Nach Emmaus gehen
"Nach seiner Auferstehung in der Fruehe des ersten Wochentages erschien er zuerst der Maria Magdalena, aus der er sieben Teufel ausgetrieben hatte. Diese ging hin und meldete es seinen trauernden und weinenden Gefaehrten. Als diese hoerten, dass er lebe und von ihr gesehen worden sei, glaubten sie es nicht.
Hierauf erschien er in fremder Gestalt zweien von ihnen unterwegs, als sie aufs Land gingen. Auch sie gingen hin und meldeten es den uebrigen. Selbst ihnen glaubten sie nicht.
Zuletzt erschien er den Elfen selbst, waehrend sie zu Tische sassen. Er verwies ihnen ihren Unglauben und ihre Herzenshaerte, weil sie denen nicht geglaubt hatten, die ihn, den von den Toten Auferstandenen, gesehen hatten." (Markus 16, 9-14)
"Ich bewegte mich vorsichtig und setzte mich aufrecht. La Gorda schlief tief an meiner Schulter. Wir waren von einer Gruppe von Halbwuechsigen umgeben. Sie mochten glauben, wir seien betrunken. Sie aefften uns nach. Der keckste Junge fuehlte la Gordas Brust. Ich ruettelte sie wach. Wir standen auf und gingen rasch fort. Sie folgten uns, wobei sie uns verhoehnten und Gemeinheiten bruellten. Ein Polizist an der Strassenecke brachte sie davon ab, uns weiter zu belaestigen. In voelligem Schweigen gingen wir von der Plaza bis zu der Stelle, wo ich meinen Wagen geparkt hatte. Es wurde schon bald Abend. Ploetzlich packte la Gorda mich am Arm. Ihre Augen funkelten wild, ihr Mund stand offen. Sie deutete nach vorn.
"Sieh! Sieh!" schrie sie. "Dort sind der Nagual und Genaro!"
Ich sah zwei Maenner, die einen Haeuserblock vor uns um die Ecke bogen. La Gorda rannte los. Ich rannte hinterher und fragte sie, ob sie sich sicher sei. Sie war ganz ausser sich. Als sie aufgeblickt hatte, so sagte sie, haetten Don Juan und Don Genaro sie angestarrt. Als ihre Blicke sich trafen, haetten sie sich abgewandt.
Als wir diese Strassenecke erreichten, gingen die beiden Maenner noch immer in gleicher Entfernung vor uns. Ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Sie waren wie Mexikaner vom Lande gekleidet. Beide trugen Strohhuete. Der eine war staemmig wie Don Juan, der andere war schlank wie Don Genaro. Die beiden Maenner bogen wieder um eine Ecke, und wir rannten wieder laermend hinter ihnen her. Die Strasse, in die sie eingebogen waren, war menschenleer und fuehrte zum Stadtrand hinaus. Sie machte einen leichten Bogen nach links. Die beiden Maenner befanden sich gerade an der Stelle, wo die Strasse abbog. Und genau in diesem Moment geschah etwas, das mich an die Moeglichkeit glauben liess, dass es tatsaechlich Don Juan und Don Genaro waren. Es war eine Bewegung, die der kleinere Mann machte. Er wandte uns Dreiviertel seines Profils zu und neigte den Kopf, als wolle er uns bedeuten, ihnen zu folgen – etwas, das Don Genaro zu tun pflegte, wenn wir draussen im Wald waren. Er lief immer vor mir her, wobei er mich mit einer solchen Kopfbewegung neckte und aufforderte, ihn einzuholen.
La Gorda fing laut an zu schreien: "Nagual! Genaro! Wartet!"
Sie rannte voraus. Die beiden Maenner gingen rasch auf ein paar Huetten zu, die im Halbdunkel kaum sichtbar waren. Vielleicht waren sie in eine von ihnen eingetreten oder in eine der vielen Gaesschen abgebogen; jedenfalls waren sie ploetzlich verschwunden.
La Gorda stand da und schrie ohne Scheu ihren Namen. Leute kamen herbei, um nachzusehen, wer da schrie. Ich hielt sie fest, bis sie sich beruhigt hatte.
"Sie waren direkt vor mir", sagte sie weinend. "Nicht mal drei Meter entfernt. Als ich aufschrie und dich auf sie aufmerksam machte, waren sie augenblicklich einen Block weit entfernt." (C.Castaneda, Die Kunst des Pirschens, Frankfurt am Main 1981, S.45-46).
"Maria [Magdalena] aber blieb draussen am Grab und weinte. Wie sie nun weinte, neigte sie sich vor in das Grab hinein. Da sah sie zwei Engel in weissen Gewaendern sitzen, den einen zu Haeupten, den andern zu Fuessen dort, wo Jesu Leichnam gelegen hatte. Diese sagten zu ihr: "Frau, was weinst du?" Sie antwortete ihnen: "Weil man meinen Herrn weggenommen hat und ich nicht weiss, wohin man ihn gelegt hat."
Nach diesen Worten wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, erkannte aber nicht, dass es Jesus war. Jesus fragte sie: " Frau, was weinst du! Wen suchst du?" In der Meinung, es sei der Gaertner, antwortete sie ihm: "Herr, du hast ihn weggetragen, so sage mir, wohin du ihn gelegt hast; dann will ich ihn holen."
Da sagte Jesus zu ihr: "Maria!" Sie wandte sich um und sagte zu ihm auf hebraeisch: "Rabboni", das heißt "Meister". Jesus sagte zu ihr: "Halte mich nicht fest! Ich bin zwar noch nicht zu meinem Vater aufgefahren. Doch gehe zu meinen Bruedern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott." Maria Magdalena ging hin und verkündete den Juengern: "Ich habe den Herrn gesehen"! – und so habe er gesagt." (Johannes, 20, 11-18).
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Scheinbare Totenstille
Es ist früher Morgen. Morgengrauen. Maria Magdalena sitzt am offenen Grab und weint. Man hat ihr den Herrn genommen, seinen Leichnam. Weggestohlen! Auch das noch! Ihre Verzweiflung kennt keine Grenze. Mit tränennassem Gesicht neigt sie sich in das noble Felsengrab, das Nikodemus gespendet hatte, hinein, und sieht zwei Lichtgestalten. In ihrer inneren Stille, da die Welt für sie, die Trauernde, aufgehört hat zu existieren, sieht sie die Lichtgestalten. Dann wendet sie den Kopf. Ein Mann im groben Leinen, mit abgelegter Kapuze, steht still hinter ihr. Sie erkennt ihn nicht. Sie sucht ihren toten Geliebten unter den Toten. Da gibt er sich ihr zu erkennen und wird zu ihrem Messias. "Geliebte, halte mich nicht fest. Der Himmel ist offen, die Schrift wird sich erfüllen." Das alles in Totenstille. Damit erst recht verliert die Welt für Maria Magdalena ihre Kraft. Und sie kehrt in der selben Totenstille zurück zum Abendmahlsaal, wo die Jünger auf dem kalten Boden schlafen. Und seine Getreuen können es nicht glauben. Petrus und Lazarus – derselbe Lazarus, den er von den Toten auferweckt hatte – laufen hin, die anderen bleiben zurück, immer noch aus Angst. Dasselbe nochmal, – zwei Engel, die die Frohboitschaft verkünden, doch die Jünger verstehen nicht.
Dann, am nächsten Tag, Emmaus. Zwei Jünger gehen den steinigen Weg. Der Himmel bleiern schwer. Kein Wind. Da und dort vielleicht ein Hahn. Das Blut pocht ihnen in den Schläfen. Sie meinen taub zu sein. Sie reden über seinen Tod am Kreuz, das Unvorstellbare. Dieses Leiden. Das Zerschlagen seiner Lehre, seines Lebens. Die Folter, die Marter. Sie sind alle auf der Flucht, zerstreut. Ein Pogrom. Die Pharisäer des Sanhedrin haben triumphiert. Der Widersacher, der Häretiker, wurde ans Kreuz geschlagen. Er hat für seinen Übermut, seinen Größenwahn, gebüßt. "Wer mich sieht, sieht den Vater." "Ans Kreuz mit ihm!"
Es ist totenstill auf dem Weg nach Emmaus, vierzig Stadien vor Jerusalem. Da holt sie plötzlich einer ein, wie ein Gespenst, – er fliegt geradezu in der Luft. Dann ist er auf ihrer Höhe, ruhig, ohne Anstrengung. Er fragt sie höflich: "Darf ich euch begleiten?" Die Jünger sind erleichtert. Einer, der sie auf andere Gedanken bringt. Einer, der, oh großes Erstaunen, von den Vorfällen in der goldenen Stadt nichts zu wissen scheint! Oh, welch Glücklicher! Oh guter Freund, man hat uns den Messias gestohlen, unseren Meister. Sie haben ihn schmählich getötet, wie einen Verbrecher!
In Emmaus angekommen, tut er so, als wolle er weitergehen. Sie bitten ihn hinein, ins bescheidene Quartier. Dort lassen sie sich zum Abendbrot nieder. Er bricht das Brot und sagt Dank, und da werden ihnen die Augen geöffnet. Tränen treten ihnen in die Augen und sie fallen ihm in den Schoß. "Oh Rabbi!" Immer noch Totenstille. Er ist in seiner Macht. Der Himmel auf Erden. "Kehrt zurück und berichtet den anderen!" Und noch in der selben Stunden kehrten sie zurück. Aber Thomas, den sie immer schon den Eiferer nannten, er glaubt nicht. Er zweifelt.
Was er anzweifelt, läßt sich verstehen. Er meint, es sei Phantasie. Schwachsinn. Hysterie. Wir sind doch alle am Umkippen, sagt er sich. Fehlt nicht viel, und wir alle werden meschugge. Das ist doch alles Unsinn. Sie sollen nicht soviel herumfuchteln. Gleich laufen die Frauen auf die Straße hinaus und werden hysterisch hinausposaunen, unser Meister ist von den Toten auferstanden. Fehlt nicht viel, und die Römer packen uns allesamt am Genick und nageln uns schnurstracks genauso ans Holz. Verdammt will ich sein! Wie Meeresrauschen schwirren die geflüsterten Worte durch den Saal. Nach wie vor pocht allen das Blut schwer durchs Gehirn. Möge doch ein Zeichen geschehen, denkt Petrus. Und allen tropft der Schweiß von der Stirn. Manche hocken sich mit angezogenen Knien an die Wand. Ihnen ist übel. "Das ist das Ende!", denkt einer. "Wir sind von Gott verlassen!" Dann weint er, und andere weinen mit ihm. Er fleint wie ein Kind. Sein Rabbi ist fort, für immer. Seine einzige Hoffnung, die ihm je in seinem Leben begegnet war. Auch die Frauen weinen. Sie trösten sich gegenseitig, ohne Worte. Dann wird es leise. Es wird Abend. Einer hat Brot ergattert und verteilt es. Ein Wasserkrug geht durch die Runde. Dann schlafen sie. Zwei junge halten draußen Wache. Am nächsten Morgen, Petrus hat nicht geschlafen, nimmt er die Frauen ins Gebet. "Was habt ihr wirklich gesehen? Erinnert euch ganz genau!" Er stiert ins Leere. "Rabbi, gib mir ein Zeichen! Wenn du der Messias bist, so gib mir ein Zeichen! Gib uns ein Zeichen! Wenn Du wirklich von den Toten auferstanden bist, so zeige dich uns! Ich bitte Dich!"
Und da tritt er ein, bei verschlossenen Türen. Und alle fallen vor ihm nieder, nur Thomas nicht. "Nun denn, Du, Du da, leg deine Finger in meine Wunden! Selig, die nicht sehen und doch glauben!" Immer noch Totenstille, doch da reißt die Totenglocke auf. Sie sehen ihn in der Morgensonne. Er frühstückt mit ihnen. Er legt nicht den Finger auf die Lippen. "Kinder, nicht durcheinander reden! Einer nach dem anderen!" Nein, das war nicht nötig. Jetzt, als alle versammelt waren, sahen es alle. Er lebt. Welch ein Wunder! Und er wird nie mehr sterben! Wie denn auch? Ha! Aber immer noch verstanden sie nicht. Wie denn auch? Doch er kannte sie.
"Und er erschien ihnen noch mehrmals", lesen wir in der Bibel lapidar, "und er legte ihnen die Schrift aus, vom Beginn an." Die Schrift, die ihn angekündigt hatte. Alleluja.
Mein Heiland
Zeit des Bekenntnisses. Draußen schüttet es in Strömen. Die Regenzeit beginnt heuer zeitig. Damit kommen die Aktivitäten auf der Palmölplantage, diesem gigantischen Verbrechen, zum Erliegen. Für eine Weile. Draußen dräut es dunkel, bleiern. Die Menschen schreiben mir sorgenvolle Briefe. Fast alle kämpfen. Und auch Todesnachrichten sind dabei, fürchterliche. Ich sehe Thomas Bernhard vor mir, seine glasigen Augen. Er weinte, ohne daß es Christa Fleischmann, die Reporterin, die ihn filmte, merkte. Oder merkte sie es doch und hing deshalb an seinen Lippen?
Es regnet, und der Regen nimmt kein Ende. In Kürze wird der Fluß aller Flüsse, die Mutter aller Flüsse, wieder über ihre Ufern treten und ins Hinterland vordringen. Und mit dem Hochwasser gehen die Boas auf Wanderschaft, und wieder wird ein verlassenes Kleinkind in einem unbeobachteten Moment vom Pfahlbau ins Wasser plumpsen, und die Mutter vom Wäschewaschen um die Ecke mit einem Schrei aufschrecken. Und nachts geht die Otorongillo-Horde auf Streifzug, im Schwemmland, wo die Hühner verschreckt im Trockenen hocken, ohne Fluchtmöglichkeit. Und die Zeit wird voranrücken, unaufhaltsam, und das Grauen nimmt kein Ende. Christine Lavant, Ingeborg Bachmann. Elias Canetti.
Und wohin ging Christus? Wo ist er? Wo bist Du, Herr? Ich brauche dich wie einen Bissen Brot, nein, mehr als dein Manna. Ich brauche dein Angesicht, deine Zusprache. Tu uns das nicht an, diese Einsamkeit. Wir alle sterben so gottverlassen einsam und werden daran verrückt. Das Sterben nimmt kein Ende und keiner hat dagegen noch ein Rezept gefunden. Nicht Goethe, nicht Shakespeare, und keiner der Heiligen. Was nützt mir Pater Pio, unverwest. Jetzt haben sie ihn zur Mumie gemacht, mit Phenol, und ausgestellt, in der Vakuumglaskammer, unten in der Krypta von San Giovanni Rotondo. Ekelhaft. Und von Johannes Paul II. haben sie Blut aufbewahrt, auch im Vakuum.
Die Ewigkeit zerreißt mich, und Du, oh Herr, Du bist mir das größte Geheimnis.
Du, oh Herr, warst mein erster Freund, und bist es immer geblieben. Aber auch ich rufe dich an, bitte komm endlich, oh Herr. Bereite diesem Treiben ein Ende. Komm einfach und zeige dich, mitten unter uns oder über uns. Zeige dich, oh Herr. Nimm uns auf zu Dir. Fort von hier. Nimm uns auf in dein Elysium. Es ist genug! Wir alle rufen zu Dir. Komm! Maranatha. Sogar Benedikt XVI., dein Stellvertreter, ruft Dich an. Wir alle rufen Dich an. Auch der Freund aus Argentinien ruft nach Dir. Ich werde nicht auf die Straße hinausgehen und mitmachen, wenn der Irrsinn ausbricht. Und ich werde nicht Hand an mich legen. Ich werde einfach sitzen bleiben, die Hände im Schoß. Ich weiß schon nicht einmal mehr, wie ich meine Liebsten begraben soll. Herr, gib mir die Stärke dazu. Und nicht für mich bete ich, für meine Liebsten. Vater im Himmel, was tust Du uns an, in deiner unermeßlichen Stille?
Ja, Herr, du warst immer mein Freund, schon als Kind. Ich habe dich immer geliebt, auch in der Einsamkeit, wenn ich Tränen vergoß, wenn ich alleine im Bett lag. Was hier geschieht, ist eine Verleugnung, – und eine Zerstörung. Deine Worte, sie machen sie lächerlich.
Du hast uns das Heil gebracht, die Hoffnung. Die Hoffnung auf die Auferstehung. Ich muß das alles erst verdauen. Ich bin ein schwachsinniges Kind, mißraten in Vielem. Ich soll mich nicht verdammen, sagte mir mein Beichtvater. Herr, stärke mich im Glauben. So haben sie zu Dir geredet. „Herr, stärke mich im Glauben an Dich!“ Danke. Es ist so grau draußen, und meine Sorgen sind nicht klein. Ich soll all meine Sorgen auf dich werfen, oh Herr. Das sagte mir ein anderer Herr, auch er dein Diener, und meine Schwester, sie selbst, sie selbst eine Nonne, die eine Tracht trägt. Doch Du weißt nur allzu gut, bei solchen Ratschlägen gibt es auch den Stolz, der dagegen hält. Ich trage es lieber alleine aus, mit mir alleine, so wie Don Camillo, Fernandel. Er hatte dich am Altar, welche Gnade. Also bitte ich Dich: Sprich zu uns. Wenigstens im Traum. Ja, im Traum. Du sandtest mir heute zu Mittag einen Traum. Ich fiel vor Müdigkeit vom Stuhl und mußte mich ins Bett legen. Mein Jüngster gesellte sich zu mir. Dieser Engel, den du mir in diesem Moment schicktest. Und dann träumte ich von unserem Altpfarrer, Erich Dangl, für den ich zu Fronleichnam eine Messe lesen lassen werde. Er stand klar vor mir, unverwest, nicht von der Krankheit verunstaltet. Und ich durfte ihm sagen, er könne „La Madre“ bedenkenlos trinken. Er, eine Seele. Sie wird ihm helfen. Ihm, einer Seele. La Madre. Danke, oh Herr. Danke, Muttergottes.
Reinaldo Comtois
Reinaldo Comtois entstammte einer gutbürgerlichen Familie aus Quebec im französisch sprechenden Landesteil Kanadas, einem Landesteil, in dem die Kälte zumeist über das Jahr hinweg regiert. Sein Vater war Tuchhändler, – nicht Tuchfärber. Er importierte Tücher im großen Stil. Die Familie wohnte im Zentrum Quebecs, in Sichtweite des Schlosses des französischen Vizekönigs. Die Gasse, durch die der junge Reinaldo, jeden Tag zur Schule ging, war die Rueelle des Chevaliers. Das war 1882.
Reinaldo war ein hübsch anzusehendes Kind, kastanienbraunes Haar, ein schlankes, langgezogenes Gesicht, gewelltes Haar, nobel geschwungene Gesichtszüge. Hätte er nicht diese auffällige Schädelform besessen, hätte man ihn auch für ein burschikoses Mädchen halten können. Deshalb, und auch wegen seiner höflichen Manieren, nannten ihn die zwei Schwestern den "Chevalier von Gottes Gnaden". Das schmeichelte dem jungen Reinaldo, der durch und durch friedliebend war. Er war ein verträumtes Kind. Er hatte Visionen, auch bei Tag. Nur allzu oft konnte man ihn beobachten, wie er geistesverloren in die Ahornbäume stierte. Seine Lehrer wußten, dieses Kind war ein Schwärmer und kein zukünftiger Offizier. Der Vater war gutmütig und ließ ihn ungeschoren wachsen. Die Mutter verlor das vierte Kind, ein Mädchen, im zarten Alter, und begann ab da, mit Gott zu hadern. Zeitweise rannen ihr Tränen über die Wangen. Auch das ließ der Vater gelten. Er hatte das stille Wesen seiner großherzigen Gattin immer gemocht. Er wußte, SIE war es, die ihm den Geschäftserfolg bescherte, denn ihr friedliebendes, gottergebenes Naturell war in der Stadt in den Kaffeekränzchen bekannt. Der Vater war gutaussehend, ein Sanguiniker vom Scheitel bis zur Sohle. Er hatte praktisch kein Laster, so hatte es den Anschein, doch die Mutter wußte, die regelmäßig zu Besuch erscheinenden Damen der Gesellschaft kamen nicht nur wegen des Kaffees und der Bäckereien. Die Ehe der beiden war nie gefährdet.
Reinaldo schloß das Lyzeum ordnungsgemäß ab und eröffnete am Tag nach dem Abschluß seinen Eltern den Entschluß, Theologie studieren zu wollen. Das kostete den Vater einen kräftigen Schluck Wein, während die Mutter das Kreuzzeichen schlug. "Ich habe damit gerechnet, Sohn", war seine Antwort. "Du schlägst deiner Mutter nach, und es sei ihr bedankt. Unter deiner Führung wäre unser Geschäft wohl gefährdet gewesen, also werde ich noch auf den passenden Schwiegersohn warten müssen." Er gab ihm den Segen.
Der Sohn beendete seine Studien nach vier Jahren, dann trat er, er war gerade mal 22, in den Orden der Franziskaner ein. Mit 24 empfing er die Priesterweihe, mit 28 schickte ihn der Orden, mit Einwilligung Reinaldos, der in den Augen der gerecht denkenden Fratres eine Imageverbesserung ins Haus gebracht hatte, denn schlußendlich war seine Herkunft stadtbekannt, nach Peru, nach Arequipa. "Von der Kälte in die Wärme", so formulierte der Herr seinen Wunsch, dem man stante pede nachkam. Damals wurde Peru von zahlreichen kanadischen Ordensabkömmlingen besiedelt. Der Orden instruierte ihn über die soziale Situation im Lande, die Probleme der Mestizen und der Indigenen, und dann offerierten sie ihm die Aufgabe, "die Aufgabe der Wundverschließung", wie sie es nannten, jene im Dschungel, denn es war bekannt, "die Gesellschaft Christi", die Jesuiten, hatte 1850 beim Besiedelungsprojekt der 15.000 deutschen Einwanderer am Rio Marañon einen wahrlich schreckenerregenden Blutzoll geleistet, ein Blutzoll, den die Kirche, so der franziskanische Generalobere Lateinamerikas, nicht ungehört "verrinnen" lassen durfte. "Treten Sie den Indios gegenüber, Reinaldo. Rund um Iquitos, soweit wir wissen, gibt es keine Kannibalen mehr."
Ich habe vergessen zu erwähnen, daß es von Seiten des Ordens beim Eintreten Reinaldos in den Orden ein maßgebliches Entgegenkommen an den Mitbruder gab, jenes, wie man sagt, auf Betreiben des Vaters: Man beließ ihm den Taufnamen, und der Vater schickte dem Sohn einen Brief, einen erinnernswerten Brief, mit der bemerkenswerten Zeile: "Wenn Du schon bei den Wilden sterben mußt, so doch wenigstens unter deinem wahren Namen."
Im Jahre 1910, im Geburtsjahr meines Großvaters, kam Reinaldo Comtois 28-jährig nach Tamshiyacu und gründete die lokale Kirche, das bis heute schönste und liebevoll gepflegte Anwesen im Dorf. Damals, 1910, war Tamshiyacu 23 Jahre alt, eine Gründung nobler, wild entschlossener Bauern, unter anderem des Großvaters von Don Agustín, die beim Anblick der hochwassergeschützten relativen Hochlage am rechten Flußufer sofort wußten, nur dieser Ort kann es sein.
Die Siedler hatten eine Madonnen-Statue mitgebracht, die sie verehrten, die "Madonna von Tamshiyacu". Ihr wurde manches Wunder – oder nennen wir es "heilbringende Wendung von Not" – zugeschrieben. Die Gründergeneration waren tief gläubige Menschen.
Nach dem 2.Weltkrieg kamen mexikanische Nonnen nach Peru, und die Fügung des Herrn wollte es, daß eine Handvoll (die genaue Zahl ist unbekannt) von ihnen in Tamshiyacu Land betrat. Auf dem Anwesen der Kirche bauten sie ihr Gebäude. Die Nonnen von Tamshiyacu laufen bis heute wie eifrige Bauerndirnen herum, barfuß in den Sandalen, Rock und Bluse.
Pater Reinaldo Comtois grüdete direkt neben der Kirche die erste Schule Tamshiyacus, "El Colegio Santa María del Amazonía", das CASMA, eine Institution, die heute ein Oberstufenkolleg repräsentativer Qualität darstellt.
Es steht fest, daß der Padre in seinem langjährigen Gottesdienst mehrere Transformationen durchlief. Er lebte mit den Schwestern, des Konvents, so scheint es, in liebevoller Zuneigung.
In der letzten Märzwoche des Jahres 1955, es war Regenzeit, brach Don Reinaldo zu einer Visite der spärlichen Caserios und der indigenen Dörfer an der Quebrada Tamshiyacu auf. Die Quebrada Tamshiyacu führt über 100 Kilometer weit in das Dschungelinnere. Don Reinaldo ruderte im Kanu, sie waren zu zweit. Aus irgend einem Grund trennten sich die beiden Visitanten auf der Reise. Am 28.März 1955 – und so war es – wurden Reste des Leichnams des Paters am Flußufer entdeckt, etwa 100 Meter flußabwärts von jener Stelle, an der das Kanu angebunden war. Die Todesursache blieb unbekannt. Die Reste des Leichnams jenes Sterblichen, der im Leben Reinaldo Comtois war, wurden im Kircheninneren unter einer gravierten Steinplatte begraben.
Bis in das Jahr 1986 hinauf spukte es im CASMA. Der Pater und die Nonnen wurden mehrmals nächtens auf den Gängen der Schule gesichtet. Kindern, die bei nächtlichen Abenteuerstreifzügen das Schulgebäude betraten, stellte es die Haare zu Berge und sie flüchteten schreiend. Ein Priester der Kirchenobrigkeit aus Iquitos versuchte eine Ausräucherung, die erst nach einem zweiten Versuch unter Mithilfe gläubiger Weibleins aus der Bevölkerung Erfolg fruchtete.
Dräuende Wolken, bleierne Stille
Wie oft war ich in Palästina, wie oft vor den Toren Jerusalems, hinauswandernd nach Norden, nach dem Karfreitagsfanal, auf staubiger Straße, alleine, gottverlassen, in Stille. Es war nicht heute und auch nicht damals. Es gab keine Zeit, nur Stille. Es war Traum. Es gab einen Hahn, der krähte, just, als der Feuerball seinen ersten Strahl über den Horizont heraufsandte, ein Gleißen, als könne ein Engel auf dieser Bahn, die geteilt wurde von anderen Fäden, daherreiten, dahergleiten. Ein andermal war es Abend, und mein Blick war leer. Ich glotzte, gottverlassen, zum Denken unfähig, müde im Kopf und in den Beinen, die mir tonnenschwer am Rumpf zu hängen schienen. Diese staubige Landstraße, ohne Bäume.
Heute, in meiner Zelle, ein Gefangener meiner selbst, ein Gefangener meines Lebens, in der Hitze zerfließend, in der Sorge um jeden Atemzug, in der Sorge um all die Unzähligen, die im Sterben liegen, in Angst, unzurechnungsfähig, ich suche einen Ausweg und sehe die Ungeheuerlichkeit des Moments, diese unüberbietbare, diese majestätische Schönheit, die keiner wird je antasten können, die Majestät des Himmels, während sie den Wald niederwalzen, als wäre er nur ein leidiges Hindernis.
Ich sehe meine Vernageltheit. Meine Absurdität ist grenzenlos, zum Haareraufen, zum Nägelbeißen, zum Selbstgespräche Führen. Ein Ausruf unter der Dusche. Das Leiden.
Das schlechte Blut. Die affizierten Organe. Die ungekannten, schlummernden Krankheiten. Gedanken, die sich in besorgniserregender Weise ins Bewußtsein schleichen, als wollten sie mir einflüstern: "Auch dir bleibt es nicht erspart, eines Tages zu beginnen, einmal über die Endlösung nachzusinnen." Solche Sätze sind besorgniserregend. Derweilen hadert mein Mitmensch, und es wird mir Angst und Bang.
Es düngt mich, als stünde ich nach wie vor am blutigen Anfang, wie vor einer Aufgabe, die mir nicht und nimmer aufgehen will. Etwas Unlösbares, dessen Sinn ich nicht erkenne. Ich erkenne nicht, ob ich damit gemeint bin mit dieser Aufgabe, ob jemand mich quälen will, weil er an meinem Gehabe erkannt hat, ich fürchte mich vor dem Leben und vor meiner eigenen Begriffsstutzigkeit, sobald jemand das Wort an mich richtet. Ich mache einen weiten Bogen um all die Quälgeister, und ich weiß, derer gibt es nur allzu viele, so wie es eine gewisse Mutter praktizierte, die ihr Leben im Bett verbringen mußte: Jeder Gedanke wurde ihr schnell zur Qual, und sie fühlte sich von niemandem verstanden, auch und gerade erst recht nicht beim ehelichen Beischlaf. Die menschliche Gemeinschaft war ihr gemein, will heißen, gehässig. Sie fürchtete nichts mehr als den Haß.
Ja, je länger ich innehalte, umso mehr, so düngt es mich, erstarre ich zur Salzsäule. Ich verfalle geradezu in einen Stupor, in eine Lähmung, als müßte ich den Ausbruch des Krieges mitansehen, das Gemetztel der Lieben von Chief Joseph zu Wounded Knee, oder den Countdown der Tsar-Bombe auf Novaja Semlja, und ich gewahre, im Innenblick, Unermeßliches, eine unendliche Gedrängtheit, die in Worte zu fassen mir definitiv unmöglich ist. Ein Kaleidoskop simultanen Lebens.
"Simultan". Ein weiterer Werktitel Ingeborg Bachmanns.
Ich sehe, ich zaudere. Das Zaudern wird zur Koketterie, und dann, schleichend, zur Feigheit. Es verhält sich wie mit dem Erbrechen. Es gab eine Zeit, da war das Erbrechen keinerlei Problem. Zum ersten Mal beim Ringelspiel. Dann, viele Male, beim Autofahren. Die ewige Wiederkehr des Gleichen, wie es mich nur ankotzte. Anders kann ich es wohl nicht nennen. Heute sehe ich, das Erbrechen ist eine Sache der Akribie, und das heißt doch wohl, in der Sprache "La Madres", der Ehrlichkeit. Die Ehrlichkeit ist nicht nur kurz und bündig, sie ist noch mehr: Sie ist ausführlich. Sie grast mein Leben ab, wie ein Robotrasenmäher.
Den definitiven Alternativentwurf auf die Beine zu stellen, jetzt, darauf kommt es an. Durchzuatmen. Dann, dann doch wohl, fällt mir die Angst ab. Der nasse Hosenboden, den ich eine Schulzeit lang am morgens stets fühlte, sobald ich das Schulgebäude betrat.
Das alles sind Denkfallen. Doch ich werde es noch hinkriegen, mir das Denken zum Genuß zu machen. Das alles sagte mir ein Herr, der die Staumauer von Kaprun baute. Und ich vertraue ihm, bis heute, diesem gottgesandten fernen Onkel, Franz Plöchl.