Ab fünf Uhr morgens, sobald der Dieselgenerator wieder seine Arbeit aufnimmt, höre ich vor der Haustür den Besen fegen, pünktlich, ruhig und gleichmäßig, und ich denke wieder, „Sie ist es. Bewundernswert, wie sie es schafft, so unverdrossen zu ticken.“ Norma ist 31 und Mutter von zwei Kindern. Sie lebt ohne Mann, schon seit Jahren, unten am Ende der Calle Amazonas, dort wo die Vergessenen hausen und ihre eigene Gemeinschaft formen, im Dunstkreis der kleinen Quebrada Miraflores. Seit Josué Buergermeister geworden ist, kehrt sie die Gonzales Prada. Josué hält etwas auf Sauberkeit, und das hat einigen Frauen Arbeit eingebracht. Norma kämpft um jeden Groschen, doch sie kommt durch. Ihr Leben ist karg. Ich war nie in ihrem Haus, es wäre vielleicht bedrückend. Ich weiß nicht, wie sie mit den Kindern lebt und wer sie besucht. Doch tagsüber, hier heroben, in der Straße der Bürgermeister und Lehrer, in der Straße der Privilegierten, sitzt sie mal bei diesem und mal bei jenem. Sie ist wohlgelitten, erst recht, seit sie ruhig geworden ist. Heute spielt sie nicht mehr Fußball, zumindest nicht mehr aktiv. Vor ein paar Jahren noch war sie die wieselflinke Stürmerin der „Otorongillas“ und schoß in jedem Match ihre Tore, meist mit dem Spitz. Sie war wirklich wieselflink und war die beste Dribblerin. Doch ihre Stunde kam, als sie unmittelbar vor dem Halbzeitpfiff zu Unrecht vom Schiri verwarnt wurde. Er pfiff zur Pause und sie ging zu ihm hin, um ihm die Meinung zu sagen. Da zeigte er ihr die Rote. Mehr brauchte es nicht. Obwohl um einen Kopf kleiner, verpaßte sie ihm eine Faustwatsche. Das brachte ihr nach einem entwürdigenden Polizeiverhör – denn der Schiri fühlte sich natürlich verletzt – eine Sperre auf 2 Jahre ein, die wir dann, als die Saison sowieso schon wieder eingeschlafen war, auf ein halbes Jahr verkürzten. Im Land der freigekauften Drogenbosse und Auftragskiller muß so etwas eine Lappalie sein.
Norma hat ihr Wesen bewahrt. Sie redet nicht laut, immer diskret, und blickt einen sehnsüchtig, doch ohne Hoffnung an. Die Frauen der Straße verstehen sie gut. Seit sie die Arbeit hat, braucht sie nicht mehr um Arbeit bitten. Doch war sie sich nie zu schade dafuer. Norma hat nie geraucht, nie über die Straenge geschlagen. Sie lebte nie auf der Straße, aber ihre Existenz war wirklich karg. Manchmal nicht einmal Fische im Topf, nur Kochbananen, das Brennholz dazu selbst geschlagen. Sie ginge auch im Wald arbeiten. Die Frauen, die alleine in ihren Stiefeln in den Wald gehen, sind an einer Hand abzuzählen. Die, die keine Angst vor den Waldgeistern und den Tieren haben, trotz Machete, sie fürchten die Übergriffe durch schamlose Maenner, vor allem, wenn diese zu zweit sind. Norma ging auch alleine nach Otorongo, ich erinnere mich, es war Arbeit für eine Woche.
Noch heute frage ich mich, wie machen sie es mit ihren Kindern, die sie oft eine ganze Woche alleine lassen? Die Antwort ist sichtbar: Ein Verband von Frauen kümmert sich um die Bengel, und die sind glücklich. Ein Wochenkindergarten. Norma hat schmachtende Augen, und doch erwartet sie nichts. Sie wird ihr Leben fristen, selbst wenn wir wieder in dunkle Zeiten zurückfallen sollten. Wer Strassen fegt, Müll entsorgt, Klosetts putzt, Alte säubert, der hat die Welt gesehen. Diesen Beitrag war ich dir schuldig, Norma, heute, zum Sonntag, weil du mich erinnert hast, heute um Fünf.
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Norma wieder bei der Arbeit
Grad vorhin sah ich sie wieder bei der Arbeit, meine untersetzte Pumpernickel-Norma, oben am Hauptplatz. Sie fegt wie eh und je, herzhaft, mit ihrem Keppi, das sie schon seit 20 Jahren trägt, in ihrer kurzen Arbeitshose und der blau-weißen Arbeitsweste. Das Kehren geht ihr leicht von der Hand. Es ist sofort ersichtlich, hier ist eine Profikehrerin und keine jüngst Angelernte am Werk. Sie hat den Blick für den Müll, den versteckten wie den offenkundigen. Sie kehrt strategisch. Sie tritt nicht selbst in den Müll wie manche andere. Ihre Arbeitsmut leuchtet von weitem. Sie grüßt entspannt. Ihr Eifer adelt sie. Sie spürt klar, daß ich es spüre. Und sie weiß, daß ich auch das weiß, und sie lächelt ganz entspannt beim Gruß.
Norma war, wie bereits früher gesagt, die Starstümerin meiner „Otorongillas“, dem Schrecken des lokalen Frauenfußballs. Sie dribbelte gekonnt und schoß mit dem Spitz, plaziert. Tor. Dann kam die Faustwatsche gegen den Schiri, eine berechtigte, und die Gefängniszelle (wie entwürdigend), aber wir ließen Argumente sprechen, die die Polizei überzeugten. Josue, der Obergauner, ist wieder Bürgermeister (auch er ließ am Wahltag Argumente sprechen), und er weiß wenigstens, was er all die Jahre an Norma verloren hat, nämlich ein sauberes Dorf, bewohnt von Landsleuten, denen Müll vollkommen, aber auch wirklich vollkommen egal ist, so wie ihnen auch Lärm und Benzindämpfe vollkommen egal sind. Ein Tropfen auf dem heißen Stein. Eine Alibihandlung mit dem Besen, doch mit Herz, Penibilität und Sachverstand ausgeführt. Und das, die arbeitende Norma wahrzunehmen, läßt diesen Tropfen der Arbeitshingabe hineinfallen in den nicht aufhellbaren Wahrnehmungskanal dieses apathischen, für Terrorbewegungen anfälligen Volkes. Ein Tropfen gelebten Glaubens in persönliche Arbeit. Arbeit, nicht Diebstahl.
Norma ist eine von uns. Sie hat mildtätige Augen, ein Vorbild an Mildtätigkeit, und eine sanfte Stimme, der man gerne zuhört. In ihrem Gesicht ist abzulesen: „Ich will arbeiten und meinen Lebensunterhalt verdienen um jeden Preis. Keine Arbeit ist mir zu schade.“ Sie ist jetzt am Hauptplatz eingesetzt, das will heißen, am wichtigsten Ort. Mit ihr vor dem Gemeindeamt kann nichts schief gehen. Josue weiß, Norma ist eine „Einserbank“, er braucht sie nicht zu kontrollieren. Sie ist die klassische Selbstläuferin, der menschliche Putzroboter, der indirekt sogar Werbung für ihn betreibt. Wir behalten diese bekömmliche Dame weiterhin im Auge und berichten, sobald es Nennenswertes von ihr zu erzählen gibt.
Sprüche, Knoten, Schwerter
Vor ein paar Tagen saß Norma jüngst im Morgenboot, jenem Boot („B&R“ oder „Vero“), das um Punkt Sechs vom Puerto Ramplas in Tamshiyacu ablegt. Das Morgenboot ist immer voll, weil es vielen Besorgern ein fixes Zeitgerüst für Hin- und Rückfahrt anbietet und man somit innerhalb eines halben Tages, wenn alles glatt läuft, seine Besorgungen erledigen kann. Wie auch immer, Norma saß vorne am ersten Sitz, flußseitig, und schlummerte nach unserer aufgeräumten Begrüßung gleich wieder ungezwungen weiter dahin. Sie hatte spürbar ihre ideale Lümmelposition gefunden, und die behielt sie die gesamte Fahrt über bei. Sogar ihren linken Ellbogen behielt sie aufgestützt. Das einzige, was sich an ihr bewegte, waren zeitweise die Augenlider, wenn sie die Augen doch aufschlug, und ihr Mund, aus dem aufgeweckte, weise Worte sprudelten. Norma war geistig hellwach, doch körperlich komplett entspannt. Lange schon hatte ich ein solches Bild fraulicher Anmut nicht mehr gesehen. Sie nahm mir jeden Anflug überzogener Agitation. Auf unleugbar willkommene Weise entspannte ich mich neben ihr unmittelbar nach dem Mich-Niederlassen, und startete eine behutsame, herzensoffene Konversation. In deren Verlauf kamen ein paar Sätze daher, von denen ich wußte, hier spricht eine Frau, die direkt vom Heiligen Geist berührt wird. Es war warmes Gemurmel, doch klar formuliert:
„Doktor, ein paar Frauen von unserer Fußballequipe leben nicht mehr. Klingt furchtbar, ist aber so. Du weißt nie, was bei Einzelnen so passiert. Manche trinken sich zu Tode, manche werden von ihrem Mann im Streit umgebracht, und manche bringen sich selbst um. Und bei manchen schlägt der Blitz ein. Frag Irene. Sie wird dir ein Lied davon singen. Doch Irene ist verschwiegen. Ist dir das schon aufgefallen? Die Irene jedenfalls kennt als Oberschwester jeden Patienten im Dorf. Glaub mir. Die „Otorongillas“ werden nie mehr wieder zusammenfinden. Schade.“
„Ja, wirklich schade, Norma.“
„Ja, wirklich schade. Deshalb mußt du uns ein Denkmal setzen. Ein Denkmal für die Toten. Die toten Frauen.“
„Du jedenfalls bist nicht tot, und ich will auch nicht, daß du stirbst, Norma.“
„Ist mir schon klar, Doktor. Du bist halt ein unverbesserlicher Romantiker, trotz deiner Frau. Kaum redet eine Andere warm mit dir, machst du dir schon Hoffnungen. Ist es nicht so? Sei ehrlich: Ist es nicht so?“ Ich grinse ansatzweise, doch sie nimmt es schon nicht mehr wahr. Sie träumt wie eine hellsichtige Göttin dahin. „Doch ich kann dich vertrösten, Doktor. Bei den Frauen ist es nicht anders.“ Normas Worte berühren mich in angenehmster Weise zwingend. Endlich mal in konstruktives, entspanntes Gespräch, und das noch dazu ungeplant. „Um die Toten ist ewig schad. Zum Glück sterben die Eltern vor den Kindern. Normalerweise.“
„Sind Männer wichtig, Norma?“
„Na freilich. Für jede Frau. Ehrenmänner! Nicht die Hunde, wie sie hier herumlaufen. Deswegen sind wir so arm dran. Armes Volk, ohne jedes Vertrauen.“ Den Rest der Fahrt über entschlummert mir Norma wie eine Schlafkünstlerin. Im bereits geschäftigen Puerto Láo werden wir getrennt, so als wären wir wie alle anderen, Passagiere und Hafenarbeiter, schemenhafte Erscheinungen. Das verstärkt in mir den Eindruck, Norma wurde mir gerade von einem Engel geschickt. Ich habe die gestrige Nacht vor Heiligabend somit dafür verwendet, Normas Aufforderung zu gehorchen und Besinnung zu üben. Die Frauen, Patientinnen, standen der Reihe nach auf und begannen zu reden.
„Herr H., ich war gerade in ihrer Turmkapelle oder wie Sie das nennen, unter dem Kegeldach Ihres Tempels. Gott hat zu mir gesprochen. Er sagte, ich solle Ihnen 200,- Euro spenden. Sie sind ein armer Schlucker und können jede Unterstützung gebrauchen. Da staunen Sie, was? Eine Rocksängerin, die man in Ihrer Anwesenheit schon als „netten Fickschlitten“ bezeichnet hat, macht Ihnen dieses Geschenk. Das hätten Sie nicht erwartet, oder? Ich auch nicht, möchte ich Ihnen ehrlich sagen. Aber da Gott klar geredet hat, kann ich nicht widersprechen, und es fällt mir auch leicht. Ich habe die zwei Scheine schon geholt. Da, nehmen Sie.“ (A.L., Berlin)
„Herr H., bitte verpassen Sie mir die Euthanasie oder hacken Sie mir den Kopf ab, wenn ich schlafe. Ich halte diese Schmerzen nicht mehr aus.“ (I.K., Hamburg)
„Merk dir eins, Wolfgang: Wenn du zurückkommst, bin ich schon längst da. Du bist der Hase, ich der Igel. Ich habe einen dicken Arsch, doch ich bin schneller als du. Du Hase bildest dir etwas ein auf dein Fell, doch paß auf, daß du dir nicht die Lunge aus dem Leib hustest.“ (D.V., Chile)
„Ich habe eine glückliche Zeit hier verbracht, lieber Herr H. Die glücklichste Zeit meines Lebens. Beobachten Sie doch nur meinen Mann, der mich Abholen gekommen ist. Er kann es gar nicht glauben, wie ich ausschaue. Ist es nicht so? Er meinte, ich müßte bereits auf dem Sterbebett liegen, so wie es die Ärzte prophezeit haben. Er weiß nicht, was hier in der Zwischenzeit vorgefallen ist. Er würde es mir auch gar nicht glauben. Er weiß nicht, was ich alles hier gedacht habe. Mein Mann ist ein Hasenfuß, wie die meisten Männer. Er weiß nicht, was ich wirklich für meine Mutter empfinde. Darauf hat er noch nie einen Gedanken verschwendet, doch ich sehe es ihm nach. Ich weiß jedenfalls ohne den geringsten Zweifel, daß es meine Pflicht ist, meine Mutter zu pflegen, bis sie gegangen ist. Ich kann nicht vor ihr gehen.“ (I.H., Knittelfeld. Sie lebte noch vier Jahre lang, ohne Beschwerden)
„Wolfgang, ich hasse Dich. Du bist ein Mörder und Verbrecher!“ (D.R., Iquitos)
„Schon wieder schwanger! Schon wieder ein Baumpatetsch, der sich bei mir einnisten will. Nichts wie weg mit ihm!“ (B.K., Wien)
„Herr Kollege, Sie wollen mich provozieren. Das kann ich nicht rückgängig machen. Zum Glück sehe wir uns nicht mehr wieder. Sie sind wirklich brutal, muß ich schon sagen. Offenkundig trauen Sie mir zu, daß ich Sie aushalte, Sie Frechdachs.“ (Dr.T.P., Hannover)
„Wolfgang, eine typische Wiener Frau braucht drei Männer: Einen Studenten für Schön Sprechen. Einen Beleibten mit Brieftasche für Ausgehen, also Oper und Feste. Und einen Hengst, der nur an Sex denkt, für die Nacht. Der kann auch häßlich sein, denn sie sieht ihn ohnehin nur bei Nacht, wo es finster ist. Natürlich bedient die Wienerin auch den Studenten und den Herrn Kavalier, aber nicht bei Nacht, sondern fließend bei passender Gelegenheit. Ich kenne mehrere dieser Frauen hier.“ (L.K., Novi Sad)
„Ich bin zum Islam konvertiert, Herr H. Das Christentum hat in meinen Augen ausgespielt. Ich habe in meinem Leben keinen einzigen Wiener getroffen, der es in puncto Kultur, Eleganz und Auftreten mit meinem Mann aufnehmen könnte. Er ist Bosnier, doch schon lange eingebürgert. Mein Mann hält den Ramadan penibel ein.“ (Wien, 1985)
„Bruli, du hältst dem Buddhismus die Stange? Ich hingegen bin überzeugte Christin. Gott hat ein Gesicht. Deswegen bin ich Christin, froh und dankbar.“ (T.B.v.K., 2012. Die Dame ist zum Glück noch am Leben)
„Was weiblicher Orgasmus ist und was das soll, habe ich nie erlebt und erfahren.“ (C.Ch., Leuuven)
„Wolfgang, du blindes Huhn. Du weißt ja gar nicht, wie blind du bist. Doch seltsam, in deiner Gegenwart werde ich zur Seherin. Ich bin ziemlich mies, darf ich dich nur aufklären. Meine Freundinnen glauben alle, ich bin eine kreuzbrave Lehrerin, doch dem ist nicht so. Durch deine Art habe ich erkannt, in welcher Illusion ich lebe, doch ich werde mich deshalb nicht umbringen, obwohl ich bereits einmal, ein einziges Mal, daran gedacht habe, aus purer Frivolität. Ich weiß, du neigst wie jeder Mann zur Untreue. Wenn nicht jetzt, so später. Glaub mir. Treue kann es gar nicht geben. Deswegen besser rechtzeitig Schluß Machen. Diese Schmerzen will ich mir ersparen. Das würde mich umbringen. Ich weiß es.“ (L.B., Røyken, 1985)
„Mütter leiden mit ihren Söhnen, Wolfgang. Ich habe mich mit den falschen Männern eingelassen, und jetzt muß ich es schon seit Jahren mit meinem zweiten Sohn Manfred ausbaden. Er lebt in der Klinik. Und leider gibt es eine Erblinie von Seiten meines Vaters, die sich weder meine Mutter noch meine Brüder, die alle in Mitleidenschaft gezogen sind, ausdenken hätten können.“ (R.S., Linz)
„Mein Bruder hat sich umgebracht, Wolfgang. Aus Überdruß, stell dir vor. Kannst du mir das erklären? Wie kann ein Mensch so einfach sein Leben wegwerfen? Er war nie in Behandlung und wirkte auch nie so.“ (G.S., Unterweißenbach, 1979)
„Darf ich Sie aufklären, Dr.H.? Für Frauen existiert Haß nicht. Eine Frau handelt kalt, und damit basta. So wie jene Mütter, die ihre Familie vergiften.“ (Ch.R.)
„Lieber Dr.H., es genügt, daß ich ein Mal hier war. Sie wissen sowieso schon zuviel von mir.“ (Eine Kollegin)
„Wolfgang, ich versichere dir: Niemand, der nicht hier war, wird jemals glauben, was ich hier erlebt habe. Das hier schlägt dem Faß den Boden aus. In Yushintaita drüben, bei Don Agustin, wähnst du dich im sprichwörtlichen Irrenhaus. Ein unkalkulierbarer Irrer. Doch hier erlebt man den Schock seines Lebens. Wolfgang, bist du vielleicht ein Teufel? Mit Teufeln schlafe ich jedenfalls nicht, nur damit du es weißt. Eine Zeremonie mit dir allein zur Not vielleicht ja, aber mehr auch nicht. Du wirst nicht erwarten können, daß ich mich so wie die M. vor deinen Augen nackt ausziehe und mitten in der Ayahuascazeremonie nackt vor deinen Augen herumhüpfe. Außerdem weiß ich schon längst, daß du kein Mann bist. So, jetzt ist es heraus.“ (B.St., Altnagelberg)
„Lieber Herr H., selbst wenn ich eines Tages nicht mehr bin, richten Sie mir bitte diese Hängematte hier im Eck. Und wenn Sie in der Heimat Blunzgröstl mit Sauerkraut und Bratkartoffeln vertilgen, denken Sie an mich. Ich werde Sie nie vergessen und Sie mich hoffentlich auch nicht. Nicht auf den Pilgerwegen im Diesseits und im Jenseits. Seien Sie froh, daß ich Ihnen nichts erzählt habe von den Martern, die man mir angetan hat. Sie waren auch keine Neugierdsnase und haben nie gefragt. Hätte ich Sie mit 20 kennengelernt, wäre mir das jedenfalls nicht passiert. Sie hätten mich auf Händen getragen. Das ist wohl klar. Vielleicht treffen wir uns irgendwann wieder. Dann machen wir es besser.“ (L.Sch., Hamburg)
„Wolfi, du brauchst nicht für mich beten. Keine Sorge. Ich weiß, du sorgst dich auch nicht um mich. Wenn ich sterbe, komme ich zum Vater, und dann verstehe ich alles.“ (A.P.H., Mont St.Michel, Jahr unbekannt)
Eine, die etwas zu sagen hat
Norma erwartet vom Leben wenig. Sie weiß, es gibt ein paar Leute, die sie mögen, darunter zähle auch ich. Sie weiß, ich entspanne mich in ihrer Gegenwart, wohl wissend, sie wird keine Attacke reiten. Norma weiß, daß die Leute ihres Freundeskreises um ihr ausgeglichenes Gemüt wissen, und dabei beläßt sie es, ganz entspannt und immer mit ruhiger Stimme. Das läßt sie auch in der Früh unbeschwert aufstehen und ihrer Reinigungstätigkeit nachgehen. Irgendwann bekommt Norma bei mir noch einen Dauerposten und einen eigenen Bungalow in Otorongo, den sie jederzeit beziehen kann, sozusagen eine symbolische Geste für das Wohlwollen, das sie mir alleine bereits mit ihrem Augenaufschlag und der stets samtenen, ruhigen Stimme all die Jahre über entgegenbringt. Norma, die Genügsame.
Eine Frau wie Norma hat Seltenheitswert. Sie raucht nicht und ist in keinerlei Streitfälle verwickelt. Bier trinkt sie in Maßen. Ob sie noch weiß, wie ein Mann aussieht, entzieht sich meiner Kenntnis. Männer sind jedenfalls kein Thema in ihrem Leben. Kein Thema (ganz und gar nicht), wenn ich alleine bedenke, daß man Norma nie mit dem Kasterl am Ohr antrifft. Norma zeigt nie und nimmer auch nur irgend eine Variation dieses Narrenkasterls vor. Sie hat keine Notanrufe zu tätigen. Wahrscheinlich weiß sie auch gar nicht, was das Netz ist. Und noch ein Detail: Norma ist nicht verschuldet. Sie haushaltet eisern. Die eisernen Haushalterinnen sind allesamt unsere Vorzeigefrauen im Dorf. Norma geht nicht anschaffen. Nie und nimmer würde sie das tun. Sie bleibt bei ihrem Leisten. Wenn sie so am Morgen auf der Straße kehrt, wird sie von keiner einzigen der ambitionierten, überdrehten Gringofrauen aus dem Dunstkreis von Herrn Rívas, die vielleicht etwas am Markt oder in einem Kiosk zu erledigen haben, eines Blickes gewürdigt. Das still-stumme Zusammenprallen von weißhäutigen Macherinnen, die sich alle im Besitz des unantastbaren schamanistischen Superhexentums wähnen, und der devoten Straßenkehrerin kann krasser nicht ausfallen. Norma wird demgemäß nicht des kleinsten Blickes gewürdigt. Es ist immer wieder beschämend. Norma lebt nicht in der Welt der klingenden Schamanen-Münze, wo 100-Euro-Scheine in wohlgezählten Paketen den Besitzer wechseln und Konsument wie Dienstleister sich ihren Teil des gierigen Zuschnappens denken. Norma lebt in der Welt der in der Verlängerung der Gonzales Prada aufgehenden Frühmorgensonne, die ihren wohlkontuerierten Straßenkehrerinnen-Schatten auf fünf Meter verlängert. Norma lebt in der Welt des Zen und der präzisen, perfekten Koinzidenz, wenn der Herr mit Tragkorb und Stiefeln aus seiner Haustür stürmt. Norma weiß, heute gibt es zur Feier des Tages ein halbes Huhn vom Markt. Sie sagt nicht Nein. Sie weiß, sie hat meine Gunst, und allein das zählt. Daß meine Gattin, ohne im Bett auch nur ein verschlafenes Lid zu heben, weiß, daß sie es ist, die da vor unserer Haustür kehrt, daß weiß Norma ihrerseits sowieso. Norma ist mein Mentat. Die Korrespondenz zwischen den wahren Mentatinnen des Dorfes erfolgt gewöhnlich im Stil der Transkription: Die eine schläft in einem Bett (ob fremd oder eigenem ist egal), die andere kehrt rhythmisch, die dritte schläft wie tot im Schaukelstuhl und zeigt dabei ohne Anflug von Scheu ihrere abgearbeiteten O-Beine. Das sind die eigentlichen Triaden, die das spirituelle Leben des Dorfes im Griff halten. Nicht die Machenschaften dieser lachhaften Halunken, die vorgeben, die Mutter, die sie ab und zu trinken, zu dominieren und Gringofrauen im Dutzend innert eines Jahres für 20.000,- Euro zu Meisterschamaninnen heranzüchten zu können, und die sich dann schlußendlich, als es sich irgendwo in einem Winkel zu spießen oder gar zu brennen beginnt, ja ohnehin nicht zeigen und nirgendwo Halt machen wollen, weil sie das schlechte Gewissen aber nur so was von plagt, dieses schlechte, stinkende Pseudogewissen, weil diese Herren sehr wohl wissen, sie haben Dreck am Stecken, aber Norma, die neben einem blühenden Strauch auf offener Morgenszene wie in einem Stillgemälde parkt, und wie sie sich so auf ihrem Besen in einem Ruhemoment abstützt, von einer eklatanten Vision überfallen wird, diese meine Norma nehmen diese im Allradtraktor und auf Yamaha-Maschine mit offen wehendem Hemd vorbeiröhrenden Allzweckmachos nicht wahr, genauso wenig wie es die glücklich gurrende Gringofrau am Sozius tut, die sich gerade überlegt, lege ich jetzt meinen Arm um den Bauch oder an die Hüfte von Don Gonzago oder Don Faustino, und im nächsten Moment checken sie kurz ab, habe ich heute schon die Pille genommen oder nicht? Derweilen verharrt Norma noch immer an ihrem Kehrbesen, hält ihn mit beiden Armen umschlungen, auf daß sie nicht niederfalle, und das Licht, das sie umflutet, wird zu ewigem Gold. Die Heilige von Krakau.
Und daraufhin spricht eine der anderen Frauen, Freundin der Heiligen seit immer, ein Machtwort: „Das Gericht, das kommen wird und jeden ereilt, nimmt nicht Rücksicht, wer einer im Leben war. Du aber, bitte, sei immer freundlich zu Norma, und sollte sie dich eines Tages um Arbeit bitten, gib sie ihr augenblicklich!“