Neues Lernen, Neues lernen
(In memoriam Jean Paul Belmondo, *09.04.1933, + 06.09.2021)
Die Toten kommen mir abhanden. Zurück bleiben jene, die mir wie kopflos erscheinen. Sprachlos sowieso. Ich nähere mich der Resignation. Der Müdigkeit sowieso. Doch dann schon wieder der Moment, wo ich die Kinder sehe, die unverdrossenen, die spielfreudigen, die lachenden. Und ich sehe ein paar Arbeitsame. Nicht viele, aber doch. Meister ihres Faches, so wie Zambo, das Waisenkind, heute Maurermeister, vor einem Monat aus Lima geflüchtet, nach 15 Jahren. Und ich brauche nicht diese unzähligen kriminellen jungen Männer in Lima, diese Räuber und Gemeinschaftszerstörer, denen ich jede Lebensberechtigung abspreche. Und natürlich brauche ich nicht die allgemeinen Untoten, die nicht im Mindesten wissen, was Naturschönheit ist. Nein, das wissen sie nicht, denn die Welt bedeutet ihnen nichts, so wie auch nicht das eigene Leben. Diese LKW-Chauffeure, die volle Urinflaschen beim Fenster hinauswerfen, in voller Fahrt, Reifen abladen, Glasflaschen und Millionen Plastikflaschen. Ich brauche auch nicht die Plastikflaschenerzeuger, diese Verbrecher, gerade nicht die von Coca Cola, die meinen, sie könnten sich in der ganzen Welt breit machen. Wenigstens nicht mehr in Afghanistan. Ich finde, man muß mit den Taliban reden. Ich bin sicher, es würde mir nicht schwer fallen. 1977 war ich in einer Moschee in Adana, etwa gegen 17:15, ein stimmungsvoller Nachmittag. Unvergessen. Die türkischen Männer behandelten mich wie ihresgleichen. Das Innere der Moschee war mir heilig. Heute könnte ich sagen, vielleicht sogar mehr als diese kreuzüberladenen, degoutanten Kirchen allüberall, in denen einem jede Freude (Freude!) abhanden kommt. Ich finde, die Freude ist ein kostbares Gut. Eines, das ich behüten möchte. Je mehr ich über die Freude nachdenke, umso mehr schmerzt es mich, mich an jene Momente (es sind bei weitem nicht alle; ganz und gar nicht!) erinnern zu müssen, als sie uns diese kindliche Freude mit Füssen traten und Angst sich in unserem Empfinden einnistete. Diese Gewalt! Dieses Mörderische. Der Haß. Was sie uns nicht alles als Kinder antaten… Oh weh! Und heute sind sie alle tot, und wir können es nur besser machen. Nach Kräften besser machen. Den Kindern zuliebe, dem Heiligen zuliebe, unserem guten Gewissen zuliebe. Wie also arbeite ich diese Angst ab, die sie mir seit frühen Kindesbeinen an einbläuten? Einbläuten, indem ich einfach nur Gewalt mit ansehen mußte. Dieses Schlagen! Dieses skrupellose Schlagen. Gänzlich vom Teufel besessen. So wie die Wehrmacht in der Ukraine und in Russland. Der Wille zur Vernichtung. Der Haß gegen die Unschuld des Kindseins, der Haß gegen das eigene Alter. Wie lerne ich, dort genau hinzuschauen, ohne daß es mir das Erinnerungsvermögen wie unter Blitzhitze zerrüttet? Ich lerne es, weil ich auf IHN vertraue. ER, und nicht nur ER, läßt mich (neuerdings) verstehen, „Junge, es ist jetzt an der Zeit, klaren Blick walten zu lassen.“ So tönt es neuerdings nachts. „Wir kommen deinem Wunsch nach Klärung nach. Du bist jetzt in dem Alter, wo Du die notgedrungenen Illusionen, die dich ja auch nur am Leben erhalten sollten, fahren lassen kannst. Wir machen Kehraus, heißt, wir schalten jetzt mal einen Gang höher. Auf diesem Gang bleiben wir, wie Du ja weißt. Wir schalten nicht mehr nach unten. Wenn Stau oder eine Bergabsenke kommt, fahren wir langsam, bremsen auch ab, keine Sorge, die Automatik regelt alles von selbst. Du, für deine Seite, Du kümmerst dich um Leichtigkeit, also friß dich nicht voll. Soviel zum Marschgepäck. Wir kümmern uns um dein Bindeglied zur Unendlichkeit. ER kümmert sich auch darum. Er wird es dir beweisen, daß er dich hört. Du bittest, und ER erhört dich. Vielleicht redest Du sogar direkt mit ihm. Sobald dir das gelingt, wirst Du erleben, wie neue Ruhe einkehrt in deinem verängstigten Herzen und gequälten Gehirn. Bedenke, die Toten wollen nur Gutes für dich. Das wollen alle. Im Tod herrscht Friede. Mit dem Bedenken der Toten und dem leisen Reden zu ihnen verhält es sich nicht unähnlich wie mit deinem Beten, das dir doch so sehr am Herzen liegt. Du befandest dich jetzt eine gute Zeit in der Vorschule des Betens, ja, Romano Guardini hatte schon recht, wenn er es so nannte, auch wenn Du dich darüber aufregen zu müssen vermeintest, doch jetzt, wo du vermehrt zur Stille gelangst und über sie auch zur Ruhe findest, kannst Du es dir leisten, die Worte der Menschen stehen zu lassen. Sie sind alle Kinder Gottes, doch manche sind verunstaltet, und manche zerfressen. Wir brauchen das nicht hinwegzureden. Doch Du, Du, Du könntest sie in dein Gebet mit einschließen. Was hältst Du davon? Die Zyklopen und Stiernackigen mit einschließen?! Jene, die nie zu denken gelernt haben. Stimmt dich das nicht nachdenklich? Warum haben sie nie zu denken gelernt? Weil sie sich völlig einsam und verloren fühlen. Sie haben keinerlei Erklärung. Du weißt ja, ein Gutteil von ihnen kennt nicht einmal ihre wahren Väter! Wie also sollen sie Gott kennen, wenn sie vom Leben, von Kindesbeinen an dermaßen betrogen wurden? Du hingegen, Du lebst unter ihnen. Also sein immerzu freundlich mit ihnen. Sei der gute Hirte. Du mußt nicht der Weltenretter sein. Sollte dieser Auftrag dennoch an dich ergehen, kommt eine maßvolle Delegation, in Ayahuasca, selbstverständlich, so wie bei Agustín am anderen Flußufer. Die zwei ägyptischen Barken. Glaubst Du ihm? Siehst Du, langsam findest Du zum Glauben. Siehst Du? Störe dich nicht an deiner eigenen Zerrissenheit. Du bist damit nicht allein. Ihr alle seid zerrissen. Das liegt an der Dauer des Lebens. Die Zerrissenheit ist auch nur eine Schutzmaßnahme, um in der Unendlichkeit nicht verloren zu gehen. Wir bereiten dich vor. Sehen ist wie Sterben, sagte der alte Nagual aus México. Und dem glaubst Du doch, oder?“ „Ja, Mutter, ihm schon! Alles Worte höchster Weisheit!“ „Na siehst Du, also danken wir Gott, dem Herrn.“ „Ja, so wie Saladin, der sich, als er Jerusalem zurückerobert hatte, vor dem großen Vorhang niederwarf, er alleine in der großen Basilika. Lange ist’s her (1187).“ „Lange her, aber niemals vorbei, Junge!“ „Danke, Mutter!“
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Beten in La Madre
La Madre Ayahuasca lehrt unter anderem, wie Vertrauen-wieder-Fassen funktionieren kann. Das war die Lektion des heurigen Jahres, besonders der letzten zwei Monate. Sie lehrte mich in jenen starken Nächten das neuerliche Kind-Sein. Kind-Sein im umfassenden Sinn. Die Einsicht in die Leichtigkeit dieses Sachverhaltes bescherte mir Versöhnung und Ruhe. Frieden, mit einem Wort. Das heurige Jahr zeigte mir buddhistische Grundwahrheiten. Es gewährte mir Einsichten, die ich mit gutem Gewissen als alterslos verstehen kann. Das Beten in Ayahuasca ist eines von mehreren Kriterien, die uns untrüglich erkennen lassen, was fundamental, also existenzstiftend in unserem fortgeschrittenen Leben wirkt. Ayahuasca berührt unser Bindeglied zur Absicht, also jenem Gott, der uns ins Leben rief. Deshalb wirkt La Madre dermaßen fulminant. Sie schleudert uns vom Sessel, läßt uns stöhnen, schreien und erbrechen. Sie zwingt uns auf die Toilette. In diesen einzigartigen Nächten der Reinigung tragen wir maßgeblich zur eigenen Lebensrettung bei. Ayahuasca ist Gottesdienst. Das spüren alle Beteiligten. Nur ein paar Vernagelte fühlen sich bemüßigt, von vergiftungsähnlichen Symptomen zu quasseln. Die überwältigende Mehrheit hingegen gibt sich dem Prozess hin. Diese Menschen wissen in innerster Substanz, dass sich hier und jetzt jedes Urteil erübrigt, ja geradezu verbietet. Es verbietet sich, weil hier und jetzt eine überwältigende Autorität am Wirken ist. Die Autorität, die uns ins Leben gerufen hat. Jene Kraft, die unser Leben in jedem Augenblick, mit jedem Herzschlag, durchströmt und durchlebt. Jene Kraft, in deren Hand wir liegen. Die Quintessenz der Medizin besteht in ihrer Potenz. Sie hievt unser Bewusstsein auf eine nicht alltägliche Ebene. Das Erleben dieser Veränderung ist immer wieder ein Schock. Das Verneinen dieser Veränderung ist der eigentliche Schauplatz des Mordens. Die Instanz, die das erhöhte Bewusstsein verleugnet, dieses Wesen ist das eigentliche Übel, an dem wir, die Menschheit, leiden. Ayahuasca zeigt uns mit absoluter Untrüglichkeit unsere Gefährdetheit auf. Und mit diesem Aufzeigen brüllt etwas in uns los. Diese Momente der Krise können sich zuweilen archaisch ausnehmen, so wie etwa beim Genuß der Medizin der Shipibos oder gewisser Hardliner, wie mein Freund Ron. In solchen Momenten von „Krise“ zu sprechen, ist womöglich eine gewaltige Untertreibung. Wenn Menschen zu rasen beginnen. Menschen. Solche, die ihren Vater baumelnd vorfanden, oder in seinem Blut, mit weggeschossenem Gehirn. Der Jagdhund schleckt bereits voller Trauer das Blut seines Herrn auf. Oder die unzähligen Frauen, die an den Abgrund geführt werden, jenen Abgrund, den sie komplett verdrängen mußten, um mit dem Schock weiterleben zu können. Es brodelt alles hoch, wie kochendes Gift. Das Mich-Erinnern-Müssen quält durch und durch, solange, bis ich mich ergebe. Ich kann der Wahrheit nicht entfliehen. Vieles war unsägliche Dummheit. Das Wort meines Vaters erschallt leise, doch nachhaltig. „All diese Drüsen und Hormone, dagegen ist kein Kraut gewachsen. Keinem bleibt diese Erkenntnis erspart. Und bis dahin: Nur Torheiten. Eine nicht abreißende Kette von unsäglichen Torheiten, sodass sich die Balken biegen.“ Die Fratzen der Gier. Die Fratzen der Wolllust. Staatspräsidenten in Paris auf ihrem Motorroller auf nächtlichem Weg quer durch den Parc de Boulogne Richtung lustvoll wartender Maitresse. Meine Komplexe. Die überbordenden, kaum zu kontrollierenden Gefühle. Bedenkliche Zerrissenheit. Die Kämpfe. Schreien und Flüstern. Hass. Gewalt. Knochenbrechende Gewalt. Gewalt so wie bei Unfällen. Gewalt so wie zuletzt: Ein Erdbeben, eine Minute lang. Ausbrechende Panik um Sechs Uhr früh. Oder der Minibus, der einer jungen Dame links hineinfährt. Sie, die sie in ihrem erotischen Phantasieren die Stop-Tafel mißachtet. „Hätte der Fahrer mir nicht auszuweichen versucht, hätte er mich voll an der Tür erwischt und ich wäre tot. Ich werde nie mehr diese Kreuzung benutzen. Nie mehr!“ Und dann die bleckenden Gesichter. „Impfen ist ein Akt der Nächstenliebe…“ „Ich hege kein Mitleid mit Ungeimpften!“ Die Verlogenheit. „Mutter, wo soll dass alles hinführen? Ich kann bald nicht mehr. Christus, du bist überfällig. Siehst du denn nicht, wie deine Menschheit vor die Hunde geht? Was wartest du noch?“ Das nennen wir Beten. In der zweiten Nacht beginnt La Madre zu sprechen: „Zu kleinkariert, mein Guter“, sagt sie. „Du machst dir keine Vorstellung, was wirklich geschieht, und es ist auch nicht deine Aufgabe. Kümmere dich um deinen Kreis, dein Denken und Handeln, deine Familie, deine Arbeit. Damit bist du bereits zur Genüge ausgelastet. Sei dankbar für alles, auch für die Erkenntnis, wie sie allmählich aufzieht. Ist es nicht so?“ Natürlich ist es so. „Mach dir keine Vorwürfe! Verstehe und erinnere dich. Nimm dich an! Alle Toten, die bereits Gott sehen, sind zurückgekehrt in ihr Kind-Sein.“ Ja, das war La Madre in 2021. Dank sei ihr.
Der Friede des Herrn
In der richtigen Geistesverfassung, die wohl gleichzeitig eine Gemütsverfassung ist (eine Haltung der Geduld und Gelassenheit), vergessen wir – oder etwas in uns – die notorische Selbstverblendung, die uns üblicherweise zu jedem nur denkbaren Unsinn anstachelt. (Natürlich „Unsinn“ auf der Skala der kleinen Hosenmatze, doch immer noch schlimm genug). Die Selbstverblendung ist das schlimmste Übel, sagte bereits ein Herr aus Indien vor über 2.600 Jahren. Sie ist nicht nur ein Übel, sondern eine lebensgefährliche Krankheit. Eine Art Krebsgeschwür, oder nennen wir es vielleicht noch treffender: eine Verstrahlung durch Unsichtbares. Die Selbstverblendung ist ein Strudel, ein Monolog der Selbstergötzung, der Rechthaberei und der Rundumverurteilung von Mitmenschen. Ein Mahlstrom, der uns so leicht verschlingen könnte, schweben wir nicht rechtzeitig empor über der Nebelgischt. Mahlströmen ist elementare Gewalt zu eigen. Eine Gewalt, die das menschliche Naturell sehr schnell zermalmt, treiben wir den Leichtsinn frivol, und eben verblendet, auf die Spitze. Im Amazonas kann man ohne Weiteres schnell ertrinken, wagt man sich zu weit vom Ufer hinaus. Heute – und das schon seit guten 10 Jahren – geht kein Bub mehr im großen Fluss baden. Die Opfer, die der Strom gefordert hat, sind sonder Zahl, aus purem Leichtsinn, weil manch einer vorwitzig meinte, man könne da einfach hineinsteigen, in die Mutter (oder den Vater) aller Flüsse, sozusagen als sakraler Akt. Das ist dasselbe wie all diese unerträglichen proklamierten Phantasien, was passiert, wenn ein Astronaut in ein schwarzes Loch fällt? Das wird nie passieren, doch die hochgepeitschten Schnüffler, denen nichts heilig ist, meinen, sie müssten eben auch diese (berechtigte, wie sie hinaustrompeten) Frage stellen. So wie die Ingenieure in Chernobyl sich fragten, wollen wir einmal austesten, ob unser Sicherheitssystem funktioniert, wenn wir den Reaktor abrupt abstellen; oder die Techniker der US-Marine, die mit ihren Tiefsee-U-Booten tödliche Experimente anstellen. (Vom selben Ungeist waren, wie bekannt, ja auch die Sowjets nicht gefeit, als sie die Besatzung der Kursk in den Tod schickten). Der Leichtsinn, der sich jeden Tag aufs Neue vorsagt, wollen wir heute mal wieder austesten, was alles so geht (auf den Börsen, in den Casinos, im organisierten Verbrechen, im Größenwahn, auf den Kriegsschauplätzen, den Konzentrationslagern und Folterkammern und in der nur mehr pornografischen Selbstdarstellung), dieser Leichtsinn sagt sich ständig vor, ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, denn ich lebe in meiner eigenen Welt. So wie der Oberteufel in Mar-a-Lago, für den die Lüge Wahrheit ist. Die klassische Verkörperung des Antichrist. Lüge und Gift sind mein Lebensatem. Ich gehe über Leichen und schere mich nicht darum. Das also ist schon nicht mehr Krankheit, sondern Perversion. Und wenn ich mich davon fern halten will, brauche ich Geistesgegenwart, und ich brauche Gottvertrauen. Kein Selbstvertrauen ohne Gottvertrauen. Und das bekomme ich nicht einfach geschenkt. Wir werden in jedem Moment attackiert. Der Teufel schläft nicht. Das ist nicht einfach nur dumme Rede. Wir nennen es aus lauter Verlegenheit „dumm“, doch tief drinnen wissen wir, da geht eine Bestie um, der nichts heilig ist, so auch nicht der menschliche Geist. Nicht der menschliche Geist und nicht die Natur mit all ihren Wesen.
In der richtigen Geistesverfassung lasse ich Gott nahe kommen. Das ist sowieso bereits eine Weltrevolution. Eine Welt- und Lebensrevolution wie sie grösser nicht auszudenken ist. Die richtige Geistesverfassung ist ein Geschenk, eine Gnade, erwachsen durch beharrliche Arbeit, Nüchternheit und Genügsamkeit. Sie ist ein Zügelungsakt, ein Beruhigungsakt und danach ein Willensakt der Beibehaltung des Friedens. Der Friede ist eines der höchsten Güter. Das erkennt man sehr schnell. Das Wort Christi nach der Auferstehung spricht für sich. Der Messias, soeben von den Toten auferstanden, erscheint seinen Leuten im Abendmahlssaal, und was sind seine ersten Worte? „Fürchtet euch nicht!“ Dann hauchte er sie an und spricht: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden, der nicht von dieser Welt ist, gebe ich euch.“ Das sind die nuklearen Fusionssätze eines Mannes, der soeben von den Toten auferstanden ist. Damit, so kann getrost festgestellt werden, beginnt die eigentliche Frohbotschaft. Das ist der Ansatz: Furchtlosigkeit. Friede. Gott nicht mehr fürchten. Das ist gleich mal ein Kunststück, doch eines, um das wir nicht herum kommen. Das zeigt sich im Umgang mit der Pflanzenmedizin hautnah. Den Leuten ist glasklar, dass diese Medizin die eigenen Barrikaden niederreißt. Das Lügengebäude wird zerpulvert. Und deshalb der augenblickliche Respekt. Die höhere Macht wird wirksam. Wie das anerkennen? Besser nicht anerkennen, sondern flüchten. Und was dann? Die höhere Macht verschwindet durch Flucht nicht. Was also dann? Sie verschweigen. Wenn ich sie nicht verleugnen kann, so jedenfalls verschweigen. Religion ist Privatsache. Das Seelenheil ist Privatsache. Überhaupt alles ist Privatsache. Meine Mordaktionen sind Privatsache, sagt der Nordkoreaner. Und meine Kriegsverbrechen in der Ukraine auch, sagt der Zar im Kreml. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig. Alles ist Privatsache, Mord und Selbstmord sowieso. Keiner kann mich zwingen, etwas zu glauben oder etwas zu tun, was ich nicht für gut halte. Deshalb halte ich mich fern und lasse die Verblendeten, die Irren und die Fanatiker fuhrwerken. Ich bin mein eigener Gott.
Das ist nicht der Friede. Das ist Agitation, angestrebte Konfrontation. Friede ist etwas Anderes. Friede ist harte Arbeit, hartes Lernen. Friede ist Gerechtigkeit gegenüber allem in der Welt, und so auch mir selbst gegenüber. Das ist qualvoll genug, doch es bringt mir den Frieden. Nicht Müdigkeit und Erschöpfung, sondern Einsicht, tiefe, tiefe Einsicht. Der Friede, wie er durch diese Form geistiger Anstrengung erreicht wird, ist von Gleichmut durchweht. Letztendlich aber ruht er auf einem jenseitigen Fundament. Glücklich der, der es unter sich spürt. Die Rastlosigkeit hat ein Ende. Endlich kann ich wieder schluchzen. Vor Dankbarkeit.
Was sollte ich anders machen? Eine quälende Frage. Warum stelle ich mir diese Frage? Warum kommt sie in mir auf? Die Frage ist mir ja nicht neu. Sie stellt sich regelmäßig ein, wenn ich etwas bereue. Warum bereue ich etwas? Weil es mir eine skandalöse Szene beschert hat und ich meine, es wäre besser gewesen, wenn es anders gelaufen, anders gekommen wäre. Diese Szenen sind mir einfach zu viel. Dieses hemmungslose Auszucken. Die Leute haben einfach keinen Genierer. Sie heulen und schreien und spucken herum. Sie drohen unverhohlen mit Gewalt. Und auf Gewalt antwortet man ja mit Gegengewalt. Das ist historisch humanoides Prinzip. Gewalt verlangt Gegengewalt. Krieg ist Krieg, und zum Glück gibt es Krieg. Dann kann man sich endlich einmal austoben. Ob am Schlachtfeld oder im Konzentrationslager ist egal. Krieg ist die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln. Am Schluß gibt es entweder die bedingungslose Kapitulation, so wie am 11.November 1918 in einem Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne, oder auf der USS Missouri, Kriegsschiff der Amerikaner (Verlierer das japanische Kaiserreich; 2.September 1945), oder einvernehmlichen Waffenstillstand. „Der Dritte Weltkrieg ist bereits seit langem im Gange“, sagt da jedoch, leider, der aktuelle Papst, „er wird nur mit anderen Waffen ausgetragen: mit Versklavung, Entmündigung, Entrechtung und Ausbeutung.“ Gut. Ich sollte also hin und wieder etwas anders machen. Freilich, das Beste wäre es, ich verfiele gar nicht mehr der Reue. Mut zu hemmungslosem Selbstbekenntnis. „Ich tue so, wie ich es tue. Und ich tue etwas, weil ich es tue. Ich bin mein eigener Herr (meine eigene Frau). Und wenn nötig, handhabe ich Rache. Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird. Oder auf langer Strecke. So lange, daß niemand mehr weiß, warum ich gerade dieser Person rettungslos spinnefeind bin. Der Grabenkrieg mag 50 Jahre dauern, was schert mich die Dauer? Meine Rache gibt mir Identität. Sie verleiht mir ein Ziel.“
Was also sollte ich anders machen? Oder vielleicht ist es doch besser, mich zu fragen, warum sollte ich etwas anders machen? Gut, es gibt genug Momente, für die ich mich schäme. Wer auch immer mir diese Schamtendenz eingepflanzt hat, so einfach ist die Scham nicht wegzukriegen. Ich staune ja geradezu über all die Leute, die mit der größten Selbsterhabenheit wie ein Paradepanzer durch den dicksten Schlamassel fuhrwerken, durch Dick und Dünn, wie man so schön sagt, ohne ihre Geschwindigkeit auch nur um einen Hauch abzusenken. Oder wie auf Tian’anmen in Beijing: Wenn jemand auf ihrer Spur liegt, zerquetschen sie ihn einfach. Verwundete oder Flüchtende. So wie in den Tagen nach Hitlers Tod. Immer noch wurde weitergekämpft, vor allem aber weitergemordet. Sogar die Zivilbevölkerung beteiligte sich am allgemeinen Morden (gegen zurückkehrende, ausgemergelte Juden aus Arbeitslagern, so wie in der „Kremser Hasenjagd“ exemplifiziert). Somit die Frage: bin ich ein Mörder? War ich schon einmal im Krieg? Nicht, daß ich wüßte. Oder täusche ich mich da nicht vielleicht? Wie steht es um all die Frauen (Männer) auf meiner Strecke? Das waren ja nicht wenige. Und welche Szenen es da gab! Ach du meine Güte! Polizei auf der Szene. Psychiatrie! Was für ein Gesichtsverlust! Da waren Exotinnen dabei, die gerade aus dem Bürgerkrieg in ihrem Land geflüchtet kamen. Militante Lesbinnen, die mit mir mal eine Ausnahme machten. Militante Abtreiberinnen, für die ein Dutzend keine Schreckenszahl war. Szenen mit Faustwatschen mitten im Schlaf. Suiziddrohungen und Suizidversuche. Welche Nervenstrapaz! Was hätte ich da anders machen können? Glücklich, wer im Brustton eigenmächtiger Sicherheit von sich behaupten kann, er/sie hätte sich das niemals eingehandelt. Szenen einer Ehe. Grün und Blau geschlagen. Wie bei Bergman. Mein Gott, was waren das für Zeiten. Zum Glück lange vorbei. Noch heute aber schlage ich mir zuweilen mit der Faust auf die Stirn, wenn mich die Erinnerung überfällt und neuerlich quälen will. Gegen das Sich-die-Faust-auf-die-Stirn-Schlagen ist wohl keiner gefeit. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Da gab es einmal einen Herrn, der war 58. Auf einer Dienstfahrt in die Tschechei bekannte er, dies ist das erste Mal, daß ich Österreich verlasse. Er hatte zuhause einen Swimmingpool, der war sein Stolz. Das Eigenhaus sowieso. Der Mann hatte keine Kinder, aber eine Frau, die ihn gegen abendliche Übergriffe seines Arbeitgebers (sein Chef ein gottesfürchtiger Franzose, studiert, Zeit kennt er heute nicht, einzelne Konten und realisiert ein punktuelles Verständnisproblem) am Telefon abschirmte („Herr J., alles, was recht ist, aber mein Mann ist um diese Zeit nicht mehr zu sprechen!“), was ihm nur zupaß kam. Mit 60 ging er stolz erhobenen Hauptes mit den Worten: „Ich bin doch nicht blöd und schenke dem Staat auch nur einen Tag meines Lebens!“ in die „wohlverdiente“ Pension. Er hatte es geschafft. Ab da ließ er sich aushalten. Von wem, war ihm egal. Doch der gute Mann, ein angelernter Buchhalter, war und ist nicht allein. Freilich, als eine seiner Mitarbeiterinnen ein Jahr vor der Pensionierung unversehens starb, konnte er nur konsterniert murmeln: „Was für ein Pech DIE hatte.“ Und als ein anderer Kollege, etwa 55, ein Mountainbike-„Aficionado“, bei einer Wochenend-Radtour in seiner Kärntner Heimat ein unbekanntes Virus aufschnappte und nach einigen Tagen in der Klinik zum Entsetzen aller, die ihn kannten, verstarb, konnte auch er nur mehr sprachlos die Augen aufreißen. Einer mehr, der das Wettrennen mit dem Tod verloren hatte. Kein Bundesbahner natürlich. Die gingen auf der „Insel der Seligen“ zuweilen mit 52 in Pension und verblieben 37 Jahre lang in ihr, ganz ungeniert. Bis zum bitteren Tod, den ihnen leider niemand ersparen konnte. Das würde meinem Lehrmeister Agustín ganz und gar nicht in den Sinn kommen. Der ist heute im Neunzigsten. Ein Indio vom Gemüt. Die kennen Pension nicht.
Die Frage nach dem Anders Machen will ich mir nicht aus den Haaren kletzeln. Anders machen (oder noch besser: Nicht tun) fordert mich heraus, eigentlich, wenn ich ehrlich bin, auf Schritt und Tritt. Mein Motokar-Taxler in Iquitos signalisiert mir mitten während der Fahrt, er müsse mal kurz zur Tankstelle. Dort angekommen, greift das Mädel zum Zapfhahn und wirft mir etwas verbal zu. Ich weiß, was sie sagt, doch stelle mich dumm und schwerhörig. Der Taxler untermalt von der anderen Seite mit einer Zwutschkerlgeste, was von mir erwartet wird: „Amigo, ganz kurz mal aussteigen.“ „Wieso?“ „Weil das so Vorschrift ist.“ „Von wem?“ „Vom Gesetz.“ „Wozu dieses Gesetz?“ Ratlose Gesichter. „Amigo, bitte!“ „Amigo, ich habe mit deiner Tussi nichts zu tun. Ich habe eine Fahrt bei dir gebucht, ohne Tankstopp und ohne Belästigung. Oder möchtest du, daß ich meine Botschaft anrufe und ihnen sage, hier wird gerade mitten unter breitem Tageslicht an einer Tankstelle in dieser verdreckten Stadt ein Mordversuch gegen einen amerikanischen Staatsbürger unternommen? So etwas nennt man „Bullying“!“ Darauf das Tankstellenmädel zum Taxler: „Wenn das so ist, kann ich dich nicht bedienen!“ Der Taxler schraubt ohne jede Verstimmung seelenruhig den Tank wieder zu, startet und fährt weiter, bis zum gewünschten Ziel. Natürlich war der Tank nicht leer. Er wollte nur einmal erleben, wie man einen Gringo mit einem peruanischen Narrengesetz, wie es lächerlicher nicht ausfallen könnte, samt vorgeführter Chuzpe manipulieren kann. In Iquitos sind das 3 Tankstellen. Alle anderen haben den Unsinn abgestellt, auch jene Tankstelle in Belén, wo schon mal ein Tankstellenwart erschossen wurde. Somit haben wir alles beisammen. Chaos, Unverfrorenheit und Mordlust. Was also könnte ich lernen? Mich unverfroren mordlüstern ins Chaos dieses Landes zu stürzen? Vielleicht so wie Denzel Washington in „The Equalizer“, der mit einer ganzen russischen Gang in den USA aufräumt, ganz ohne Waffen. „Papi“, kommentiert Salomon, „der Equalizer ist perfekt, das ist seine offensichtliche Kunst. Er kennt absolut keine Angst, hat Augen wie ein Adler, handelt in Sekundenbruchteilen ganz gezielt und kennt die Handgriffe, wie man einem Gangster das Genick bricht. So wirst du wahrscheinlich nie mehr und ich wahrscheinlich auch nicht, weil ich habe keine Lust, in dieses Milieu zu geraten.“ Also stoppen wir das alles.
Aber Hallo! Aber Hallo!
Wieder einmal meldet sich zeitgerecht eine wohlmeinende Stimme. Solange die sich meldet, ist Heil in Sicht. „Schau nur, mein kleiner Hosenmatz, da ist mehr unter deiner Schädeldecke als du selbst es dir ausmalen kannst. Deshalb brauchst du nicht gleich hysterisch aufheulen und gleich wieder alles bagatellisieren oder zerreden oder verwischen. Laß es doch einmal gelten, und als das gelten, was es dir eigentlich zart, aber nachhaltig, klar machen will, die längste Zeit bereits klar machen will, doch du bist ein Meister im Flüchten und Verharmlosen, das weißt du doch selbst, doch irgendwann, gerade jetzt, beispielsweise (beispielsweise!), sind wir des ewigen Herumgemurkses müde und wollen nun doch all diese Attitüden in Pension schicken, jawohl! Ja, welche denn? Na, etwa deine schale Gier, die doch eigentlich schon die längste Zeit nichts mehr zu melden hätte. Doch du erhältst sie künstlich am Leben, flößt ihr löffelweise Vitamine zu, sozusagen als verdientes Kraftelixier über den Tod des Herrn Mateschitz hinaus, so sagtst du dir, der Tod des Herrn Red Bull muß mir doch keine Aufforderung darstellen, meine eigene Praxis, vor allem mein Phantasieleben, unter Kuratell zu stellen. Meine Gedanken sind doch allemal noch frei, bis zuletzt, so sagst du dir zum unendlich wiederholten Male, und du merkst im selben Atemzug, das hat alles keine Kraft mehr, auch deine Gedankengewohnheiten, die erst recht.“ Ja, sage ich mir, der gute Engel hat sehr wohl recht, und ich geniere mich sowieso bereits mehrmals am Tag in Grund und Boden, jedes Mal, wenn ich merke, gerade jetzt könnte ich es besser tun. Sei doch nicht so faul, nicht so träge, und schiebe vor allem nicht deine Müdigkeit bei erstbester Gelegenheit wieder vor, oder noch besser deine faulen Ausreden, du müßtest gediegene Trauerarbeit leisten, und solche wäre nur in Ruhe und im Bett zu bewerkstelligen. Faule Ausreden das alles. Wie also den Schutt über Bord kippen? Indem ich vom Bild lasse und Praxis im Sekundentakt walten lasse. Hat nicht der gute Herr Handke, den Frau Literaturkritikerin als Eigenbrödler zu titulieren pflegte, vom Bildverlust gesprochen? Aus gutem Grund doch wohl! Kann man als Beispiel durchgehen lassen. Laß all die Bilder, all die Phantasien, und ringe dich zur guten gediegenen Praxis durch, in Ameisenschritten, oder, von mir aus, in Zwergenschritten. Machen wir es im Vorwärtsgang oder in unsere menschliche Identität verschleiernden Kreistanzbewegungen, die unser Menschsein im Wüstensand von Arakis (oder Dune) verwischen, sodaß uns die mächtigen Würmer, deren Fleisch aus Spice besteht, ungeschoren dahinziehen lassen, hin zum gesuchten Volk der Fremen, auf daß wir mit ihnen wohlverdiente, gerechte, geradezu himmlische Rache schmieden und den bekannten Kosmos des Imperators Shaddam IV. (Christopher Walken; Heil diesem Charakter!) befrieden werden, ein für alle Mal. Wir haben noch viel vor uns, und, seien wir ehrlich, wir wollen es vor uns haben. Und dafür müssen wir halt doch etwas tun, so wie der unanzweifelbare Großmeister und Freund Antonio Stummer, der sich in Wien einer Diät unterzieht und dafür Seelenqualen besonderer Art in Kauf nimmt. Dessen Qualen, das Ausmisten aller Illusionen, sind aussagekräftig. Da haben wir es mit der Figur Christi zu tun, sagt mir Freund Toni, das ist nicht neutral, und wir dürfen oder müssen doch einmal radikal und nüchtern fragen, warum ist er gestorben, und wer kann oder soll oder muß diese Aussage, er ist für uns, für mich gestorben, hinnehmen? Wieso mich vor dem Kruzifix hinwerfen? Das ist etwas verwickelt und irreführend und überhaupt, wer kann heute noch Verbindliches, gar Religiöses, in die Welt hinaussetzen? Heute, in diesen Kriegs- und sonstigen Irrezeiten, wo ich von Katastrophen im 360°-Umkreis gequält werde, sobald ich online gehe. Ist das nicht Satan? Ja, sagt Doktor Katterle aus Nürnberg, der christliche Leidensmann. Das ist Satan, der Endkampf. Der endgültige, unumkehrbare Endkampf unter der Lüge alles erfassender Freiheit. Die Ausrottung der Familie mit allen Mitteln. Kinder aus Fabriken. Liebe nach Belieben. Geschlecht ist relativ. Geschlecht ist eine Zumutung. Gebären Müssen ist eine Zumutung. Ja, das ist Ostern. Das erst recht ist Ostern. Ostern 2023. Die historische Kulmination. Schlimm. Wo ist Hilfe? Schlimm genug, daß ich hier und jetzt so schreibe, schreiben muß! Sagen wir also: Im Guten. So wie in Brigitta, die mich gerade in diesem Moment anruft, um mir Frohe Ostern zu wünschen. Sie, die unter permanenten Schmerzen leidet. Wir müssen was tun. Also tun wir das Richtige!