einschneidende. Ein Diätbeginn mit Paukenschlag, sozusagen) als Singles. Die Indios sind zwar mehrheitlich jung, jünger als 20, doch auch nicht immer, wenn sie sich an diese Mammutaufgabe wagen. Doch es gibt auch die älteren, jene, die immer noch ohne Partner leben, weshalb auch immer. Der Ruf ergeht an sie, sie spüren es in vorhergehenden Ayahuasca-Zeremonien. Der Gedanke läßt sie nicht mehr los. Sie spüren diese Sehnsucht, so als wüßten sie, eine wohltuende Macht ist dabei, sie anzuziehen. Ein Geschehnis, mit dem sie absolut nicht gerechnet haben. Sie, die vormals armen, bescheiden lebenden Bauern. Sie, die Vergessenen. Doch da kommt ein Weiblein, Doña Olivia, lacht sie an und fragt, ob sie es nicht einmal versuchen wollten. Sie,  Doña Olivia, sähe da etwas in ihnen. Eine Disposition, eine Stärke. Und so geht der/die Gerufene in unbekannte Gestade. Wagt sich vor. Taucht ein. Schwimmt hinaus. Wird hinausgezogen. Geht nicht unter, obwohl er /sie gerade dies am meisten fürchtet: Unterzugehen.

Es gibt noch Andere, ganz Seltene: Don Santiago, beispielsweise. Er verbrachte nachweislich 18 Jahre in Diät. Kein Salz, kein Zucker, kein Sex. Neunfacher Familienvater, und dennoch 18 Jahre in Diät, abgeschieden. Ein Peruaner, heute 90. Sein Motiv anfänglich: Er wollte schwarze Magie lernen, aus der Hand eines Indio-Hexers, eines Bancos. Der Brujo war, wie sich herausstellte, sein Arbeitskollege. Umherziehende Fischer, die sie waren. Eines Tages enthüllt ihm der brujo die wahre Identität und liefert direkt vor Santiagos staunenden Augen den Beweis seiner Fähigkeit: Er verschwindet im Wasser. Ein Wasserzauberer. Santiagos eigentliches Motiv aber war Frauenverführung, und das lernte er ausführlich, doch dann wies ihn seine Frau, mit der er mittlerweile bereits verheiratet war, drastisch mit einem schneidenden Wort zurecht, er gehorchte ihr ohne Widerwillen und trat bei den Baptisten ein. Doch die neugewonnene Gläubigkeit tat nichts zur Beilegung von Santiagos generellem Lebensverdruß. Die Menschen verdrossen ihn immerzu und bei jeder Gelegenheit. Santiago, schaut man genauer hin, zeigt bis heute autistische Züge. Er hat nie gelernt, Menschen zu verstehen. Es interessiert ihn auch gar nicht. Er ist der Eigenbrötler schlechthin, die Spinne im Eck. Santiago ist ungenießbar, auch wenn er den ganzen Tag über schweigt. Er lebt in permanentem irrationalem Groll. Der Lebensverdrossene schlechthin. Diese Verdrossenheit ließ ihn die 18 Diätjahre auf sich nehmen. Er hatte seine Frau zur Genüge gekostet, jetzt spuckte er symbolisch auf sie, indem er sich ihr entzog. Ihr und den Kindern. Das war ein nennenswerter, grober Makel, der ihn aber nicht größer scherte. Damit jedoch schadete er allen Kindern nachhaltig. Bei jedem Familienvater, der sich diätbedingt seinen kleinen Kindern entzieht, ist es so. Ich kenne hier einen schlagenden Fall aus nächster Nähe, einen Mann, der trotz seines hohen Alters bei vielen europäischen Frauen Guru-Status genießt. Santiago jedenfalls ist der Vorreiter in Sachen Diät. Diäten, die aus Groll und Ärger geboren wurden, nicht aus Haß. Ein Lehrbeispiel. Santiago hat ausreichenden physischen Geistkontakt. Er wurde von den Yacurunas, den Ärzten des Amazonas, zum Curandero geschlagen, doch das Heilwesen interessierte ihn deswegen immer noch nicht. Was ihn interessiert, ist, heimlich auf Gott zu schimpfen und mit ihm zu streiten. Santiago ist ein Mann, der jeden Tag mit Gott und dem von ihm gesandten Tod streitet. Er zettert. Er wird laut. Er grummelt. Sein Vorwurf an Gott: „Was hast du dir da einfallen lassen? Das Alter ist doch Scheiße! Findest du nicht auch?“ In dieser Jakobsattitüde ähnelt er dem Herrn des Waldes. Dem gefallen Kreuzzeichen auch nicht.

Wie bereits angesprochen, ist es fruchtbar und aussagekräftig, die wesensmäßige Veränderung von Diäten bei den betreffenden Menschen selbst zu hinterfragen oder stumm zu beobachten. Freund K., vorgeblich ein harter Tiroler Knochen, weint leicht und weiß, das Leben ist ein Hauch. Frau hat er immer noch keine. Freund B. aus Bern war schon immer die Höflichkeit in Person. Diesen Mann würde ich als Inbegriff beschenkter Weisheit verstehen. Freund W. aus Kazakhstan, die Verkörperung ungeteilter Lebensbejahung und Lebenskraft, wurde zu einem dorfbewegenden Unternehmer. Und Antonio taucht ein in die anspruchsvolle Metaphysik. Ich könnte auch sagen, in die Mystik. Vielleicht tritt er irgendwann noch in ein Kloster ein. Die wenigen Frauen, die ich aus der Nähe kenne, begannen – so bildete ich es mir zumindest ein – mit einer Neudefinition ihres Selbstverständnisses von Weiblichkeit. Es gibt auch Diätantinnen, die sich später umbringen oder zumindest einen entsprechenden Versuch unternehmen. Immer spielt krankhafte Eifersucht eine Rolle.

Die wahren Männer und Frauen der Diät jedoch, jene, die sich unter dem Segen der Medizin zu Meistern entwickeln, sprechen nicht über ihre Diät. Gewöhnlich leben sie gar nicht größer zurückgezogen. Sie leben zuhause. Sie arbeiten. Der Tagesablauf ist nur anders. Sie stehen um 4 Uhr auf, legen sich auf den Boden und beten wie Johannes Paul II. dergestalt zu Gott. Sie trinken keinen Alkohol und sehen kein Fernsehen. Sie diskutieren nicht und halten sich zurück, wenn es im Haus irgendwo unangekündigt brennt. Sie zeigen eine Hand für Tiere, die ihnen vermehrt zulaufen. Sie beten laut vor dem Essen. Sie halten jeden Tag abends Innenschau, dann, wenn sie bereits im Bett liegen. Sie beten für die Familie. Sie betreiben Gewissenserforschung. Sie leben im selbstgewählten Zölibat. Andere, Ambitioniertere, schreiben. Und wie sie schreiben, merken sie, Gott hat sie nicht verlassen. „Was wüte ich?“, fragen sie sich. „Wüte ich, werde ich Gott nicht hören. Wie soll ich den Wind, ρμάγθ, verstehen, wenn ich ihn ständig angeifere?“ In jenem Moment fällt alles ab. Gnade der Medizin.

 

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  1. Erkrankung

    Diäten erhalten ein anderes Gesicht, wenn eine Krankheit vorliegt. Krankheiten, besonders, wenn sie schmerzhaft sind, zeitigen eine Form von Dringlichkeitscharakter, die den Leidenden/die Leidende ernst stimmt. Der angesonnene Heilungsprozeß, so er auf einer Diät basiert, verändert das Selbstverständnis massiv. Notwendigerweise. Genau dieses sich nächtens mit Gewalt breit machende (ich möchte es sogar als ein „instinktiv sich breit machendes“ bezeichnen), veränderte Selbstverständnis läßt einen im ersten Anhub schaudern, doch es charakterisiert in perfekter Weise das Eintauchen in die programmatische Krise in einer Diät. Die Krise wendet sich gegen eine falsche Selbstauffassung. Die Krise ist demgemäß ein lebensnotwendiges Korrektiv, dem man nicht entfliehen wird können. Die Krise ist es, die entscheidet, ob die Person siegt oder flüchtet. Wer kapituliert, flüchtet noch nicht. Wer jedoch zu Marlboro, Benson & Hedges oder Jhonny Walker greift, der ist aus der Diät geflüchtet. Die Krise einer Diät ist Schmerz. Die Krise einer Krankheit ist Schmerz. Der Schmerz ist ein Naturgesetz. Er ist wie ein im Straßengraben oder im Schlamm festsitzender Lastkraftwagen. Der Autofahrer wird die Gesetze der Kinetik und der Schwerkraft niemals außer Kraft setzen können. Wenn er meint, er könne es, endet es tödlich, so wie bei Ayrton Senna, dem in seiner Heimat vergötterten, unsterblich gewähnten Brasilianer. Ein Wagen, der festsitzt, muß mit Bedacht wieder fahrtüchtig gemacht werden. Das erfordert Kraftanstrengung, Sachverstand und Augenmaß, und, um es nicht zu vergessen, guten Willen, vielleicht sogar von Mehreren. Engeln der Landstraße. Der Schmerz ist eine natürliche Begleiterscheinung und noch mehr: Er ist das entscheidende Korrektiv, der Katalysator. Ohne Schmerz würde wir ewig so weitersumpern in unserem Morast und Sumpf. Solange, bis wir verstinken und allgemein ungenießbar geworden sind. Was will Gott mit einem durch und durch verdreckten, stinkenden Schwein, das noch dazu jede Selbstachtung verloren, ja, und nicht einmal verloren, sondern mutwillig selbst abgestreift hat? Solcherart zu einem Schwein verkommen, kann man uns nur in einen Wildbach werfen und untertauchen, am besten gleich in einem Käfig, so wie die mittelalterlichen, fatalistischen Wasserprüfungen, denen man jene Bäcker unterzog, die falsches Mehl oder falsche Gewichte verwendeten. Wenn wir Pech haben, saufen wir ab. Wer will das schon? Ich ziehe den Schmerz dem Absaufen vor. Irgendwann stoppen wir den Schwachsinn und beginnen uns in der Dunkelheit der Nacht abzutasten. Was, zum Teufel, habe ich da, da hinten, am Schulterblatt? Was da in den Eingeweiden? Gott im Himmel, überkommt mich jetzt zu allem Überfluß sogar eine Gallenkolik? Scheiße, sowas hatte ich noch nie! Womit habe ich das verdient? Das kommt mir nicht in die Tüte!

    Jene, die so reagieren, sind die angezeigten Kämpfer. Wir erleiden einen Betriebsunfall. Gut. Jeder erleidet mal einen Betriebsunfall. Jetzt müssen wir es ausbaden. Unter Schmerz. Also gut. Was ist zu tun? Der gesunde Menschenverstand sagt uns: Freundchen, ändere deinen Lebensstil. Scheiße, sagen wir, ich hab’s ja geahnt. Scheiße, kann ich da nur sagen. Aber, na gut. Was Anderes wird mir wohl nicht übrig bleiben. Also, Herrschaften, fragen wir in der Stille der Nacht in unserem Bett zum Plafond hinauf, was ist zu tun? Unser Schutzengel, gar nicht müde, fängt sofort zu klickern an, und wir notieren wie ein Gerichtsschreiber alles in Stenoschrift sofort mit: Alle Gewohnheiten modifizieren. Arbeiten. Nicht Zeit vertrödeln. Keinen Blödsinn treiben. Brav sein und keine Gewalt ausüben. Ist ja nicht viel, oder? Hmhm, hmhm, hmhm, sagen wir da. Ist ja wirklich gar nicht so viel. Für das, was ich mir da eingehandelt habe und wie sehr es mich schmerzt, diese Scheiße (ich will bei Gott bitte nicht sagen, daß es ein Zwickerchen sein könnte. Bitte nur das nicht!), wenn es sein muß, also gut, fangen wir an. Okay, wir fangen an. Unser Schutzengel ist diesmal allerdings ein bißchen penibel und zwingt uns mit sanfter Hand aufs Bett zurück. Meine Liebe, ich bin noch nicht fertig. Da sind ein paar Dinge, die ich dir klar und deutlich erklären muß: Erstens, das geheime Herumbummsen als befreite Frau. Du lügst dich selbst an, wenn du meinst, das stünde dir gut an, zumal du es zuhause mit einem Langeweiler seit 30 Jahren aushältst. Und außerdem, du stopfst in dich wahllos hinein, weil du nicht genug kriegen kannst. Und du siehst dir auf deinem Divan jeden Abend Schwachsinn an. Es wird nicht anders gehen als daß du jeden Mittwoch nur Wasser trinkst und absolut nichts ißt. Bitte reagiere nicht theatralisch! Du bist nicht platt! Mich brauchst du nicht anlügen. Wenn du dir nicht drastische Medizin überlegst, wird der Schmerz noch drastischer. Muß ich noch mehr sagen? Wann endlich begreifst du? Es ist später als du denkst.

    Das ist direkt aus der Diät gegriffen. Glücklicherweise verfügen wir über einen Rest von Vernunft, und so antworten wir: In Ordnung, das habe ich verstanden. Also, da wir gerade bei drastischen Maßnahmen sind: Ich würde darum bitten, daß man mich in ein Geschirr legt, in einen Zwinger. In Ketten Legen, dagegen hätte ich nichts. Wißt ihr, Leute, was ich eigentlich bräuchte, verehrte Mächte des Himmels samt unsichtbarer Abgesandter: Auch wenn es euch vielleicht nur müde lächeln läßt, aber ich hätte bitte gerne permanenten Zuspruch. Permanenten Zuspruch. Soll ich es euch buchstaberen? Ich fühle mich nämlich, nur damit ihr es wißt, beschissen allein. Im Stich gelassen. Sogar der H., dieser Scheißkerl, der es mit Huren aus Facebook treibt, ich weiß es genau, läßt mich sadistisch allein. Da ist mein Übel. Unverstanden. Nicht wahr genommen. Was Wunder, daß mein Körper krepiert, ächzt und stöhnt? Könnte da bitte endlich jemand auf mich Rücksicht nehmen? Zuverlässig Rücksicht nehmen!

    In diesem Moment, kurz bevor sich unserer Kehle ein Schrei entringt, kommt es zu einer Neuformatierung unserer Festplatte. In diesem Moment läßt der Quälgeist von uns ab. In diesem Moment dämmert etwas Neues in uns. Diese Sache ist beschissen, aber gewaltig. Gewaltiger, als wir es uns jemals vorstellen werden können. Wie soll das gehen, fragen wir uns, wie soll das gehen: der Fülle des Universums, also der gesamten Schöpfung, in unserem Tod gewahr werden? Wie soll das gehen? Wie soll ich die Unendlichkeit begreifen, wenn ich tot bin? Das geht doch gar nicht, sagen wir. Wie soll das gehen? Als Tote. Wie soll ich diese gelblich-graue, wabbernde Nebelwand durchqueren, die sich da vor mir wie die Südwand des K2 himmelhoch aufbaut, wenn ich bereits in Agonie liege? Woher soll ich die Kraft nehmen, da durchzugehen, wo ich doch in den letzten Zügen liege? Wie, bitte. Lauter Blödel, die mir da einflüstern. Alle sind Teufel. Jetzt weiß ich es. Alle Menschen sind Teufel, und ich habe nie die Kraft gefunden, mir das rechtzeitig einzugestehen. Und jetzt liege ich im Sterben, und meine Tochter hat sogar gegen meinen Willen den Quacksalber in Schwarz gerufen. Was für ein Schwachsinn! Der Tod ist die größte Lachnummer, die ich mir im Leben noch gefallen lassen muß, doch dann ist es hoffentlich endgültig vorbei. Dann können mich alle mal! Na gut. Es war Scheiße. Mir ist nichts im Leben gelungen. Na gut, ich bin nicht der Einzige, der so denkt. Alles nur Schwachsinn! Bin ich Gott? Bin ich perfekt? Bin ich Christus? Na bitte! Babys sterben. Föten werden abgetrieben. Mütter sterben bei der Geburt ihres ersten Kindes. Wo ist da Perfektion? Also bitte. Ich mache einen Abgang. Ich habe keinen Rechtfertigungs- und schon gar keinen Erklärungszwang. Und derjenige, der mir das eingebrockt hat, hat, wenn er will, Erklärungsbedarf. Also schauen wir mal, was kommt. So sprach, zum Beispiel, unser unvergessener Paul Lindenbauer, und ebenso der hochverehrte Dr.Felix Koschitz. Was für wertvolle Kollegen. Ich will diese Leute wieder sehen, so wie alle anderen auch. Drüben.

    Also gut. Ganz schön massig, was sich da so abspielt. Ich brauche wirklich bald einen Gerichtsschreiber.  Der H. soll mir aus dem Tresor das Handy bringen für meine Tonaufnahmen, und massig Schreibmaterial noch dazu. Die werden mich noch kennenlernen! Ich war vielleicht die längste Zeit ein Depp, doch jetzt ist damit Schluß. Ich werde noch die Kurve kratzen. Ich zeig’s euch!

     

     

  2. Danke für den ausführlichen Bericht, des “ Diätieren “ der mich zum Denken anregt über mein weiteres Leben im Dschungel. Der mehrmalige Ruf hat ja bereits Spuren hinterlassen. Schon der erste Besuch im Dschungel veränderte mein Leben positiv, und mein Selbstverständnis bekam einen neuen Charakter. Santiago kenne ich ja seit vielen Jahren persönlich und ich freue mich immer sehr, wenn er mich begrüßt und mich auch erkennt, jedoch dann wieder in die Stille versinkt. Mein Dschungelhaus erwartet mich und ich freue mich auf meine neunte Reise im Juni.

  3. Eintauchen

    Die gut vorbereitete Diätperson beschreitet ihren Weg zu den Pflanzen mit Wagemut und Entschiedenheit. Beides gehört ja zusammen. Wagemut und Entschiedenheit. Der Wagemut zeigt sich am hartnäckigen Nicht-Nachlassen, kaum sind die physischen Qualen (die ja nur Einbildungen und Zuckungen der Gewohnheit sind) erst mal, in einem ersten Anhub, überwunden. Sagen wir auch: überstanden. Wir tauchen unaufhaltsam ein in die verwirrenden, weil verworrenen Gespinste und Erinnerungen unserer Gefühle. Wir wissen, daß es Gefühle sind. In der Stille der Nacht können wir uns zu diesem ersten Geständnis durchringen. Das meiste an mir sind Gefühle und gefühlsverbrämte Gedanken. Es dauert eine kleine Weile, bis wir uns der damit verbundenen Schuldgefühle entledigen. Dies alles sind Streckenabschnitte, die man zweckdienlicherweise im Bett verbringt, jenem Ort, der maßgebliche Erkenntnisse zeitigt. Bleiben wir hartäckig am Ball, wendet sich über kurz oder lang das Blatt innerer Kritik und zu kurz gefaßten Selbstverständnisses. Wir erkennen in Momenten des nächtlichen Aufblitzens, daß es um die Frage persönlicher Schuld anders steht, als wir uns die längste Zeit über selbst vorgeworfen haben. Diese sensible Vergegenwärtigung ist ein erstes maßgebliches Zeichen in und an uns, daß in unserer Diät eine Instanz außerhalb unserer selbst am Wirken ist. Eine wohltätige Instanz. Der Geist der Medizin. Diese Autorität besänftigt zum einen, zum anderen flößt sie uns mithilfe ihrer übermenschlichen Geistigkeit Kraft zum Weitermachen ein. Ist einmal der Aspekt der Schuld und des damit verbundenen Selbstvorwurfes besänftigt, kehrt ohne größere Qual innerhalb von wenigen Stunden ein Vorsatz der Entschiedenheit ein. Entschiedenheit, die Castaneda hellsichtigerweise „Befehl an sich selbst“ nannte. Der Befehl, durchzuhalten, komme, was da wolle. Und was kommt? Natürlich Komplexität und weitere Qual. Die Qual zeigt sich an kleinen Details, wie etwa dem Umstand, daß man nicht immerzu Mapacho rauchen oder sich ständig ans eigene Geschlecht greifen kann. Irgendwann, so erkennt man, werden die eigenen Gewohnheiten, erst recht die heimlichen, schal, langweilig, nichtssagend und hilflos. Wir ärgern uns kurz, doch dann hieven wir uns hoch für ein bereits seit langem anstehendes Miniprojekt: Neugestaltung unserer austauschbaren, närrischen Identität. Wir bekommen eine Ahnung, was es heißt, als Krieger über sich selbst zu triumphieren. Es ist ein Minitriumph, ein Ansporn. Die Entschiedenheit muß nur eingebläut werden. Meine Kraft, meine Aufmerksamkeit, so sagen wir uns, darf nicht nachlassen. Sie soll nicht nachlassen. Was also tun? Klar: Ein geregeltes Leben aufbauen. Sobald ich mir nicht auf Schritt und Tritt selbst ins Knie schieße, bekomme ich den nötigen Freiraum zum Durchatmen. Wichtigeres steht an. Wir stoppen die Müllproduktion. Endlich! Dies ist ein Moment des bewußten millimeterweisen Arbeitens und Voranschreitens. Neugewonnene Hartnäckigkeit erweitert sich auf die Welt des Eingeständnisses und der damit verbundenen Trauer. Trauer wird zu Trauerarbeit. Wie tröstlich, sagen wir uns sehr bald, daß mich tatsächlich keiner sieht und ich vor Erschöpfung schlafen kann, wann immer ich will. Denn dieses Abarbeiten erschöpft gewaltig. Und das Trauern ist ja – haben wir’s denn nicht seit kleinauf gewußt? – sowieso Scheiße. Puh. Muß ich schon sagen. Wer hätte das gedacht? Ganz schön heftig. Doch wenn ich’s recht bedenke, ich hätte mir früher gar nicht zugemutet, daß ich dazu imstande bin. Irgendwie fühle ich mich verändert. Irgendwie leicht und beschwingt. Spannend. Wirklich spannend.

    Die Pflanzendiät ist etwas Gewaltiges und sprengt notwenigerweise alle Ahnung. Je länger wir in ihr verbringen, umso radikaler wird unser Denken. Radikalität hat ganz und gar nichts mit Gewalt zu tun. Sie hat mit Grabarbeiten zu tun. Sie befaßt sich mit dem Freilegen der eigenen Wurzeln, und nur unserer eigenen. Das Freilegen eines Ayahuasca-Wurzelstocks gehört zu den aufwendigen Arbeiten einer ernsthaft und konsequent an Pflanzen interessierten Person. Ayahuasca wühlt sich in die Erde hinein und verzweigt sich in ihr gekonnt und vielgestaltig. So ist auch unser Charakter. Verbogen, zerteilt, vergraben. Doch dann trinken wir Ayahuasca, eine kritische Dosis, und wir werden mit Macht aus dem lebenslangen Konzentrationslager, unserem höchstpersönlichen Hochsicherheitsgefängnis emporgetragen und dergestalt befreit. Niemand schießt uns von unten mit dem Maschinengewehr nach. Für eine kurze, doch heftige Weile sehen wir andere Welten, einen majestätischen Bedeutungszusammenhang. Wir befinden uns in der Gewalt der Medizin, und wir sagen „Ja!“

    So formulierte es einmal, im Jahr 2006, ein Herr der amerikanischen Drogenbehörde: „Ich habe viel erlebt. Scheußlich viel erlebt. Ich wollte all das loswerden. Deshalb bin ich hierher gekommen und habe gestern Nacht Ayahuasca getrunken. Ich wußte, bei Ihnen kann mir nichts passieren. Und dann ging es los, in Wellen. Ich hätte nie damit gerechnet. Nicht mit dem, was passierte. Heute weiß ich, Gott existiert. Heute weiß ich, warum mein Vater Missionar wurde. Eigentlich zum Weinen. Zum Glück bin ich  hier alleine bei Ihnen. Wer weiß, ob ich wiederkomme. Schlecht wäre es jedenfalls nicht. Ich muß ja deswegen noch kein Heiliger werden.“

     

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  4. Sich Hüten

    Eine diätierende Person wird ihr Leben lang bei Pflanzen bleiben. Es entwickelt sich eine Liebe zur Transzendenz des Geistes einer Diät. Eine Diät ist durchtränkt von zwei Instanzen: dem Pflanzengeist, dem man sich bebend zaghaft, skeptisch, neugierig und gefaßt annähert, und dem einen und wahren Geist, der alles durchwirkt. Diesem, ρυάκθ, sind weiterführende Begegnungen mit Wesen anheimgegeben, die sich einer Kategorisierung letztendlich entziehen, weil sie in ihrem Auftreten – Engeln gleich – die Diätperson in einem komplex dialektischen Verstehensakt beglücken und nachhaltig belehren. Kraft dieser Instanzen fühlt der Mensch sich im Feuer geschmiedet. Hephaistos, der Schmied der Götter, steckt uns kurzum, in herrischem Kraftakt, wie hilflos quakende Gummi-Frösche in die Esse. Es stinkt ein bißchen. Hernach schmiedet er uns, und er schmiedet uns ganz und gar nicht nach unserem Willen. Das Schmieden durch den Gott der Formung dauert ein Leben lang, und da es vordergründig gegen unseren Willen erfolgt, ist es auch eine gute Weile unserem Blick entzogen. Bisweilen sitzen wir hinsichtlich der eigenen Formannehmung einem chronischen Irrtum, oder, gelinder, einer hartnäckigen Fehleinschätzung auf, die sich jedoch im Verlauf der uns doch unliebsam schnellen Abfolge von Prüfungen und Versuchungen zwangsläufig korrigiert. Die Korrektur der, und sei es auch nur geahnten, Selbstwahrnehmung funktioniert wie ein übermächtiger Stellmechanismus, ein transpersonales Scharnier, das, und diese Erkenntnis raubt uns für einen Moment jeden Atem (jeden Atem), jedoch ganz und gar uns gilt. Wir sind gemeint. Wir! Und es gilt uns in einer Weise, die uns sofort unruhig herumwetzen, an den Nägeln herumbeißen, in Selbstgespräche verfallen oder zu sonstigen Tics greifen läßt. Der revidierte Stellmechanismus greift von höherer Gewalt wegen Platz. Wir alleine wären dazu nicht imstande, denn wir sind seit Urzeiten verbiestert. Der erfolgreich Diätierende hat ja zudem gar keinen Anspruch auf Heiligkeit. (Heilige kenne ich nur wenige. Um genau zu sein: ich kannte nur einen einzigen. Vielleicht gesellt sich zu Solon Tello auch noch die eine oder andere Frau, deren Huld ich erst dann erblicke, wenn sie gegangen sind. So ist es ja immer.) Die Diätperson wird sich überhaupt jedweden Anspruch auf nur irgend etwas abschminken. Daran erkennt man Meisterschaft. Meisterinnen und Meister sind die allerwenigsten. Ich würde in diesem Kreis im ersten Anhub einmal nur an zwei Shipibo-Medizinfrauen denken. Von den Männern, diesen selbsternannten Superwuzzis und Logenmitgliedern, lasse ich sogleich meine Finger. Zu heikel. Zu verlogen. Zu widersprüchlich.

    Der Mensch, der in den Urwald eintaucht, wird immer bei seinem Weg bleiben. Und er weiß es selbst. Ich werde immer auf diesem Weg bleiben. Mag es ein Weg der Zuflucht sein wie im Buddhismus, es ist ein Weg des Heils, der Heilung, der Einsicht, der Ehrlichkeit, der Liebe, des Vertrauens. Das alles erringen wir uns unter Entbehrung, und kaum sind wir aus der Diät heraus, werden wir mit Grantwerfern beschossen. Ein unnachgiebiger, vermeintlich brutal arbeitender Unhold, ein Ungustl, beschießt uns ohne jedes Bedauern, ohne uns dabei zu hassen, in voller Breitseite, und wir können uns weder verstecken noch das offenkundig brutale Beschossenwerden überhaupt verleugnen. Die pure Ungerechtigkeit, motzen wir. Wenn Granaten rechts und links und mitten in unserem Hirn und in unseren Eingeweiden explodieren, gibt es allerdings nichts zu leugnen. Doch der Mensch, dieser Hosenfurz, ist der Lüge schon immer aufgesessen. Wir sind verbiesterte Kretins, die sich wie Golom im „Herrn der Ringe“ der Wahrheit entwinden. Wir sind geisteskranke Affen, sagte Castaneda. Natürlich hatte er recht. Castaneda war ein Meister. Ein kleiner, aber immerhin. Die Lüge steht uns gut. Die Dummheit ebenso, doch noch mehr das Dumm-Stellen! Das Dummstellen ist uns auf den Leib geschrieben. Unsere Paraderolle, jawohl! Manche (jene, die einer oder mehreren dieser vielfältigen Versuchungen erliegen) legen sich ein Repertoire zu: den Größenwahn; die Gier als vermeintlicher Kraftbeweis; den Narzißmus; zügellosen Hedonismus. Manche Frauen unterhalten eine Fotosammlung von sich. Tausend Fotos, in allen erdenklichen Medien publiziert, so wie die tausend Paar Schuhe von Imelda Marcos, der inzwischen bereits verstorbenen Gattin des philippinischen Staatspräsidenten. Manche Gurus tragen Künstlergewand, das sie jeden Tag wechseln. Manche Gurus leben nach einer Erfolgsfaustregel: sie konsumieren Frauen zwischen 18 und 25 am laufenden Band, also täglich. Gringofrauen. Keine Einheimischen. Die Einheimischen hingegen sind zwischen 14 und 20. Diese Gestalten haben auf alles und jedes eine Antwort, nur nicht auf ihre eigene Verblendung. So etwas kennen sie ja gar nicht. Tangiert es auch nur ansatzweise ihre Verblendung, werden sie zu Speikobras, zu konspirativen Mördern, zu Terroristen. Sie treiben die ihnen Hörigen in den Selbstmord. Die Verblendung des Menschen ist wahrlich grenzenlos und schaudererregend. Gewinnt der Versucher, holt uns so schnell nichts und niemand mehr aus der Hölle. Aus der Spielhölle. Jene, die dem Teufel verfallen, gehen allesamt am Größenwahn zugrunde. Besser, sich rechtzeitig davor hüten. Diese Verblendeten übergeben sich dem Teufel. Sie, geborene Naseweise, sagen: „Den Teufel muß ich doch auch studieren. Ich, der Alleswissende, der Allmacht anstrebt, muß auch die dunkle Seite der Macht kennenlernen. Wie sonst soll ich mich gegen all die Lügenbolde schützen, die als Heilige auftreten, doch insgeheim Satanismus praktizieren?“ Diese Stehsätze sind verbreitet, vor allem in Deutschland. Die Gefahr der Verirrung in dunklen Nächten, in denen uns Ratlosigkeit und vermeintliche Einsamkeit plagen, ist gewaltig. Die Gefahr, auf das Gebet zu spucken (auf das christliche Gebet!), ist nennenswert. Viele wollen das „Vater unser“ auch gar nicht mehr beten. Sie spucken darauf. Sie handhaben indische Mantren. „Wie schade!“, kann ich da nur sagen. Selbiges gilt für Heimatlieder. Heimat ist uns abhanden gekommen. Und wir suchen sie schon gar nicht mehr. Doch aus Goa haben wir reiche Schätze mitgebracht. Ich habe in Goa sogar Ayahuasca getrunken, stell dir vor! Das sind die bunten Bauchladenzigeuner. Sie haben alles im Griff. Kommt es wider Erwarten dennoch zu kurzzeitigem Kontrollverlust, werden sie ausfällig. Brutal ausfällig, mit schneidender Zunge. Haltlos. Skrupellos. Im fraglichen Koffer mit einer Million Dollar ist eine schwarze Mamba versteckt. Gierig öffnen wir den Koffer, und schon sind wir tot. Peter Patzak kannte auch eine ähnliche Szene. Koffer auf. Bombe. „Ich Depp!“ Tot. Also Vorsicht!

    Als sie auf der anderen Seite des Sees die Gegend um Gadara erreichten und Jesus aus dem Boot stieg, lief ihnen ein Mann entgegen. Dieser Mensch wurde von Dämonen beherrscht und lebte in Grabhöhlen. Er war so wild, dass er nicht einmal mit Ketten gebändigt werden konnte. Sooft man ihn auch fesselte und in Ketten legte, jedesmal riss er sich wieder los. Niemand wagte sich in seine Nähe. Tag und Nacht hielt er sich in den Grabhöhlen auf oder irrte in den Bergen umher. Dabei tobte er und schlug mit Steinen auf sich ein. Kaum hatte er Jesus gesehen, warf er sich vor ihm nieder, und es schrie laut aus ihm: «Was willst du von mir, Jesus, du Sohn Gottes? Ich beschwöre dich beim Allerhöchsten, quäle mich nicht!» Jesus hatte nämlich dem Dämon befohlen: «Verlass dein Opfer, du teuflischer Geist!» Da fragte ihn Jesus: «Wie heisst du?» Der Dämon antwortete: «Mein Name ist Legion, denn nicht nur ich, sondern viele von uns beherrschen diesen Menschen.» Immer wieder bat er Jesus: «Vertreibe uns nicht aus dieser Gegend!» Nicht weit entfernt an einem Abhang wurde gerade eine grosse Herde Schweine gehütet. «Lass uns in diese Schweine fahren», bettelten die Dämonen. Jesus erlaubte es ihnen. Jetzt liessen die bösen Geister den Mann frei und bemächtigten sich der Schweine, die den Abhang hinunter in den See stürzten. Und alle zweitausend Tiere ertranken. Verstört liefen die Hirten in die Stadt und berichteten überall, was geschehen war. Viele kamen nun am See zusammen, um sich selbst zu überzeugen. Sie sahen den Mann, den die vielen Dämonen gequält hatten. Er war gekleidet wie jeder andere und sass ganz ruhig neben Jesus. Da wurde ihnen unheimlich zumute. Die Leute aber, die alles mitangesehen hatten, erzählten, wie der Besessene geheilt wurde und was mit den Schweinen geschehen war. Daraufhin baten die Leute Jesus, er möge ihre Gegend wieder verlassen. Jesus wollte gerade in das Boot steigen, als ihn der Geheilte bat: «Ich möchte gern bei dir bleiben.» Aber Jesus erlaubte es ihm nicht. Er sagte: «Geh nach Hause zu deiner Familie und berichte, welch grosses Wunder Gott an dir getan hat und wie barmherzig er zu dir gewesen ist!» Da wanderte der Mann durch das Gebiet der Zehn Städte und erzählte jedem, was für ein Wunder Jesus an ihm getan hatte. Und alle staunten. (Markus 5, 1 – 20)

  5. Schlaf, du mich rettende Erquickung

     

    Einer der großen, unschätzbar wertvollen Vorteile eines Aufenthaltes im Urwald im Rahmen eines Freijahres ist dessen tägliche, immer wieder aufs Neue erlebte und schlußendlich herbeigesehnte genießerische Zeitlosigkeit. Zugegeben: ein Freijahr ist ein Luxus, doch vielleicht ist es, wer weiß, lebensrettender Luxus gerade zum passenden Moment. Und überdies, man nimmt sich ja nicht so ohne Weiteres, mir nichts, dir nichts, ein ganzes Jahr lang frei. Das Jahr wird lebensverändernd wirken, doch so ganz sind wir uns dessen nicht sicher. Wir wägen ab und lassen schlußendlich die Finger davon. Pekuniäre Vorwände vorschiebend, zweifeln wir den Sinn, die Fruchtbarkeit des eigenen Wagnisses an. 10.000,- Euro auszulegen sind in unseren Augen harter Fakt. Nach zwölf Monaten Superwuzzifrau und Hexe, die fliegen kann, zu sein, ist nicht gesichert. Nachbarin, ich sag es dir, das sind doch alles nur überzogene Wünsche. Ich gehöre geohrfeigt für meine Leichtgläubigkeit gegenüber solchem Schwachsinn. Das Ganze, ihr könnt mich nicht täuschen, ist doch nur willkommene, bequeme Abzocke. Und wenn ich bei euch abkratze, laßt ihr mich verschwinden. Ich kenne euch doch, ihr Halunken. Kratze ich bei euch ab, verscharrt ihr mich in einem Loch oder zerhackt meinen Leichnam und die zahllosen Geier besorgen den Rest. Auf Nimmerwiedersehen. Von mir bleiben dann nur mehr die Haare und die Nägel, und das verbrennt ihr zuletzt. Ich kenne euch doch. Und wenn man eines Tages nachfragt, kennt ihr mich nicht. Sogar die Polizei weiß nichts von mir. Und außerdem könnt ihr mir nicht garantieren, daß ich nicht doch überfallen werde, nächtens, in meiner Hütte, am Wochenende, wenn alle Arbeiter weg sind. Ich kenn euch doch. In Wahrheit interessiert ihr euch einen Schmarren für mich. Hauptsache, ich liefere ab. Fieses System, kann ich da nur sagen.

    Eine derartige antizipatorische Befindenslage ist für eine Diät abträglich. Deshalb ja die Notwendigkeit der gediegenen Auskundschaftung, in wessen Hände man/frau sich begibt. Die Zuträglichkeit der Zusammenarbeit zeigt sich bereits in den Vorgesprächen. Der Wunsch nach einer Diät ist ein langsam und sorgsam gereifter, kein spontaner. Zwischen Diätbegleiterin und Zögling, Diätmeister und Lehrling ist Zutrauen, Herzlichkeit und Begeisterung vonnöten. Das Verhältnis zwischen den beiden Personen muß von Herzlichkeit, Spontaneität und Freude geprägt sein und nicht von technischem Raisonnement. Es ist ein Verhältnis des blinden Vertrauens, das alles erlaubt, was einem in den Sinn kommt. Das Lernverhältnis sagt zu allem „Ja und Amen“. Die Meisterin verbietet nichts. Die Studentin selbst legt Maß an. Die Studentin selbst erkennt, daß ihre Phantasie, es mit einer Kompanie von Männern aufzunehmen, nur unreifen Gelüsten entspringt. Sie rügt sich deswegen nicht selbst. Sie schmunzelt. In der Diät gibt es keine Verurteilungen. Tics und Spleens fallen bald ab. Sie lohnen keinen Kommentar. Die Frau, die ihren Ort gefunden hat, beginnt auf ihre Worte zu achten. Sie korrigiert sich selbst mit Augenmaß. Sie erlaubt sich Neues. Sie staunt über das Ausmaß der eigenen Verhaltensänderung. Sie staunt über das Ausmaß der eigenen Friedfertigkeit. Sie weiß, hier wird nicht über Lüsternheit diskutiert. Lüsternheit? Ich weiß ja schon gar nicht mehr, was das ist. Ich habe andere Sorgen. Da stehen andere Kaliber an. Oh Jemmineh! Meine Mutter, zum Beispiel. Der Papa ist ein armes Waserl im Vergleich zu meiner Mutter. Zum Glück bin ich hier weit genug von ihr entfernt. Wenn die wüßte. Immerhin: die Entfernung ist ein Vorteil. Der Dschungel auch. Der H. schlürft zum Frühstück seinen Tee mit Milch, bietet mir Mapachos an, legt die Füße auf den Tisch, furzt ungeniert in der Gegend herum und betrachtet mich wie ein Schachspieler die Schachfiguren, so als hätte er ein veritables Problem vor sich. Dabei bin ich doch gar nicht schwer zu durchschauen. Seltsam. Der erste Mann, bei dem ich überhaupt nicht an Sex denke. Er muß ein Außerirdischer sein. Eigenartig. Sehr eigenartig. Ich freue mich jedes Mals aufs Neue auf unser Morgengespräch. Er kommt um Zehn dahergestiefelt, sicherlich von einer feurigen Liebesnacht. Soll er. Bin ihm gar nichts neidig. Interessiert mich auch gar nicht. Ich muß ihm jedenfalls die Neuigkeiten berichten. Aber hallo! Aber hallo! Schwarzer Panther im Vorzimmer. Riesenschlange beim nächtlichen Urinieren. Buri Buri besucht mich am Gebälk. Der Wurzelsepp hat mich bereits gerochen, ich spür’s. Bald kommt er mit seinem Schlögel und macht Ratsch ratsch. Seltsam. Meine Krankheit kommt mir mittlerweile komplett kindisch vor. Und erst das Schlafen! Oh Gott, was für ein Segen! Nach dem Morgentratsch und dem Frühstück schon wieder ins Bett. Dann Baden. Dann Hängematte. Das Buch plumpst mir auf den Bauch. Das Vogelgezwitscher ist unbeschreiblich. Mein Gott, und dann all diese Erinnerungen. Die Sentimentalität überfraut mich. Mir kommen a grat die Tränen. Doch kaum trocknen sie mir ab, schlummere ich schon wieder. Wenn ich das so zusammenrechne, komme ich auf 14 Stunden Schlaf, wenn nicht mehr. Nicht schlecht. Und keiner redet mir drein. Was ich heute Nacht gedacht habe, war nicht von schlechten Eltern. Ich muß mir da ein paar Andeutungen notieren, ehe ich es vergesse. Ich werde hier noch zur Pflanze. Hätte nichts dagegen. Wenn man mich nur regelmäßig gießt, hätte ich nichts dagegen. Gießt? Ach, du meine Süße! Es gießt hier von alleine! Also bitte. Was fehlt dir denn? Zuwendung? Ja bitte: Zuwendung. Bitte, ich möchte hier nicht versumpern! Wenn ich von Albträumen geplagt werde, hätte ich gerne jemanden in meiner Nähe. Jemand Kompetenten. Nicht die Köchin, die von Apfelstrudel noch nie etwas gehört hat. Die Judith kann gut Kochen, kein Zweifel. Schade, daß ich nicht Spanisch spreche. Das nächste Mal werde ich es lernen. Sagte ich „nächstes Mal“? Oh lala. So schlimm steht es schon um dich, Trude? Puh. Ich benehme mich wie ein kleines Kind. Dachte nicht, daß so etwas nochmals zum Problem werden könnte. Ich mit meinen knapp Sechzig. Aber lassen wir das. Sowieso alles Schmarren. Wann gibt es die nächste Zeremonie? Übermorgen? Super! Diesmal werde ich zulangen. Was habe ich zu verlieren? Ich will endlich klarsehen! Ist doch alles groovy. Ich alleine mit einem wildfremden Mann in einem stockdunklen Tempel, wo der hölzerne Erzengel Gabriel wie ein Dämon mit Flügeln dasteht. Ich speibe mich an und scheiße mir vielleicht sogar in die Hose, und ich bin diesem Mann ausgeliefert, daß er mich zum Klo bringt. Ist das nicht närrisch? Närrisch? Nein. Närrisch bin ich selbst, daß ich so dahermosere. Ist doch lustig. Ich kann rülpsen und mir alles Mögliche vorstellen, es stört hier anscheinend keinen. Irgendwann werde ich nach der Diät auch noch diese Holzwürmer essen, vom Grill und ungeniert nackt baden. Seltsam, wozu der Mensch fähig ist. Ich bin überzeugt, hier ist alles ganz anders als ich es jemals vermutet hätte. Alleine das Gewitter vorgestern. So etwas gibt es nicht zuhause. Stundenlange Blitze. Meine Hütte hat gebebt vom Donner, und trotzdem habe ich mir nicht in die Hose gemacht. Grad daß die schweren Wolken mir nicht auf den Schädel fielen. Der Petrus fuhr mit der Eismaschine hin und her, direkt über mir, stundenlang. Alles hat gebebt. Das glaubt mir keiner. Immerhin, der H. hat es mit mir erlebt, in seiner Hundehütte. Der Kerl schläft in einer Hundehütte, mit Vampiren unter dem Dach. Glaubt mir keiner. Das verstehen sie hier wohl unter Wochenendidylle. Ich muß lachen.

     

    1. Schlaf, du mich rettende Erquickung

      Danke für diese wunderbaren Erinnerungen. An die Gewitter, die über das Dschungeldach zogen, die Eismaschine des Himmels, die an den Blättern der Palmen schüttelte und ich mich in der Decke verkroch, um dem zu entkommen. Aber es gibt kein Entrinnen,… die Entscheidung, in den Dschungel zu gehen, Ayahuasca zu trinken und zu diätieren, muss gut durchdacht sein. Denn einmal diesen Weg beschritten, gibt es kein Zurück. Für diese wunderbaren Erzählungen der Diäten, die viele Erinnerungen hoch leben lässt. Einiges durfte ich ja selbst erleben, und es wird mir unvergesslich bleiben. Danke dem Herrn des Waldes und den vielen Pflanzenwesen die mich aufgenommen haben, um mich zu lehren.

  6. Prüfung ist keine Pein

     

    In der Diät, in der aufrechten Diät, gibt es kein Herumgerede. Nehmen wir eine Diät von 28 Tagen. Die Diät eines Mondzyklus. In einer solchen Diät gleitet der Diätant in der vierten Woche in eine Zone des Schweigens. Es gibt keinerlei automatisierten Rechtfertigungszwang mehr. Es macht sich breitflächige Trauer breit, die sich jedoch von der sogennanten Alltagstrauer, der anlaßgebundenen Spontantrauer, grundlegend unterscheidet. Diese Trauer jetzt ist eine solche, wie es Don Juan Matus formuliert, über die planetenumspannende condition humaine. Die condition humaine, die den Metaphysiker bestürzt, ist nicht die Todgeweihtheit der Menschheit, sondern ihr selbstverschuldetes, blindes Ausgeliefertsein an den Vampir, der den Tod erst induziert. So wie Christus sagt: „Der Menschenmörder von Anbeginn an.“ Im Bereich der „Esoterik“ gibt es genügend Menschen, die ganz und gar nicht gewillt sind, den notwendigen Ernst für die Betrachtung der Bedrohung durch diesen Todfeind (den Erzfeind des Menschen, wie ihn Tenzin Gyatso nennt) aufzubringen. Sie ziehen es vor, ihr Gegenüber, kaum kommt das Faktum der Besessenheit bei Tisch zur Sprache, ihr Gegenüber sprichwörtlich anzuspucken, davonzurennen, in die Küche und dann in den Wald, wo sie sich mit dem Brotmesser die Kehle durchschneiden. Eine Frau. Andere trinken den sprichwörtlichen Pillencocktail oder stürzen sich vom Balkon in die Tiefe, über das gespannte Fangtuch der Feuerwehrmänner hinweg. Den Esoterikerinnen, die sich selbst umbringen, mangelte die elementare Diät und erst recht die kompetente, souveräne Diätbegleitung. In ihrer vermeintlichen Einsamkeit vermeinen sie, numehr, da es soweit ist und alle Sicherheitsnetze aus ungezügelt aufgeblähtem Eigendünkel und krusen Weltkonstrukten nichts mehr helfen, von einem Abgrund des Chaos, aus dem dämonische Fratzen sonder Zahl wie aus einem rauchenden Vulkanschlot hochsteigen, verschlungen zu werden.

    In der vierten Woche sollte die ernsthaft Arbeitende gelernt haben, ihre Hysterie abzulegen. Die Hysterie von Frauen ist grundverschieden von jener der Männer. Das theatralische Aufbegehren, das es bei Männern darstellt, ist nicht mit der Wut zu vergleichen, die eine Frau packt, die an die entscheidende Klippe gelangt, wo alles rauscht und gurgelt und Strudel Treibholz in die Tiefe ziehen. Dieser kritische Moment will ausgehalten werden. Mitunter kommt es vor, daß eine Dame wie eine Bruthenne, die am Klosett im Sägespänenkobel ihr Dutzend Eier 21 geduldige Tage lang ausbrüten wird, in ihrem Intimbereich von Läusen, die von Eierschalen, zumal warmen, magisch angezogen werden, gepiesackt wird, sodaß sie sich aufzuspringen und entrüstet gackernd, halb fliegend, die Rampe hinabzurennen genötigt sieht, an einem idyllisch stillen, sonnigen Vormittag nackt und schreiend aus ihrer Diäthütte stürzt und sogleich Anstalten erkennen läßt, dergestalt in wildem Zorn in den Urwald zu rennen. Dann kann man ihr nur nachrennen.

    „Wo wollen Sie hin, gute Frau?“

    „Weg von hier, nur weg. Haben Sie mich verstanden, Herr H.? Weg von hier! Weg von allem. Bitte kommen Sie mir nicht zu nah! Ich will weg.“

    „Barfuß? Sie werden sich die Füsse aufschneiden.“

    „Ist mir egal. Ist mir egal, verstehen Sie? Mir ist alles egal.“

    „In Ordnung, aber ziehen Sie sich bitte Stiefel an. So läßt es sich besser marschieren.“ Sie sieht es ein. Ich merke es an ihrem fremden Schweigen. Ich bringe der Dame ihre Stiefel, sie zieht sie an. Ich schaue ihr beim Anziehen zu. Sie ist immer noch splitternackt.

    „Na gut, ich hol mir noch ’ne Hose und ein Leibchen. Besser gegen die Mücken. Wann ich zurückkomme, weiß ich noch nicht. Sagen Sie bitte der Judith, heute keinen Fisch. Vielleicht am Abend. Ach ja: Haben Sie vielleicht einen Stock für mich, Herr H.? Mit einem Stock läßt sich’s besser wandern.“

    Das ist eine kleine Krise. Die Dame jedoch merkt bereits während der ersten Schritte ihrer Wanderung, wie wohltuend das Dahinschlendern ihr tut. Nach ein paar hundert Metern des versunkenen Dahintrottens hat sich auch die Scham wegen ihres Auftrittes vorhin schon wieder gelegt. Sie bleibt kurz stehen und muß lächeln. Ist ja wirklich zum Lachen, sagt sie sich. Ein paar Tränen treten ihr in die Augen. Sie schneuzt sich direkt auf den Boden und überlegt kurz, ob Umkehren angebracht wäre. Doch dann blickt sie sich um. Wie zauberhaft es hier ist! Und schlendert weiter. Um die Jaguare macht sie sich keine Gedanken, auch nicht um ihre Menstruation. Von nun an, so nimmt sie sich vor, werde ich jeden Tag Wandern gehen. Ist doch lustig, daß ich nicht früher darauf gekommen bin. Ich Angsthäsin. Wovor fürchte ich mich denn? Mein Gott! Du glaubst, hinter jedem Stamm lauert ein wolllüstiger Peruaner? Sei ehrlich: Das ist es ja, was du dir vorstellst. Mehr braucht es ja nicht, oder? Oh mein Gott. Zum Glück weiß niemand was davon.

    In der vierten Woche, wenn es mit rechten Dingen zugeht, ist all das fort. Nie zuvor gekannte Geistesgegenwart tritt ein. Ein Bedürfnis nach Ordnung und Strukturierung. Die Frau breitet in ihrem Zimmer Tücher, Decken und Polster auf dem Boden aus, bisweilen mit Anlehnung an die Hüttenwand. Ein paar Tage später sagt sie sich, ich muß ja nicht übertreiben, wie wär’s mit einer Hängematte? Und schon kommt die Hängematte, von einem schwitzenden Arbeiter in dessen Arbeitskluft montiert. Der Arbeiter verhält sich ganz unmännisch, denkt die Frau. Wieso würdigt er mich keines Blickes? Ich bin doch eine Gringa. Er müßte fasziniert sein von mir. Doch der Arbeiter hat nur einen Blick für die Tragseile, die er fachmännisch an den Stehsäulen festzurrt. Danach verabschiedet er sich freundlich und scheinbar schüchtern (Ach Gott, diese Männer!) auf Spanisch, und ich kann nur wie ein Automat „Grácias! Muchas grácias“ daherstottern. Sogleich bin ich wieder allein, diesmal mit meiner Hängematte. Wollen wir sie gleich mal prüfen. Ach, wie super! Das ist bequem! Da läßt es sich Stunden, wenn nicht Tage verbringen. Seltsam, daß ich nicht früher auf diese Idee gekommen bin. Und schließlich kehrt Ruhe ein.

    Die vierte Woche zeitigt unterschiedliches Gepräge. Wohl, dies gilt schlechthin sowieso für jede Diät. Der Diätverlauf ist individuell. Wie denn anders? Doch es gibt Grundströmungen, die der Forschende, der Diäten wiederholt und dafür immer wieder nach Peru zurückkehrt, mit der Zeit feststellt, sobald er Vergleiche mit Erzählungen über den Diätverlauf von Einheimischen zieht. Bei den Einheimischen sind die Differenzen zwischen Indios und Mestizen nochmals kraß. Die Indios wandern im Dschungel herum, mit Pfeil und Bogen, ein ganzes Jahr lang. Sie verwandeln sich in Tiere. Sie waren schon zuvor Jäger. Jetzt werden sie zu Tieren. Die Indiofrauen ihrerseits hingegen wandern nur in beschränktem Kreis und immer an der Leine ihrer Diätmeisterin. Mestizen verwandeln sich nicht in Tiere und haben ihren fixen Unterstand, ihren Tambo, eine wandlose Holzkonstruktion mit aufgepfahltem Fußboden, Blattdach und Dachboden aus bona, auf dem sie wie in einer dreieckigen Röhre schlafen. Ihr Tambo wird ihr Reich, ihr Raumschiff. Für die Mestizen ist die erste Prüfung klarerweise die Mutprobe. Manche bringen deshalb vorsorglicherweise ein Gewehr mit, doch bald stellt sich heraus, die Schrotpatronen sind alle feucht und taugen nichts mehr. Na gut, brummt der schnurrbärtige Mestize, so gebrauche ich mein Gewehr halt als Prügel, wenn der Gescheckte bei mir hereinspringt. Mit mir hat er nichts zu lachen. Wär doch gelacht!

    Mestizenmänner bekennen nach dem ersten Monat Farbe, spätestens jedoch nach acht Wochen. Jetzt zeigt sich, wie es um ihre Gewaltbereitschaft und um die Droge „weibliches Geschlecht“ steht. Es gibt Mestizen, deren Diätverlauf nicht von einziehender Trauer, sondern von einziehender Wut und permanenter Kampfbereitschaft geprägt ist. Diese Männer legen niemals fünf Jahre ab, sondern höchstens, wenn überhaupt, 18 Monate. Diese Männer werden auch niemals Ayahuasceros. Sie werden selbstgestrickte Brujos, die irgendwann damit beginnen, ausschließlich Giftpflanzen, wie den Huayruru, zu diätieren. Kehren sie dann in die Welt der Menschen zurück, sind sie skrupellos und unterschwellig kriminell gestimmt. Irgendwann, Jahre später, werden sie, wie sich der Anlaß zeigt, zu Gewalttätern, Betrügern und notorischen Lügnern.

    Von den braven Mestizen wiederum gibt es nicht so viele, doch gerade deswegen ist es angebracht, Ihnen hier die Ehre zu geben. Diese Männer sprechen nicht über ihre Diät, ganz und gar nicht. Sie geben sich scheu. Trifft man sie später in der Praxis oder feiert eine Zeremonie mit ihnen, zeigt sich eine melodiöse Stimme im Gesang und leise, allerhöflichste, vielleicht sogar zitternde Stimme bei der Begrüßung. Diese Menschen wirken wie Jungpriester. Werden sie mit einem Patienten konfrontiert, vergraben sie sich in ihrer Wurzelhöhle wochenlang in das Problem. Mestizenfrauen, richtiggehende Curanderas, kenne ich wiederum gar nicht. Das heißt, ich kenne eine Peruanerin (heute 78) und eine Mexikanerin, die jedoch bereits 2011 verstarb. Die Peruanerin verfügt nur über ein Schuljahr Bildung. Sie hatte nie eine Mutter. Seit ihrem achten Lebenjahr arbeitet sie hart am Feld. Die Pflanzen sprechen zu ihr, so wie auch Gott. Diese Frau diätiert hin und wieder bei sich zuhause, im Dorf. Dann verschließt sie sich für drei Wochen in ihrem Zimmer, zu dem niemand Zutritt hat. Ihr Fäkalgeschäft verrichtet sie wie ein Schatten in dunkelster Nacht. Ihre Tochter und eine Köchin wissen Bescheid. Der Ehemann, sowieso ein Greis, hat nichts zu melden. Curanderas beten in der Diät. Finstere Möchtegerncuranderos beten in der Regel nicht. Brave Mestizen weinen vielleicht heimlich, sobald sie in ein Reich eingelassen werden, das sie sich niemals träumen lassen hätten können. Sie tauchen ein in eine glitzernde Dschungellandschaft Amazoniens, in der nur Pracht und Friede herrscht. Sie tauchen ein in himmlische, paradiesische Gefilde, wo glückliche Menschen, Mulattinnen und Mulatten beim Wäschewaschen einen mehrstimmigen Chor aus der Karibik anstimmen, der wie ein Gewebe die Luft durchzieht. Das Erlebnis des Paradieses ist der Anhauch der eigentlichen Initiation, der sie zugeführt werden. Was sie dann erleben, entzieht sich jeder Mitteilung. Der brave Mestize erlebt die mystische, konkrete Anschauung.

    Der Indio andererseits, der sich auf dem Boden einer Jahrhunderte alten Tradition bewegt und somit ein ganz anderes Kaliber abgibt, schwebt, wenn der Moment gekommen ist, gewöhnlich gewichtslos, so möchte ich sagen, in eine andere Dimension. Er wird von dieser Dimension aufgesogen. Ich denke, es handelt sich um eine Form beginnender Erleuchtung (wenn es so etwas überhaupt gibt). Diese Indios, Männer wie Frauen, erleben reine Abstraktion als das Traggerüst des Seins. Sie sehen energetische Strukturen, akustisch wie visuell. Sie sehen die fließende, brillierende, phosphoreszierende Energie des Busches wie dessen Tierwelt. Sie verschmelzen mit der Anmut der im Gezweige spielenden Mushmukis und der darin bekundeten perfekten Dynamik scheinbar schwerelosen Herumhüpfens inmitten von filigranem Blattgespinst. Der Indio weiß im selben Anblick, ich bin der tischtennisballgroße Kopf des Mushmukis, der sich putzig umblickt und mit den kleinen Händchen durchs Gesicht fährt. Der Primat, pure Anmut, ist Mensch. Der Indio wird zum Primaten. Das Äfflein wird niemals vom Gezweige stürzen. Die Baldachine schwanken und rascheln. Keine Kreatur fällt herab. Sie hüpfen und fliegen in perfekten Schwüngen, an fünf Extremitäten. Die Visionen der Indios sind – das meine ich heute – den Mestizen unzugänglich. Der Curanderismo der Indios ist magisch, und er ist im Eigentlichen, in seiner Höchstform, auch schamanisch. Wie die Initiation der Indios verläuft, weiß ich bis heute direkt nicht, und ich erspare es mir auch, Mutmaßungen anzustellen.

    Die Probleme der Gringos (um nicht auf meine Lieblingsklienten zu vergessen) sind eindeutig andersgestaltig. Das Problembewußtsein der aufgeklärten, selbstbewußten Weißen ist ausgedehnt. Nur die allerwenigsten, die allerallerwenigsten, machen sich die Mühe, diesen Weg konsequent zu beschreiten. Die Möglichkeiten der Zerstreuung und Ablenkung vom gediegenen Pflanzenweg sind gewaltig, weshalb es, so gewinne ich den Eindruck, entgegen aller idealistischer Beteuerung Rumpfarbeit bleibt. Der Weiße kann sich dem globalen Problembewußtsein, in dem er praktisch jeden Tag badet, nicht entziehen. Er sieht dies ein, weiß darum, und bejaht diese seine Eingebundenheit in seine Zeit schließlich aufs Neue. Er weiß, daß er im Vegetalismo wie aus höherem Schicksal nicht weiter kommt. Wendet er sich in der ihm verbleibenden Restzeit sodann wie aus natürlichem Themenumschlag der religiösen Perspektive zu, die, er weiß es nur allzu gut, in seinem Herzen ja wie Bodenglut ohnehin bereits seit jeher dahingeglost hat, gerät er unversehens in eine fruchtbare, zart enthusiastisch stimmende Themenwelt, die sich mit der psychologischen zumindest in Ansätzen zu verweben scheint. In dieser Phase des jäh aufkommenden Hungers, der Wißbegier, realisiert der Diätant, daß er unmittelbar, ohne Aufschub, Studienmaterial benötigt. Er beginnt die Bibel, von der er weiß, sie liegt im Speisesaal irgendwo am Tisch herum, zu lesen oder nimmt ein Timeout, um die Klosterbibliothek des Herrn H. zu durchstöbern. Schlußendlich landen wie in der österreischischen Nationalbibliothek zehn Bücher auf dem Studiertisch. Herr Gabriel hat zudem genügend Schreibmaterial eingepackt, er beginnt sogleich mit kreativer Künstlerarbeit. Tag und Nacht verschmelzen zu einem geistdurchtränkten Band der Eingebung. Und siehe da: bereits wenige Jahre später materialisieren sich die Visionen in konkreten Projekten. Gabriels religiöse Glasmalereien machen ihn zu einem gesuchten Künstler, sogar in Israel. Die Diät hat die Klippe umschifft. Ich bin bei mir gelandet. Endlich, zum ersten Mal, bin ich bei mir und nicht in des Teufels Küche. Ich bin gesund und kräftig. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Projekt, Projekt, Projekt!

     

     

     

     

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