Der größte Feind ist doch wohl unsichtbar. Was könnte ich anderes sagen in dieser Kriegspause zu Stephani? Die Geschwindigkeit, mit der das Übel mit mir durchgeht, ist wahrlich phänomenal. Ein Glück, daß meine Zunge neuerdings in einem Eisengeschirr hängt, in einem Zwinger, aus dem sie nicht auskommt. Wäre nicht der Zwinger, welches Gift hätte ich bereits umhergespritzt, wie eine Spei-Kobra, die direkt auf die Augen zielt? Und ist nicht die Zunge das schlimmste Organ des Menschen? Wehe dem, der ins Sperrfeuer einer Haßtirade gerät! Erinnern Sie sich doch, werte Leserinnen und Leser, wie es das letzte Mal war. Geraten wir nicht mit wahrhaft erstaunlicher Geschwindigkeit an den Rand von Mord und Totschlag, wo wir alles, aber auch wirklich alles, vergessen, als erstes unsere heiligen Prinzipien? Und jemand, zumeist eine gepeinigte Frau, schleudert uns noch Aussprüche etwa dergestalt dazu an den Kopf: „Jetzt erkenne ich dein wahres Gesicht, du Teufel! Du bist ein Meuchelmörder!“ Aber warum gerad ein Teufel? Eine Bestie genügt doch. Doch selbst Bestien werden krank, wie die Löwen im Zoo, und Löwen sind wirkliche Bestien. Die schlimmsten Katzen. Die Naturfilmer verschließen davor nur die Augen, und der Rest, der erschreckende, geschieht in der Dunkelheit der Nacht, dann, wenn die Männer sich gegenseitig zerfleischen und die Hyänen sich über die Kadaver hermachen. Aber im Tierreich reden wir nicht von Teufeln, obwohl bei den Insekten – und welches Volk ist mächtiger und zahlreicher als die Insekten – der Kannibalismus zu regieren scheint. Welches andere Gesicht sollte der Teufel tragen als ein Menschenantlitz? Ein entstelltes Menschenantlitz. Was soll der Teufel anderes sein als eine gepeinigte Kreatur, die inmitten der Hölle, anderen Teufeln, aufwacht? Ein unschuldiges Kind, das auf die nicht endende Schlachtbank geschoben wird, auf ein Förderband Richtung Höllenschlund. Manche Kinder rappeln sich rechtzeitig auf die Beine, greifen sich ein Messer und springen vom Förderband hinab, orientieren sich kurz und verschwinden im nächsten Gully, wie Ratten, die den Ernst des Lebens erkannt haben und bei jedem Widerstand, auf den sie treffen, die Zähne fletschen, als mache sie die Pest und die Tollwut, die sie in sich tragen, unruhig bis aufs Blut. Manche Kinder tragen die Hoffnungslosigkeit im Gesicht, ohne sich zu beklagen, denn sie wissen nicht, was das ist, Hoffnungslosigkeit. Was sie wissen, ist, wie sie die Waffe in ihren Händen zu betätigen haben und daß ein Leichnam kein Feind mehr ist. Gewisse Kinderbanden in Brasilien praktizieren sogar Kannibalismus, vorgezeigten Kannibalismus. Die Kinder sind die wahren Vorreiter der Zukunft. Und diese Zukunft kann innerhalb von Stunden in die Barbarei zurückfallen.
Das Kind, das auf der Straße aufwächst, das Kind, das in einem Clan von Kokain-Händlern aufwächst, weiß nichts von Kultur. Es sieht nur Gegebenheiten, die es funktionell ausnutzt. Sein Gesicht strahlt bereits pure Gefährlichkeit aus, denn es denkt nicht nach. Es reagiert nur. Es wird mit den Handfeuerwaffen seines Vaters, seiner Onkel und deren Freunde groß. Wenn einer aus dem Kartell stirbt, gewaltsam, vollzieht das Kind automatisch das Ritual der Rache. Der Halbwüchsige ist bereits dabei, wenn einem toten Polizisten der Kopf abgehackt und dieser in einen Sack gepackt wird. Der Teufel ist ein mittelalterliches Wesen, ein antikes Wesen, das keine Bildung kennt, nur Scheiterhaufen. Er ist eine Bestie, die das Menschsein durch seine Taten neu definiert, so wie der Massenmörder. Der Teufel ist Jossip Wissarionowitsch Dshugashvili, ein Georgier, der zunächst Theologie studiert und der dann durch ein Ereignis und diesem folgende zur Überzeugung gelangt, alle Menschen seines Umfeldes wären Meuchelmörder. Er tötet 70 Millionen Menschen und entvölkert damit beinahe sein Land. Und er zeigt sich auf der vom Blut der Betrogenen roten Mauer am Rande des roten Platzes, während sie unten im Stechschitt martialisch vorbeimarschieren, den Blick zu ihm, dem Parteisekretär, hochgehoben, Tausende, und er lächelt maskenhaft hinter seinem martialischen Schnauzbart, und an seinem stechenden Blick hätten die, die nahe genug an ihn herankommen hätten können, erkennen können, daß dieser Mann jenseits aller Ideologie nur an eines glaubte: „Ich bin realer Gott, der einzige! Ich bin es, der alle vernichtet!“ Und dieser Gedanke, der sich in ihm festgesetzt hatte, ließ alle Höflinge seiner Entourage in einer beklemmenden Ahnung des eigenen Todes frösteln.
In der Biographie dieses schlimmsten Massenmörders der Geschichte gab es einen Moment, wo Jossip Wissarionowitsch Dshugashvili auf ein Wesen traf, wie er es nie zuvor gesehen hatte und von dessen Existenz er zuvor keine Ahnung gehabt hatte. Die Begegnung schien ihm, dem Kannibalen, wie die Begegnung mit dem Teufel, den er vom Priesterseminar her kannte. Die Begegnung geschah in einem unerwarteten Moment, möglicherweise, als er im Bett lag, und er spürte nur eine Sezierung, eine Freilegung seines Gehirns, einen Blutaustausch, und schlußendlich einen neuen Geist. Danach stand Jossip Wissarionowitsch Dshugashvili vom Bett auf, und es überkam ihn das Gefühl, alles vollbringen zu können, doch dieses Alles-Vollbringen-Können formulierte er vor seinem Auge stumm mit einem anderen Vorsatz, einer vorweggenommenen Sicherheit. „Ich werde mich an der Angst diese Volkes weiden. An seiner Todesangst. Ich nehme ihm zuerst den Glauben und dann lasse ich es glaubenslos sterben, und zwar so, daß sie sich genug Gedanken machen können, wie es ist, morgen zu sterben.“ Das alles antizipierte Dshugashvili, und je mehr er sich diesem Gedanken hingab, umso mehr schwoll sein Geist an, und er spürte etwas in sich schmatzen, ein Schlürfen, und er lächelte, wie er immer lächeln sollte, auf allen Ballustraden und Mauern, „Ja, sie finden alle durch mich den Tod, ich lösche sie aus, und es ist mir ein Genuß.“ Und nur einen ließ er am Leben, tatsächlich einen einzigen, seinen Hof-Fotographen, den, dem das Privileg zukommen sollte, Gott abzulichten. Und Stalin sollte nie wissen, wer er selbst wirklich war.
Und einen solchen Mann verehren sie nocht heute, im Kaukasus.
Sein Chefankläger Berija, eine durch und durch gespenstische Erscheinung, ein fülliger Mann, ein Fleischer, war für eine gewisse Zeit wie ein Ebenbild des großen einen Zaren, mit einem Unterschied: Er hielt seine Schauprozesse im gespenstischen Halbdunkel großer Säle ab. Und er gestikulierte wild und schrie, etwas, daß der Teufel in Menschengestalt nie tun wollte. Und weil ihm der Teufel bereits jede Religion ausgetrieben hatte, waren seine Parolen einfallslos, die Anschuldigungen pure Häme. Aber weil alle Zeugen mundtot sein mußten, durfte sogar das Totengericht zu einer Farce menschlicher Verirrung verkommen, in der niemand, aber auch wirklich niemand, auch nur den Mundwinkel zu bewegen wagte.
Im zerbombten Reich des vormaligen Paktpartners, es war schon vorbei, wirkten sie komplementär: Der Hauptankläger, ein Mann namens Freissler, ein ehemaliger Volksschullehrer, provozierte seine Angeklagten zu einem Stammeln, nur um ihnen mit scharfer Stimme das Wort abzuschneiden und das Todesurteil – Guillotine oder Strick – zu verkünden, und die Zeugen, allesamt Männer, sollten wie auf Kommando aufspringen und die Hand zum Gruß der Faschisten erheben und wie aus einem Munde das „Sieg Heil!“ skandieren. Und der eine Führer gefiel sich im Schreien, Spucken und Augenaufreissen. Aber er war nicht paranoid. Sein Quälgeist war nicht der wahre Nosferatu, sondern eine Klasse geringer, doch immer noch für 15 bis 20 Millionen Abgeschlachtete gut. Vielleicht der Schatten-Scherge Babylons, der es auf Palästina abgesehen hatte. Der faschistische Dialektiker eines Vielvölkerstaates, ein armer, um seine Liebe betrogener Köhlerjunge.
Das Monstrum des Kremls hätte sich nie wie der Führer im Bunker eine Pistole an die Schläfe gesetzt, und noch weniger, zuvor seiner frisch Angetrauten den Lauf ans Herz, nein, das hätte der Allmächtige des Kreml nie über sein Herz gebracht. Dazu war er zu sehr Georgier und Familienvater. Der Georgier starb einen Alterstod, als Siegreicher. Seine Frau hielt ihm die Hand, als er starb. Das war dem Braunauer nicht vergönnt, diese Form des Friedens. Und noch weniger dem Gründer dieser so eigenartigen wie lächerlichen Bewegung der Faschisten, diesem Italiener, der das Theatralische sosehr liebte, daß er sogar den bitteren Tod eines Schmierenkomödianten nach mißglückter Flucht in einer schwachbrüstigen Propellermaschine zu sterben bereit war, doch seine Bewegung, die er „I fascisti“ nannte, „die, die an die Wurzel gehen“, sie hat überlebt, und sie ist mächtiger als je zuvor, weit über das Land der Klassik und der Renaissance hinaus.
Das Erbe des Benito Mussolini hat als einziges überdauert, die Saat seiner Besessenheit hat sich in aller Herren Winde zerstreut, schlug dort Wurzeln und ging auf. Die Wurzel allen Übels ist der wurzelhafte Charakter der Macht des Bösen, und hier müssen wir einmal einen Punkt machen. Nur weil das Böse das Schlachtfeld der Ausbeutung, des Räuberischen und der Versklavung als seinen Ort der Verwirklichung gewählt hat, wird es nicht vom Bösen losgesprochen. Das Böse existiert und es hat einen Namen. Nennen wir ihn Nosferatu, den Schatten. Hier gibt sich Miles Reid in Kalifornien zu verschämt. Schamanismus kann nicht dem Relativismus Bahn bereiten. („Man hat uns dazu erzogen, die Dinge der Welt als Gegensätze zu interpretieren: Gut und Schlecht. Doch für die alten Schamanen war das Einzige, was existierte, Energie.“) Der Schamanismus dringt zum Sehen vor und erkennt die Wirklichkeit der Absicht der Allmacht. Die Schöpfung aus der Ewigkeit, die von gerichteter Absicht erfüllt ist, gehorcht einem Willen, und hier muß Kollege Miles Reid, Schüler meines Landsmannes Castaneda, Farbe bekennen. Erkennt er die Bewegung innerhalb eines Heilsplanes oder nicht? Denn auch das Heil hat einen Namen. Das wissen wir und das wissen Kinder, oder?
Selbst Nosferatu, der vor dem Menschen war und anderen Welten entstammt, ging, geleitet von einer Absicht, auf die Reise, die ihn das All durchqueren ließ, um schließlich diesen zarten blauen Planeten, der erfüllt ist von Bewußtheit, zu erreichen und um das Leben der höchst entwickelten Kreaturen auf dieser Erde, zu versklaven, indem er sie mit der Geburt aus dem Mutterschoß selbst zu Vampiren machte.
Vielleicht ist der Scheitán Sátanas nur ein verachteter, verkannter Beschützer des Menschen, ein Vater, der seine Kinder vor dem Untergang, dem Sklaventod bewahren will, und der sie deshalb, deshalb, immerzu versucht: „Willst du es tun? Willst du es wirklich tun? Warum tust du es nicht?“. Scheit’án ist es, der uns zum Denken bringt, das, was uns am dringendsten abgeht. Denn das, was wir im Kopf haben, ist nur strahlender Atommüll, eine Kloake. Ein zum Wahnsinn und Suizid treibendes Implantat. Gleich, nachdem wir die Augen am Morgen aufgeschlagen haben, beginnt die Giftproduktion aufs Neue, mit rasender Geschwindigkeit.
Der Vampir hat uns alle, so scheint es – und David Lynch hatte, woher auch immer, davon eine Ahnung und setzte es in Bilder um, in „Eraserhead“ wie in „From dusk till dawn“ -, an seinen Elektroden hängen, sogar die US-Forscher in „Cross of the South“ am Südpol. Er kennt jede Regung, und er melkt uns unablässig. Sogar den Papst, wenn er nicht achtgibt. Schon fällt er hin im Badezimmer und bricht sich die Hand oder den Schenkel, so wie mehrere seiner Vorgänger. Oder das Drama nimmt auf offener Szene, vor tausenden Videokameras, seinen Lauf, und wenn er nicht acht gibt, schützt ihn auch nicht sein Skapulier.
Vor einer Woche starb in Mexiko in seinem Luxushaus der Leiter des Sinaloa-Cartells, der „Boss aller Bosse“ Beltràn Leyva mitsamt seinen Killern im Kugelhagel einer regierungsloyalen Elite-Einheit. Der Auftraggeber von Hunderten von Morden trug ein Skapulier und einen Rosenkranz am Leib, hatte eine aufgeschlagene Bibel vor sich am Schreibtisch und eine Marienstatue mit ewigem Licht an der Wand, alles zu seinem Schutz. Doch die seelische Kreatur dieses Verworfenen war von Anfang an nicht geschützt vor der Milch, die ihn nährte und die ihm Droge und Mord als Lebensprinzipien einflößte.
Selbst der Camalengo in den Privaträumen des Nachfolgers Petri ist nicht vor dem weit ausgebreiteten Komplott gefeit, wie uns Dan Brown weismacht. Er vergiftet seinen Adoptivvater, den Papst, um später Wissenschaft und Aberglaube in einem Teufelskarussel zu vermischen. Dan Brown spürt, wo die Nervenbahnen unseres Glaubens verlaufen, und er bekommt die Verkörperung der Erwachsenenunschuld an seine Seite gestellt, Tom Hanks. Doch auch Dan Brown erliegt der Versuchung, der Versuchung, seine Leser aufzureizen, Reizung durch Spannung, Reizung durch Mord. Mord im Vatikan. Wie spannend! Was ist spannender als die Gedanken der Würdenträger im Vatikan und jener, die sie vor Attentätern beschützen sollen, zu kennen? Was ist spannender als ein Mordkomplott mitten im Vatikan sich entwickeln zu sehen, unter der unschuldigen, unverständigen Teilnahme gealteter Kardinäle, die vielleicht in einer Weise zu Gott beten, die das Straßenkind in Rio oder in Sinaloa möglichwerweise nie und niemals verstehen wird? Ist es nicht spannend, einen gefesselten Kardinal in einem öffentlichen Brunnen Roms sich gegen das Ertrinken wehren zu sehen, solange, bis ihm Professor Robert Langdon endlich den Luftschlauch in den Mund schiebt? Ist es nicht spannend, in der Weihnachtsnacht zu sehen, welche Reaktion Josef Ratzinger zeigt, nachdem ihn eine Frau zu Boden gerissen hat? Und wie, zum Teufel, können wir erfahren, was jetzt der 87-jährige Kurienkardinal Echevaray aus Frankreich denkt, der mit gebrochenem Schenkelhalsknochen im Krankenhaus liegt, unter heiklen Umständen, und das Professorenkollegium sich beratschlagen darf. „Hoppla, Vorsicht, Vorsicht! Heikel! Fortgeschrittenes Alter! Vorsicht! Niemand macht auch nur einen Mucks, von dem ich nicht weiß“, sagt der Chefarzt. Er weiß, wovon er spricht. Ein Risikopatient in Purpur. Viel zu gewinnen, viel zu verlieren. Spannend!
Wie geht es weiter?, fragt die Presse. „Stirbt der Papst im neuen Jahr? Wer wird sein Nachfolger?“ Die Frage, „Worum geht es eigentlich?“, die findet man nur in den einschlägigen Blättern.
Von all dem wissen die Kinder in Südamerika nichts. Doch würde einer kommen, ihre stummen Fragen lesen und ihnen Antworten geben, er würde staunen. Lassen sich nicht vielleicht doch kleine Freiräume inmitten der allgemeinen Verwüstung finden, kleine Oasen, in denen das Wasser der Wahrheit fließt? Geschützte Zonen, zu denen selbst Nosferatu keinen Zugang hat? So etwas nannte man früher Paradies.
Wie sagt es der Meister?
„Eine Ayahuasca-Zeremonie ist heilig. Sie erfordert Vor- und Nachbereitung, also Hungern. Eine Zeremonie ist spirituell, deshalb spielen wir keine Musikinstrumente. Alles spielt sich im Geist ab. Wenn du nicht wahrhaftig bist, bist du verloren. Zu Gott zu beten kennt keine Stunde. Zu heilen ebensowenig. Der Feind begegnet dir im Dunklen, leibhaftig. Nimm dich in acht. Nimm es nicht auf die leichte Schulter. Er läßt dich nicht so ohne weiteres aus seinen Klauen. Er ist ein ganz und gar ernstzunehmender Feind. Die Begegnung kann dir nicht erspart bleiben. Die Macht der Dunkelheit verschafft sich überall Einlaß, in Kirchen wie in Tempeln. Warum dieses Wesen an dich herantritt, hat seinen zwingenden Grund, so wie Krankheit. Die Krankheit ist allumfassend, im Ganzen wie im Einzelnen. Eingebildet zu sein heißt bereits, verloren zu sein. Eine Ayahuasca-Zeremonie im Geist der Anaconda kann wie ein Weltuntergang sein, für den einzelnen wie für alle. Nimm es nicht auf die leichte Schulter. In einer Diät, wenn sie lange genug dauert, wirst du dies noch besser verstehen. Einstweilen gehe mit Christus.“ (Guillermo Arévalo Valera, Shipibo, El Varillal, Dezember 2009)
0 Antworten
Der Vater aller Lügen
"…Warum kennet ihr denn meine Sprache nicht? Denn ihr könnt ja mein Wort nicht hören. Ihr seid von dem Vater, dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang und ist nicht bestanden in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eigenen; denn er ist ein Lügner und ein Vater derselben. Ich aber, weil ich die Wahrheit sage, so glaubet ihr mir nicht.…" (Johannes, Kapitel 8, 43-45)
„Mich schaudert vor dem Gedanken, daß ich eines Tages in der Grube liege und mich die Würmer zerfressen.“
„Daß Du liegen wirst?“
„Ja, wer denn sonst?“
„Die Kirche ist die größte Verbrecherorganisation auf diesem Erdball. Der größte Prostituiertenhändler. Der größte Waffenhändler. Der Holocaust ist die größte Lüge der Juden. Das Nichts ist auf atomarer Ebene die wahre Realität.“ Sieben Tage nach diesem Wort bringt sich der Mann, dem diese Worte entsprangen, auf dramatische Weise öffentlich um.
„Die Konspirationstheorien zum 11.September sind verabscheuungswürdige, häßliche Lügen.“ (Ein Herr aus Texas vor den Vereinten Nationen).
„Judgement-day ist unausweichlich. Es ist egal, was man bis dorthin tut.“ (Das Credo der USA).
„Joseph Ratzinger ist der Antichrist. Sehen Sie nicht die schwarzen Ringe um seine Augen? Sehen Sie nicht diesen dämonischen Blick?“
„Ignoranz, Haß und Gier sind die drei Kernverfängnisse der kosmischen Menschheit, die das Rad des Leidens, das Rad der Wiedergeburt seit Äonen in Gang halten. Jesus von Nazareth muß das eingesehen haben. Er hat in seiner Sprache, in seinem Kontext davon gepredigt. Wie dieses Rad anzuhalten wäre. Ein gigantisches Unterfangen. Man kann es nicht anders nennen. Es hat ihm das Leben gekostet.“ (Tenzin Gyatso, 14.Dalai Lama)
„Das abgrundtief Böse will den Glanz der Schöpfung zerstören. Es richtet sich bewußt gegen Gott.“ (Karol Wojtyła)
„Der Feind des Menschen ist die Herausforderung des Universums. Tod oder Leben. Tod oder Bewußtwerdung. Bewußtwerdung der Gefährdetheit durch dieses Wesen, das vor langer Zeit auf diesen Planeten gekommen ist.“ (Juan Matus zu Carlos Castaneda)
Wir waren niemals hier
Sonntag nach Ostern, Jahr 2015, es regnet seit Tagen immer wieder. Die Römer hocken in ihren Wohnungen und stieren nach außen. Ein Kommentar entringt sich ihren Kehlen. "Qué feo! Wie häßlich!" Selbst die stets gefräßigen Tauben auf dem Petersplatz hocken in ihren Deckungen. Der Platz wie ausgestorben, jetzt, um sechs Uhr früh. Helmut Kohlenberger, der hagere, schmalwangige Existentialist, Philosoph aus Mähren, streicht in seiner Regenjacke über den Platz. Er hart sich geschworen, diesmal seinen Streifzug durch Italien auf Nietzsches Spuren bis zum Stein des Anstosses, dem geographischen Herz des Christentums, auszuweiten. "Sonntag nach Ostern, Tag der göttlichen Barmherzigkeit seit dem Polen", denkt Kohlenberger, und er spitzt wieder einmal seine Lippen, als wolle er seine eigenen Wangen kauen. "Diese grenzenlose Dummheit! Dieses unverfrorene Kalkül! Zwei Päpste zugleich heilig zu sprechen! Welch unverfrorener, unverhohlener Machtanspruch!" Doch so war es. Vor einem Jahr, aus der Hand eines Argentiniers. Der Philosoph hält inne und mustert die gigantische Kuppel. "Was für eine Monsterkonstruktion! Wieviel Arbeiter dabei wohl ums Leben gekommen sind?" Und vor seinem geistigen Auge sieht er die marmornen Säulen im Inneren. Sein Blick wandert in der Höhe herum, reihum, die Galerie der steinernen Apostel entlang. "Nietzsche war nie hier", so ein plötzlicher Gedanke. "Er hätte sich wohl übergeben. Das wäre zu viel für ihn gewesen." Der Regen rauscht noch immer. Kurz überlegt Kohlenberger, was tun. "Auf der Bank mache ich mir den Hosenboden naß. Unangenehm. An eine Säule lehnen dort drüben, unter dem Rundgang, – fad. Besser, ich setze mich hinein. Warum nicht. Ein wenig zur Ruhe kommen. Mal sehen, was passiert." Kohlenberger betritt den leeren Dom, setzt sich auf die erstbeste Bank und schlägt seine nasse Regenkaputze zurück. "Mal sehen, was passiert."
Fließend öffnet sich dem Mann aus Mähren eine Welt der Erinnerungen. Die Verrückten seines Lebens. Die Männer, die herumschrien. Jene, die sich die Stirn blutig schlugen. Jene, die in der U-Bahn masturbierten. Jene, die sich an späten Herbstabenden in versteckten Lesesälen des verlassenen Universitätsgebäude den Handrücken blutig kratzten. Jene, die kochendes Wasser auf spielende Kinder schütteten. Und immer wieder die öffentlich Herumschreienden. Die stinkenden Bettler, die sich wie Ratten im Gebüsch verkrochen. "Es nimmt nie ein Ende. Keiner will davon reden." Und Kohlenberger erinnert sich an alle, die plötzlich hinwegstarben. Bekannte, die seinen Weg gekreuzt hatten, die einen länger, die anderen kürzer. Er erinnert sich an deren letzte Worte. Deren letzte Worte, die ihm galten. Er einnert sich an deren Taten, ihr Gesicht. Der einen ein schmerzvolles Gesicht; der anderen: unbekümmert; wieder andere, die mit dem Alter haderten. Und schlußendlich jene, die das Ende kommen spürten und davon sprachen. "Keiner fiel in Agonie. Zum Glück!", rekapituliert sein Denken. "Wie lange ist das schon wieder her? Und doch auch: Wie wertvoll waren all diese Begleiter! Nur kurz waren sie Begleiter. Als wäre es gestern gewesen!"
"Schewardnadze ist letztes Jahr gestorben, im hohen Alter. Er hat die Apokalypse heraufziehen gesehen. Klima und Demographie. Das wird keiner aushalten. Der Wahnsinn wird allgemein ausbrechen. Wir haben den Wahnsinn schon jetzt. Wie können wir das verhindern? Wird der Himmel einschreiten oder werden alle irre an der Gleichgültigkeit, so wie damals bei der Shoa? Und es war nicht irgendein Volk, das diese Hunde auslöschen wollten! Es war das auserwählte Volk Gottes, von dem das Heil kommen sollte! Wahrlich teuflisch. Wahrlich teuflisch."
Eine blonde Frau, ihren Kopf mit hellblauer Boïna, die ihr wie angegossen paßt, geschmückt, nähert sich dem Philosophen und fragt ihn auf Polnisch, ob der Platz neben ihm frei wäre. Der gute Mann ist nach wie vor der einzige in seinem Areal. Kohlenberger verliert darob nicht seine Fassung. Solches ist er gewohnt. Die Menschen suchen seine Nähe. Er ist der Mann für spezielle Fälle. Existentielle Fälle auf Leben und Tod. Bisweilen ist nicht sicher, ob die Sich-ihm-Annähernden tatsächlich Menschen sind. Ja, das scheint eine berechtigte Frage angesichts der scheinbaren Absurdität mancher Äußerungen. Die Frau kommt ohne Umschweife zu ihrem nebelhaften Anliegen: "Sind sie André Glucksmann?" Ja, tatsächlich, sie fragt auf Polnisch. Kohlenberger kann sich ein Grinsen nicht verhehlen. "Schon wieder ein Engel des Himmels", schießt es ihm durch den Kopf. "Was will sie mir sagen?" "Nein", antwortet er der Dame, auf Polnisch, radebrechend seine spärlichen Kenntnisse aus dem einen Jahr Krakau aktivierend, "Nein, bin ich nicht, aber er ist ein Freund von mir." "Wieso das? Sie sehen ihm zum Verwechseln ähnlich, so wie ich Wanda Radkievich, unserer Bergsteigerin. Kennen Sie Wanda Radkievich, die Himalaya-Bergsteigerin?", hakt sie mit direktem Blick nach. "Sie ist schon seit vielen Jahren tot. Bergsteigerschicksal!"
"Ja, ich habe von ihr gehört, bin ihr aber nie begegnet. Wäre es Ihnen recht", versucht Kohlenberger geistesgegenwärtig das Gespräch in formal angenehmere Bahnen zu lenken, "wenn wir auf Englisch fortsetzen oder auf Tschechisch?"
"Tschechisch? Sind Sie verrückt? Nichts schwieriger als das! Mögen sie Polnisch etwa nicht?"
"Nein, nicht, daß ich es nicht mag. Ich spreche es nur zu wenig gut, um Sie hinreichend gut zu verstehen." Kohlenberger hält inne, staunend. "Habe ich da gerade Französisch gesprochen? Aber hoppla!", scheltet sich der Rabenschwarze innerlich. "Excusez-moi, s’il vous plaît!" posaunt es von seinen verselbständigten Lippen. "Oh, once again, please, it looks as if my lips have freed from my control and are speaking in other languages."
"C’est pas le problème, Monsieur", hallt es ihm entgegen, "je vous entends quand même." Und setzt auf Kohlenbergers verstärkt staunenden, die Situation durchaus genießenden, Blick noch eins drauf: "Si vous voulez, nous pourrions continuer en Français…"
"Wo bin ich da nur hingeraten?", denkt sich der Pilger in den weiten Räumen zu Sankt Peter. "Was will sie nur von mir?"
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, ergänzt die blonde Polin mit seltsam irritierendem, ernsthaften Blick, aus dem Stand, wiederum in der Sprache der Liebe: "Sie sind aus einem bestimmten Grund hierher gekommen, und ich auch: Ich suche einen Mann, der mich nicht begehrt, wenn ich mit ihm spreche, und der dennoch ein Retter ist, kraft seiner Weisheit. Sie sind doch weise, oder nicht? Ein Mann mit dieser Frisur kann nur ein Narziß oder ein Künstler sein. Und apropos, ich habe Französisch so wie Sie auf der Sorbonne gelernt. Das ist schon ein Weilchen her. Dort habe ich auch einmal Glucksmann besucht. Sein Pagenkopf ist mir in Erinnerung geblieben. Seine Vorlesung nicht mehr. Aber er war ein interessanter Mann! Kürzlich habe ich gelesen, er hat ein Buch über den Haß geschrieben. Kennen Sie es? Was halten Sie davon?"
Kohlenberger staunt und wirft sich in Pose. Das ist etwas, womit er nicht gerechnet hat. Er beginnt mit dem Kopf zu schaukeln, wie es seine Art ist. Er begibt sich mit gespitzten Lippen ins Terrain. Ein Thema der besonderen Art. "Ja, Madame, Sie haben recht, ich kenne das Buch. Ich habe es ins Deutsche übersetzt."
"Ach ja, was Sie nicht sagen!", kommt es mit schauspielerisch aufgerissenen Augen zurück. "Haben Sie es auch verstanden?"
"Ja, ich denke schon. Eine gute Übersetzung kann nur gelingen, wenn man den Autor mag und zudem dessen Werk. Nur so. Ich glaube, daran gibt es keinen Zweifel!"
"Danke, daß Sie das sagen."
"Dafür müssen Sie mir nicht danken, Madame." Artig nickt der Philosoph mit dem Kopf. "Glucksmann ist mir Kollege und Freund. Schon seit vielen Jahren."
"Sie Glücklicher!"
"Nun, um auf Ihre Frage zurückzukommen, wenn wir das Thema "Haß" hernehmen, ich denke, wir befinden uns für unser privates philosophisches Kolloquium gerade am richtigen Ort. Sozusagen als unbescholtener Energieneutralisator. Ich nehme an, Sie haben tiefe persönliche Gründe, warum der Haß Ihnen am Herzen liegt. Ist es nicht so?" Kohlenberger blickt die Dame fragend an und staunt dabei innerlich über sich selbst. Eine derartige Gesprächseröffnung, eine derartige Sensibilität für das Gegenüber, noch dazu ein Weib, ist nicht immer seine Usance. Er merkt, die Dame interessiert ihn, doch weshalb? Sie ist exzentrisch, das steht fest, und das ist ein Charakterzug, der ihn, den eisernen Junggesellen, an gewissen Damen immer fasziniert hat. "Sie meinen wirklich den Haß, liebe Frau? Nicht Zorn, Wut, Groll, Ärger?"
"Nein, ich meine den Haß. Den menschenverachtenden, den menschenzerstörenden Haß. Von wo kommt er her? Erklären Sie mir das!"
"Durchlaucht, es gilt eines anzumerken: Niemand kann befugt davon sprechen, der nicht selbst Haß jemals in sich gespürt hat. Und ich möchte sagen, daß ich auch meinen Freund André als einen solchen einschätze. Als einen Mann, der noch nie gehaßt hat. Ja, noch nie! Und zu mir selbst, ich wurde nie dermaßen verletzt, als daß ich mit Haß hätte antworten müssen, verzögert, als Revancheakt aus der Ferne. Haß, so müßte ich sagen, ohne platt zu psychologisieren, ist die Energiezusammeballung eines körperlich Schwachen. So sehe ich es vorerst auf Anhieb. Ich würde vielleicht hassen, wenn man mir meine Familie wegschießt, sie mir wegraubt, doch als Verletzter würde ich nicht hassen. Ich würde grollen und dumpfe Wut mit mir herumtragen."
"Haben Sie nie Ihre Frau gehaßt? Gehaßt, weil sie Sie vielleicht betrogen hatte? Betrogen und belogen?"
"Nein, nie. Ich empfände nur Traurigkeit. Doch muß ich sagen, bei Frauen bin ich vorsichtig. Muß ich jemanden…" – der Gedanke schiebt sich in den Vordergrund und will ausgesprochen werden – "… hassen, den ich umbringen möchte?"
"Doch wohl nicht", schallt es ihm entschieden entgegen. "Mordlüsternheit allein genügt."
"Ja, Madame, da haben Sie wohl recht. Mordlüsternheit ist ein Bekenntnis, so wie es bei den Shakespearschen Figuren anzutreffen ist. Doch wissen wir wirklich, was Haß ist? Ich entsinne mich eines Ausspruchs von Bergmann im schwedischen Fernsehen, in Anwesenheit seines Freundes Erland Josefsson, wo er freimütig bekennt, er hätte einen bestimmten Theaterkritiker, der ihn, Bergmann, aufs Gröbste beschimpft hatte – und nicht nur ihn, sondern die gesamte Familie – noch über dessen Tod gehaßt. Wie bitte, möchte ich Sie fragen, kann man jemanden hassen, der bereits tot ist? Gegen wen, so die berechtigte Frage, richtet sich dieser Haß?"
"Ja, das sehe ich ein. Hasse ich vielleicht das Leben? Kannten Sie Gert Voss, den deutschen Schauspieler, der letztes Jahr im Juli, ausgerechnet am Tag dieses unsäglichen Fußball-WM-Finales plötzlich verschieden ist? Diesen begnadeten Shakespeare-Darsteller, der im Blut watete, daß einem schlecht werden konnte? Hatte er ein Verständnis von Haß?"
"Ja, ich kannte ihn, habe ihn sogar mehrmals gesehen. Ich muß gestehen, bei einer der Inszenierungen am Wiener Burgtheter erlitt ich einen Kreislaufzusammenbruch. "Wie kann man nur", so dachte ich, "so kalt über das Morden sprechen?" Das blieb mir in Erinnerung. Mir war brechübel. Glücklicherweise habe ich mich nicht übergeben wie dieser bedauernswerte argentinische Fußballstar Messi, der beim WM-Finale gegen Deutschland sich übergeben mußte und der bald darauf zurücktrat, aus Übersensibilität gegenüber dem Morden auf dem Feld. Oder nagt eine unpersönliche Krankheit ins einen Eigenweiden? Ein abgründiges Unwohlsein? In diesem sympathischen kleinen Argentinier?" (Und sie zieht das "sympathisch" auf Polnisch in die Länge wie amerikanischen Kaugummi). "Haß, ja, den findet man heutzutage auf den Schlachtfeldern, dort, wo die Killer wie Projektile aufeinanderprallen und Jungwüchsige mit Gehirnerschütterung vom Feld getragen werden müssen. Hochgezüchtete, gedopte Zombies. Sind Zombies Hassende? Doch wohl nicht! Es ist etwas anderes! Gier nach Erniedrigung. Sie sind Killermaschinen, mit Kriegsdrogen gedopt. Aber Haß, nein!"
"Gier nach Erniedrigung? Interessant, was Sie da sagen, Madame. Wie ist übrigens Ihr werter Name, bitte?"
"Mademoiselle", kommt es schnippisch entgegen. "Mademoiselle. Ich hatte nie Zeit, mir einen Mann zu … rauben. Und außerdem, um ehrlich zu sein, mir graut vor dem männlichen Geschlecht…"
"Geschlecht…?"
"Ja, Geschlecht. Das, was Ihnen zwischen den Beinen hängt."
Der Philosoph läßt seinen Blick in den unsteten Augen seines aparten Gegenübers ruhen. "Sie ist aufgedreht. Vorsicht. Vielleicht psychotisch. Vielleicht eine Papst-Attentäterin. Hat sie ein Messer in der Tasche?", denkt unser graubehaarter Herr aus Mähren. "Sie fühlt sich vom Ambiente und der frühen Morgenstunde animiert, ihr Seelenleben vor Unbekannten auszubreiten. Worauf will sie wirklich hinaus? Kann es gefährlich werden? Nein, sie ist nicht gewalttätig, aber sie kann überschnappen. Besser, die Worte genau abzuwägen." All das zuckt dem morgendlichen Vatikanbesucher in einer Umdrehung des Erwarteten in Sekundenschnelle durch den Sinn. "Madame, ich würde nur zu gerne Ihren Namen erfahren!" ("Nach dem Namen zu Fragen…", so hört er sich in Gedanken selbst kommentieren, "… ist immer eine gute Idee. Das bringt die Leute auf den Boden.")
"Nun, sagen wir, ich heiße Zdenka Túmova."
"Túmova? Ist das nicht Tschechisch?"
"Ja, haben Sie etwas dagegen?"
"Nein, natürlich nicht. Entschuldigen Sie!"
"Na, endlich habe ich den Studierten auf dem falschen Fuß erwischt! Stimmt’s? Geben Sie’s zu!"
"Ja, natürlich. Ich war von Ihrem Namen überrascht."
"Wie kann man von einem Namen überrascht sein? Meine Mutter kam aus den Braunkohlengruben der Slowakei. Der Vater, ein Kumpel, starb früh an Lungenkrebs. Ich habe keinerlei Erinnerung an ihn. Die Mutter flüchtete mit mir, nach Krakau, in den Schoß von Mutter Kirche. Wer weiß, ob ich sonst überlebt hätte. Wenigstens huste ich nicht. Ob ich im Schlaf rede wie meine Mutter, weiß ich nicht. Ich schlafe nicht mit Männern. Habe ich Ihnen schon gesagt."
"Schlafen Sie mit anderen Frauen?" Kohlenberger beißt sich innerlich auf die Zunge und hält den Atem an. "Du Trottel!", scheltet er sich innerlich. "Du läßt dich sträflich in etwas hineinreiten!" Doch sein polnisches Vis-à-vis schluckt die Frage, ohne mit der Wimper zu zucken:
"Sehe ich so aus? Also wirklich, sehe ich so aus? Leide ich an Geschmacksverwirrung? Sehe ich so aus? Seien Sie ehrlich!"
"Nein, ganz und gar nicht! Ach, was sage ich? Entschuldigen Sie mein Gerede Ich bin nicht ganz zurechnungsfähig."
"Gut zu hören! Dann sind wir ja zwei. Apropos, wie gefällt Ihnen meine Mütze?"
"Perfekt, würde ich sagen, gerade zu Ihrem blonden Haar. Ach, und im Übrigen, ich habe auch mit Kohlen zu tun, ich heiße Kohlenberger."
"Hab ich’s mir doch gedacht!"
"Was haben Sie sich gedacht?"
"Daß Sie aus der Hölle kommen. Aus der Unterwelt. Aus der Welt der Kohlen. Waren Sie schon einmal in einem Stollen?"
"Ja, mehrmals, aber niemals Kohle. Immer Salz."
"Und, wie war’s?"
"Anheimelnd, kann ich nur sagen. Dermaßen anheimelnd, daß ich mir unter Tag eine Wohnung einrichten wollte. So wie die Urchristen in Kappadokien, Nevshehir. Ach, diese Stille! Und diese ständige konstante Wärme!" Kohlenbergers Augen glänzen.
Zdenka Túmova’s Energie scheint fortzufließen. Mit maskenhaften Gesicht wendet sie sich von ihrem Galan ab und blickt sich im Inneren der gigantischen Kathedrale um. Ihre Gedanken sind nicht zu erhaschen. Kohlenberger beruhigt sich. Er atmet ruhig. Keine Gefahr soweit…
Momente auf Momente.
"Wir werden niemals hier gewesen sein, mon Chevalier. Dieser Marmor ist nicht menschlich. Wir sind arme Mäuse. Hier hausen Riesen … und der Tod. Menschen wie wir haben hier nichts verloren. Wir werden wieder von hier entschwinden, aus dieser Hölle der Sklaverei, und niemand wird uns gesehen haben, niemand gehört, niemand, der unser Gespräch aufgezeichnet hätte. Wir werden von hier fortgehen, ohne Spuren zu hinterlassen." Zdenkas Stimme ein Flüstern. Kohlenberger fühlt sich seltsam berührt. Diese Ehrlichkeit. Wann war es das letzte Mal, daß jemand ehrlich zu ihm sprach? In einem Akt plötzlichen Wohlbehagens streckt er beide Beine aus, soweit es geht, verschränkt die Hände hinter dem Nacken und beugt sein Kreuz hohl. Ach, wie gut das tut! Lauthals gähnt er, um das Ganze noch abzurunden, so als wäre er auf einer Alm. Zdenka blickt ihn amüsiert an.
"Vielleicht war es doch keine so gute Idee, so früh am Morgen hierher zu kommen. Ich hätte noch drei Stunden im Bett verbringen sollen."
"Dann hätten wir uns nicht kennengelernt."
"Sie haben recht, Mademoiselle Zdenka. Ach, alles Unsinn, was ich rede."
"Uhuhuunsinnn", trällert die boïnagewappnete Polin. "Nein, mein lieber Herr aus Mähren, seien Sie nicht dermaßen selbstkritisch. Ihre Berufskrankheit. Sagen Sie mir lieber, gibt es in diesen edlen Hallen irgendwo Wein zur Aufhellung des Gemüts?"
Kohlenberger grinst, und diesmal entspannt, zum ersten Mal. "Dazu, gnädige Frau, müßten wir uns in die Sakristei schleichen. Oder besser, nicht schleichen, sondern aufrechten Ganges. Wir werden dort vorstellig, zwei Teufel aus der Hölle, Sie aus Treblinka, ich aus Srebrenica. "Es dürstet uns", werden wir sagen. "Gebt uns zu trinken! Wir verdursten! Es ist so heiß in der Hölle! Seht das Blut in unseren Augen, seht das rußgeschwärzte Gesicht, seht das lange Haar, das nicht menschlich ist, seht den roten Stern auf dieser Boïna. Um alles in der Welt: einen Schluck, bitte! In Hergott’s Namen! Ihre letzte gute Tat in Ihrem Leben, Herr Meßner!" Und was wird der verdutzte Meßner sagen?"
"Er wird flüchten und die Polizei rufen. Die Vatikanpolizei."
"Und was machen wir?"
"Wir? Wir machen gar nichts! Ich habe es endgültig satt zu reagieren. Ich werde mich auf den Boden setzen …"
"… und mir Hämorrhoiden einhandeln? Herr Kohlenberger! Ruhe jetzt! Schluß mit dem Unsinn. Wo ist das nächste Café? Und dann ab ins Bett, abgemacht? Nur zum Kuscheln, einverstanden?"
"Nun gut, von mir aus! Gar keine so schlechte Idee. Eine barmherzige Idee! Und keiner wird jemals auch nur ahnen, daß wir hier waren."
(— Atem)
Wie endete also, in Gottes Namen, unsere von Sankt Petrus doch wohl beobachtete, zart und unschuldig aufkeimende Liebesgeschichte?
Helmut Kohlenberger und Zdenka Túmova verließen St.Peter und paradierten – sie bei ihm eingehängt – ziellos aus dem göttlichen Stadtstaat hinaus. Der Regen hatte aufgehört, immerhin waren zwei Stunden vergangen. Zwei Stunden! Wer hätte das gedacht? Sie fanden ein Café und beide langten herzhaft zu bei Buttercroissants und betörend duftendem römischen Kaffee. Den Wein, so Zdenka mit leicht süffisantem Lächeln, würden sie sich für später aufsparen. Und sie landeten – die geneigte Leserin, der geneigte Leser wird es ahnen – nicht im Niemandsland, nein, in des Philosophen Stube, und dort entledigte sich Zdenka als erstes ihrer Jacke und ihrer Schuhe, um dann, so wie sie war, mit einem Seufzer in das Herbergsbett zu fallen. "Ich bin totmüde, Helmut. Bitte, sei ein Christ und laß mich bis zum Sankt Nimmerleinstag schlafen, ohne alles. Ich bin für niemanden zu sprechen. Ich bin tot." Und so schlief sie ein.
Und unser Philosoph fühlte sich beglückt. Er setzte sich an den Schreibtisch und fing an zu arbeiten. Die Inspiration senkte sich auf sein Haupt, mit Blick auf die regennassen Dächer Roms. Das erste Kapitel ein flüssig geschriebener Prolog: "Wider den Haß. Bin ich ein vaterloses Kind, auf daß ich hassen müßte?"
Und sie verabschiedeten sich am nächsten Tag, mit Kuß und Worten: "Nächstes Jahr, zur selben Zeit, das Wiedersehen in Rom." Wie Alan Alda und Kate Beckinshaw anno dazumal, westwärts, jenseits des großen Teiches.