Otorongo, das ist nicht nur eine edle, ehrfurchtgebietende Raubkatze, die naechstens rund um das Camp streift, den unwiderstehlichen Geruch des Huehnerstalls in den Nuestern.
Otorongo ist auch keine einfache Heilklause, die sich vielleicht gerne in der Nachfolge des Heiligen Franz von Assisi saehe.
Otorongo ist ein Anwesen, eine Zone. Eine unbescholtene Zone in der Wildnis, ein Bollwerk gegen die Raubschlaeger, ein Bollwerk gegen das Rasen der menschlichen Zeit. In Otorongo wird das Rad der Zeit wenn schon nicht zum Stillstand, so doch zur Verlangsamung gebracht. Dann, wenn die Tage ihre Namen und ihre Angstbehaftetheit verlieren und die Besucher, die Kirchgaenger, die Versinkenden, die Meditierenden, die Ayahuasca-Trinker, die Diaetierenden, die Naturbeschauer das Kraehen des Hahns um 3 Uhr frueh nicht mehr hoeren, nicht mehr das durch den Wald hallende Quaken der Kroeten und nicht mehr das gesellige Gezeter der Baukar-Webervoegel, die ihre Nestsaecke zum wiederholten Male in riskant gebrechlichen Palmaesten aufspannen, wo sie wie Federbaelle im Wind durchgebeutelt werden. In Otorongo kommentiert man den Kanonenschuss der Boa Negra um zwei in der Frueh, die im Regen auf Affenjagd geht, und die Schurkenstreiche des Shapishico, der ebenso naechtens mit Aguajes herumwirft und an die Waende der Waechterhuetten klopft. Und alle kommentieren natuerlich das Splittergeraeusch eines sich zur Ruhe legenden Urwaldriesen, der, des Lebens im Dschungel muede geworden, das troestliche Bett von Mutter Erde sucht, um von ihm aus vielleicht neue Triebe zu schlagen, die ihm aus dem darniederliegenden Stamm wachsen.
Otorongo ist ein Geschenk, das ueber Generationen bewahrt bleiben soll. Es ist eine Familie, die staendig waechst. Besucher und Arbeiter formen eine Gemeinschaft, deren Geist den europaeischen Alltag beeinflusst. Alles, was in Otorongo geschieht – und das ist noch mehr als die naechtlichen Zeremonien in Ayahuasca -, hat Auswirkung auf Europa.
Der Medizinbaum, ein Abkoemmling der Unterwelt, streckt seine Wurzeln aus in die Unterstroemung der europaeischen Alptraeume. Er tut dies gewohnheitsmaessig, gewissermassen als moderne Variante zu den in den Jahrhunderten gesehenen, abscheulichen Dramen von Stammesfehden um den Preis von ein paar geraubter Frauen.
Otorongo ist nicht einzigartig. Es gibt viele andere Plaetze. Otorongo ist nicht einmal heilig. Es ist eine Klause, ein Rueckzugsort. Ein Ort zum Lernen, besser als jede Bildungsanstalt.
Freilich, die Tage hier zu verbringen kann anstrengend sein. Die erste Huerde, in den meisten Faellen, sind die Stechmuecken, die nur allzu oft zu Plagegeistern mutieren. Manche, die sich im Fokus ungerechtfertigter insektenhafter Aufmerksamkeit waehnen, kratzen sich blutig und sind keines klaren Gedankens mehr faehig. Die Friedfertigkeit hat so ein Ende. Andere sehen sich in der Diaethuette einer Termiteninvasion gegenueber. Der schweissdurchtrankte Rucksack ist voll mit einem Termitenstock. Ab mit ihm in die Quebrada, so wie er wimmelt! Die Fische laben sich an diesem Festmahl. Wieder andere werden in einen Infight mit einem frechen Oppossum getrieben. Das Oppossum, das einen im Schein der Taschenlampe neugierig mit grossen, glaenzenden Augen vom Giebel herab betrachtet, weil es weiss, dass seine Knabbergeraeusche, wenn es sich am Blattdach labt, den Schlaefer stoeren, und weil es weiss, dass wir wissen, dass es es weiss. Darum ist das Oppossum ein uns ueberlegener Kobold. Nur ihm sich fuegen hilft. Und handtellergrosse Spinnen ueber mir im nahen Dach werden fuer gewoehnlich ueber Minuten hinweg fixiert. Was hat sie vor? Wird sie mich anspringen? Will sie gar unter mein Moskitonetz kriechen? Ich seh´ doch, dass sie weiss, dass ich vor ihr Angst habe. Und trotzdem macht sie keinen Mucks. Verzieh‘ dich doch bitte, aber wenn’s geht, nicht in meine Richtung!
Feinde gibt es viele, deshalb bin auch paranoid und hysteroid. Pass auf, mein Freund, sagt eine gute Fee, die sich ueber uns kniet, ich hab dich zwar gern, mehr als alles Andere, aber du regst dich entschieden zu viel auf, und das macht dich haesslich und bitter und wird dich noch mehr krank machen.
Otorongo ist eine Lerngeschichte, dann, wenn die Leidensgeschichte endlich nicht mehr dermassen kreischt, dass es uns in den Wahnsinn triebe. Sie ist ein erstes Mosaik. Ein 50-Steine-Puzzle fuer Kinder mit Sauriermotiven. Erst spaeter kommen die Kunstwerke aus Meisterhand, und der letzte Meister, der in Otorongo auftrat, war ein gewisser Agustin Rivas. Lange ist’s her.
Das Camp, es ist ein Zufluchtsort, nicht nur fuer alle Klassen von Tieren, die den tollwuetigen, von Armut gebeutelten Wilderern zu entkommen trachten und die sich rund um den Zaun versammeln, so wie die Affenfamilie hinterm Klo.
Die Einsicht, eines Tages Zuflucht suchen zu muessen, um der Tollheit der Welt zu entkommen, ist der Beginn des buddhistischen Studiums, so sagen es die Schriften, auch die aeltesten, und selbst die ersten Reden des Buddha vor etwa 2400 Jahren handeln davon: "Zuflucht suchen".
Und so entwickelt sich die Lehre Schritt fuer Schritt, mit jedem Atemzug, wenn, endlich, endlich, Ruhe einzukehren beginnt. Kein Radio, kein Fernsehen, keine Ablenkung. Nur die Qual der Einsicht: "Mir entkommst Du nicht!" Sei’s d’rum.
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Lieber Wolfgang !
… war das jetzt schön zu lesen, die Erinnerungen werden wieder lebendig ! 10 Tage waren die Astrid und ich bei Euch in Otorongo, ein Jahr ist es erst her … und schon wieder ist alles Alltagstrott, Hetzjagd … und seit einigen Tagen wissen wir, wir müssen wieder nach Peru, nach Otorongo … Zeit haben zu lernen, zu reden, den Tag genießen, an Euren Zeremonien teilhaben und die Seele baumeln lassen 😆
Bis hoffentlich bald !
Alles Liebe Dir und Deiner Familie
Astrid + Renate