Max und Moritz waren zwei von 9 Geschwistern. Sie lebten in einem von den russischen Besatzern gebauten Mehrfamilienquartier, dessen untere Mauern nach 20 Jahren die unuebersehbaren Spuren entlangschleifender Kinderhaende trugen. Rund um das Haus und in seinen Fluren sassen sie und spielten, bisweilen zerlumpt oder halbnackt, und urinierten an der naechsten Ecke.

Max war der juengere, und doch wirkte er bei weitem aelter. Schon mit 9 war sein igelhaft aufstehendes Haar grauschwarz. Dichte borstige Augenbrauen verliehen ihm den Ausdruck des Altklugen. Er trug seinen Kopf zwischen den Schultern versteckt. Sein Gebiss war eine Offenbarung: Das obere Schneidezahnpaar um 90º verdreht. Er war Quasimodo. Moritz, sein um ein Jahr aelterer Bruder, wiederholte die Vierte, sodass ihn sein Bruder einholen konnte. Sein Ausdruck war verschlagen, sein Schielen irritierend. Das, was bei seinem Bruder beinahe kokett wirkte, geronn bei Moritz zum Ausdruck der Unbaendigkeit und Kaelte. Man sah ihm die Ruecksichtslosigkeit an. Wegen einer Gaumenspalte hatte er eine nasse, gleichzeitig heisere Aussprache. Sie sassen vorne in der ersten Reihe, in der Mittelbank, gut im Blickfeld der Lehrerin, und heckten den naechsten Streich aus. Was wirklich in ihren Koepfen vorging, vermochte keiner zu sagen, aber mit Sicherheit war es anders. Gefaehrlich.

Es war in der ersten Stunde eines neuen Tages, der Direktor kommt wutentbrannt hereingestackst, stellt die beiden zur Rede. Von den uebrigen ruehrt keiner nicht ein Ohr. Die Lehrerin verschraenkt die Haende hinter dem Ruecken, neben ihrem Tisch stehend. Die anfaenglichen Vermittlungsversuche fruchten nichts. Der aufgeschossene, hagere Schulleiter mit seinem schuetteren Haar und dem scharfgeschnittenen Gesicht hat Anderes im Sinn. Beide muessen sich vor ihm aufstellen, er packt sie zuerst an den Haaren, hebt sie so in die Hoehe, spaeter am Schlaefenhaar. Moritz, der aeltere, antwortet ihm, "So werde ich Ihnen niemals etwas sagen!", und Lehrer Laempel schleudert ihn gegen die Tafel. Moritz, 10, rappelt sich hoch, und entgegnet ihm wiederum: "Niemals erfaehrst Du etwas von mir!"

Laempel knoepft sich das Jacket zurecht, ein Knopf ist ihm gerissen, und streicht sich durchs Haar. Grimmig verlaesst er die Klasse. Eine Minute vergeht und niemand sagt etwas. Die Lehrerin raeuspert sich. "Kinder, was immer ihr auch angestellt habt, versprecht mir, es nie mehr zu machen!"

In dieselbe Klasse ging auch Jesina, der Sohn des Pastors. Er meinte, sie in Schutz nehmen zu muessen und begann ueber alle Scheu hinweg mit ihnen ein Gespraech, begleitete sie am Nachhauseweg zu Fuss. Ein paar Tage ging es gut, dann packte Moritz wieder die Grausamkeit und so stiess er Morddrohungen aus gegen den Entgeisterten. Der fluechtete sich, es war Winter, in den Garten seines Elternhauses, doch vergebens. Das Bruederpack verpasste ihm eine schaendliche Schneeabreibung, und niemand drinnen hoerte oder sah es.

Jesina studierte spaeter Theologie, in den Anfangsjahren, und war auf Heimaturlaub. Seine Schwester, damals Mitzeugin, erzaehlt ihm, "Weisst eh schon, der Max hat sich bei seiner Siedlung auf die Schienen gelegt."

Monate spaeter, Jesina hockt in seinem Studierzimmer zuhause, hoert den Rauchfangkehrer heraufkommen, oeffnet neugierig die Tuer, und erkennt den damaligen Erzfeind, Moritz, im schwarzen Gesicht, das sich nichts anmerken laesst. Er fragt ihn noch mit bebender Stimme: "Die Leiter hinauf finden Sie allein, nicht?" Dann hoert er ihn den Russ hinunterstreiten, es grummelt im Kamin, der an seinem Zimmer vorbeifuehrt. Moritz in seinen schweren Schuhen steigt die Leiter wieder hinab und laesst das Schloss einschnappen, Jesina wagt nicht mehr den Blick hinaus.

Monate vergehen, und wieder ist Heimaturlaub. Jesina’s Schwester empfaengt ihn, gerade auf Hausbesuch. "Weisst eh, jetzt hat sich auch der Moritz auf die Schienen gelegt, genau an derselben Stelle wie der Max, und genau ein Jahr danach."

Es war Zeit, das zu erzaehlen, lange nachdem Wilhelm Busch’s Schrotmuehle verstummt ist. Wenn es einen Bodenblitz in einem mir unbekannten Augenblick geben mag, der zum Himmel hinaufschnellt, er moege sie gruessen von mir, die beiden Brueder. Gernot und Wolfgang Hablesreiter.

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  1. In der Klasse der beiden Brüder saßen lauter Außergewöhnliche. Zehnjährige Kinder mit offenen Augen. Der intelligenteste von allen war einer, ein Bub, der am wenigsten auffiel und der am leisesten sprach. Er hatte immer ein spitzbübisch geheimnisvolles Lächeln auf Lager, eines, das einen, hätte man ihn nicht besser gekannt, glauben machen hätte lassen, hinter einem säße ein nicht ganz Zurechnungsfähiger. Dabei war er ganz und gar kein Schelm. Er war nur leise und dachte mit. Er dachte mit in Form von leise gemurmelten Kommentaren. Er war hager, doch aufgeschossen. Seine Gesichtszüge harmonisch. Er kam aus einem versteckten Viertel des Marktes, einem Viertel, in das bis zum heutigen Tag kaum einer hineinfährt, weil es absolut nichts zu bieten hat. Eine Ansammlung von zweigeschossigen Wohnhäusern mit Hecken am Zaun. Nie ein Lebenszeichen in Form eines Gartenfestes oder Ähnliches. Unsichtbare, mit einem Wort. Jesinas Eltern galten als Sonderlinge. Der Vater Morgenausträger des nationalen Kleinformates, das jedem als der Inbegriff der nationalen Provinzgesinnung gilt. Die Mutter Tierärztin für Kleintiere und Hundeabrichterin (ohne daß je einer zu sagen vermocht hätte, wo sie ihren Hundeabrichteplatz denn eigentlich unterhielt).

    Jesina also kommentierte alles, das war sein Charakteristikum. Das brachte ihm von der Lehrerin Bock aus Puchberg am Schneeberg regelmäßig einen kurzen, nicht übertriebenen Ordnungsruf ein, denn anlegen wollte sie sich nun auch nicht mit ihm, war er doch gar nicht renitent und ansonsten sympathisch, aber irgendwie halt unzugänglich, so ganz anders. "Jesina, bitte nicht schwätzen! Reden kannst du in der Pause!" Dann blickte Jesina hoch, lächelte sie an, und der Vordere, der sich zu ihm umdrehte, konnte merken, daß der solcherart Gemaßregelte seine plötzlich ihm hochschießenden Tränen zu unterdrücken versuchte, indem er wie eine Bulldogge die Unterlippe weit über die Oberlippe hob. Dann langte er in die Hose und holte ein sorgfältig gebügeltes Taschentuch hervor, mit dem er sich dezent über die Augen fuhr. Keiner seiner Mitschüler lächelte darob. Ja, man hätte glauben können, sie hätten es nicht einmal gesehen. Das glattgebügelte Taschentuch raubte ihnen den Atem.

    In dem zweiten Jahr, das Jesina mit uns verbrachte, wußte keiner, das so etwas überhaupt möglich war: Aus dem Nichts auftauchen, unsichtbar bleiben (in der Kirche stand er zum Beispiel mitten unter den dunklen Spießgesellen im hinteren Quadranten, wo sich keines der anderen Kinder sonst fand) und ein Wesen an den Tag legen, das ihn zum Außerirdischen machte. Nie anecken, nie in einen Konflikt hineingezogen werden, nie ein Problem mit dem Lernstoff, immer die besten Jausenbrote im Gepäck, das, und das weckte unseren heimlichen Neid, ein niedlicher Bauchkorb mit einem ledergebundenen Deckel war. Das Körbchen behielt er manchmal noch im Unterricht an.

    Der Tag der Wahrheit kam, als der Direktor das morgendliche Standgericht über Max und Moritz verhängte, das uns allen, einschließlich der Lehrerin Bock, über all die Jahre in den Knochen hängenbleiben sollte. Der Direktor war also mit seinem abgerissenen Jackenknopf roten Kopfes hinausgestürmt und hatte uns sprachlos zurückgelassen, es verging eine Minute, und manchen standen die Tränen in den Augenwinkeln, als Jesina wieder zu kommentieren begann und sich sein Vordermann ein Herz faßte und sich zu ihm umdrehte, um ihn besser zu verstehen, oder besser, um ihn zu sehen. Jesina also murmelte: "Das war unrecht und wird nicht gut zu machen sein. Das alles ist ein unerträgliches Theater. Sie wollen uns alle umbringen. Niemand schert sich um das, was sie in der Kirche gelernt haben. Auf diese Weise bringen sie uns um, als Teufel, und auf diese Weise bringen sie den Gernot und den Wolfgang um. Aber ich werde ihnen nie verzeihen!" Und die Lehrerin Bock, die aus einem Instinkt wahrnahm, daß Jesina am Kommentieren war, blickte ihn mit erschrockenen, aufgerissenen Augen an, setzte zu einem Satz an, der ihr in der Kehle stecken blieb, und mußte sich hinsetzen, um Fassung zu gewinnen. Und da blickte Jesina direkt und offen, nicht versteckt, zu ihr und sprach seinen Schlußsatz: "Gott hat es gesehen." Und sie hörte es sehr wohl. Und von da an war er die restlichen Monate unser heimlicher König, der Außerirdische, von dem niemand wußte, wo er herkam und wo er hingehen sollte.

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