Zunächst ein Blick in die "Wikipedia-Enzyklopädie":

Herkunft des Ausspruchs:

In dieser Form wird das panta rhei nur bei Simplikios, einem spätantiken Kommentator der Schriften Aristoteles’, zitiert. Die Verbindung zu Heraklit wird durch Platon hergestellt, der den Satz in einer sprachlich anderen Form anführt: Πάντα χωρεϊ καϊ ούδξν μένει („Pánta chorei kaì oudèn ménei“, „Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.“). Heraklit vergleiche das Sein mit einem Fluss, indem er sage, niemand könne zweimal in denselben Fluss steigen. Der Satz panta rhei stellt demnach eine Verkürzung und zugleich eine Interpretation der Äußerungen Heraklits dar.

Von Heraklits Werk sind lediglich einige Fragmente erhalten, von denen drei Zitate die Lehre vom Fluss aller Dinge begründen:

„Wer in denselben Fluß steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu.“

„Wir steigen in denselben Fluß und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.“

„Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen.“

Philosophische Einordnung:

Die Flusslehre ist im Zusammenhang mit Heraklits Lehre von der Einheit aller Dinge zu verstehen:

„Verbindungen: Ganzes und Nichtganzes, Zusammengehendes und Auseinanderstrebendes, Einklang und Mißklang und aus Allem Eins und aus Einem Alles.“

Platons Zitat Pánta chorei kaì oudèn ménei ist die knappste Formulierung der Flusslehre Heraklits, die besagt: Alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln. Seine Interpretation ist jedoch problematisch: Sie führte dazu, dass in der Tradition der platonischen Formulierung die Lehre des Heraklit nur als eine solche des Werdens und Vergehens interpretiert wurde (in diesem Sinne z.B. Hölderlin, Hegel oder Nietzsche, der in der „Bejahung des Vergehens“ den Kern seiner Lehre sah). Die primäre Welterfahrung liegt nach der Flusslehre in dem fortwährenden Stoff- und Formwechsel. Sie ist eine Metapher für die Prozessualität der Welt. Das Sein ist das Werden des Ganzen. Das Sein ist demnach nicht statisch, sondern als ewiger Wandel dynamisch zu erfassen. Doch hinter und zugleich in dem unaufhörlichen Fluss steht die Einheit: Einheit in der Vielheit und Vielheit in der Einheit.

Wirkung auf die Literatur:

Goethe bezog sich in dem Gedicht Dauer im Wechsel direkt auf Heraklit:

„Gleich mit jedem Regengusse / Ändert sich dein holdes Tal, / Ach, und in dem selben Flusse / Schwimmst du nicht zum zweitenmal.“

Der ewige Wandel ist auch Gegenstand seines Gedichts Eins und Alles:

„Es soll sich regen, schaffend handeln, / Erst sich gestalten, dann verwandeln; / Nur scheinbar stehts Momente still. / Das Ewige regt sich fort in allen: / Denn alles muß in Nichts zerfallen, / Wenn es im Sein beharren will.“

(Soweit Wikipedia)

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Alles fließt, und nichts hat Bestand. Fürwahr. Der Regen zeigt es vor. Amazonien im Regen. Nächtelang, tagelang. Die Urgewalten regnen herab von oben. Der Fluß schwillt an. Hätten wir den Regen nicht, die Welt würde vergehen. All dies Wasser, es beugt der weltweiten Versalzung vor. Ein wenig lindert es die Qual in der Atmosphäre. Ein wenig lindert es die Hitze.

Der Regen, er hebt den Schmerz empor. Den wahren Lebensschmerz, den Lebensschock, das Dämmern "Du bist am Leben, und bald bist du tot, und die Krankheit kommt vor dem Tod, – oft." Und wir sehen ein, es hilft nichts, jetzt ist es Zeit zu kämpfen, und wer nicht mitmacht, wird bekämpft. Er bleibt links liegen. Selbst der Ehegatte bleibt links liegen. "Laß‘ mich in Frieden! Rühr‘ mich nicht an!" Und die Gattin stößt ihn weg, den Verzagten, den Ratlosen, und er kann sich nur mit einer Phrase abhelfen, "Oh weh‘, sie ist verrückt geworden!" "Du glaubst wohl, ich bin verrückt geworden", antwortet sie ihm. "Du Hurenbock, ich bin nicht verrückt, ich merk‘ nur, ich sterbe, und ich werde dein Spiel, euer Spiel der Verharmlosung nicht mehr mitspielen. Ich steige aus! Schleich‘ dich von mir und laß‘ mich in Ruhe. Zu lange hab‘ ich dich ausgehalten! Schleich‘ dich, sonst muß ich dir noch nachspucken."

Sie kennen solche Dramen, lieber Leser. Wir brauchen sie nicht weiter ausführen.

Alles fließt, Du siehst es vor dir auf dem Boden. Der Boden bricht auf, Grün kommt zum Vorschein. Der Beton bricht weg. Unter den Wassermassen hierzulande wird er geradezu weggewaschen. Lagunen bilden sich im Unterholz. Neues Leben schießt hoch, mitten am Weg. Bliebest Du ein Jahr weg, mein Freund, Du würdest den Weg nicht mehr wiedererkennen.

Dies ewige Wasser, es ist nicht ewig, und doch, es überdauert uns alle um ein Leichtes. Dies Wasser des Lebens, das alles verändert, – das Gesicht der Natur und unseres. Ja sogar unsere Stimme wird eine andere, und manche Worte verlieren ihren Sinn. Die Dummheit fällt ab und wird fortgewaschen, hoffentlich, – was für ein Glück. Besser stumm werden als ein dummer Quassler bleiben.

Sie treiben alle fort, die Freunde, und alle, von deren Leben wir wußten, Freund und Feind, alle. Wie sagt es Denzel Washington zu Val Kilmer in "Déjà vu"? "Nichts bleibt. Das ist es doch, was uns unser Beruf lehrt. Die Eltern fort, die Gattin fort, die Kinder. Das Gesicht nicht mehr das, was es einmal war. Die Freunde fort, alle gegangen, die Liebe."

Vergangene Woche starb John Fasavi, ehemaliger Arbeiter bei Agustin, an Aids. Er war 32. In Otorongo, als das Zeremonialhaus 2002 von 17 Arbeitern gezimmert wurde, schwängerte er Surmira, für die er die erste und einzige Liebe ihres Lebens war und bleiben sollte. Doch er ließ sie links liegen, sie war nur ein Abenteuer für ihn, eine Gelegenheit. Danielito sah nie seinen Vater und erhielt nie Alimente. Er weiß nicht, wem er abstammt. Seine Mutter nennt er bis heute "Tante". Danielito ist nur einer von Zehntausenden, nein Hunderttausenden. Ein einsames, den Betrachter berührendes Kind. Heute sollte Surmira von ihrer Pilgerreise zurückkommen, auf dem Flußweg. Die Mutter liegt in Maipucco im Sterben, doch die Tochter kann nicht ewig bleiben. John Fasavi hatte sie in dessen Sterben ausrichten lassen "Bleib wo du bist, ich will dich nie mehr sehen!" Es dauerte dann nur mehr Tage, bis er nicht mehr war. Heute sagen die, die solche Krankheit nicht kennen, ihr nach, sie hätte ihn verhexen lassen. Ihr, der Schwester eines evangelischen Pastors.

Die schlimmsten Dramen verschwinden im Fluß der Zeit. 5000 Skelette werden in einem Minenschacht in Slowenien entdeckt, Opfer des 2.Weltkriegs. Wer mag sich all dies Grauen vorstellen, als sie niedergemetzelt, 5000 Familien entzweigerissen wurden? Und wir brauchen nicht über die Täter mutmaßen. Im Fluß der Zeit schwimmt eine Bestie, die selbst den Weißen Hai ausrotten wird. 25 Jahre ist es her, daß ein psychopathischer Bandenführer namens Pol Pot in Kambodscha Millionen von Landsleuten systematisch niedermetzeln ließ, oft nur, weil sie eine Brille trugen. Der Mensch, das ausgeblutete Volk, die wenigen, die vergessen wurden, von nichts Ahnende, haben es durchgestanden. Das Vergessen wächst wie Gras über die Stätten des Grauens, die Erinnerung stirbt weg. Nichtsahnende Kinder beginnen aufs neue auf Schädelhalden zu spielen. Identitätslose, später drogenabhängige, vielleicht sich prostituierende Kinder und gepeinigte Frühaufsteher, denen jeder Morgen zum Grauen, zur Stunde des Henkers, zur Stunde des Wolfs gerät, bleiben über. Mondanbeter. Verzweifelte, die die Gethsemane-Szene mit dem mondbeschienen Heiland in Acryl über ihrem Bett hängen haben. Wahrlich nicht die schlechtesten Zeitgenossen. Das Drama in diesem Fluß der Zeit ist unvorstellbar. Das Grauen, das es magenaufwühlend erweckt, entzieht sich unseren Worten. So suchen wir Ablenkung um jeden Preis, und diese Ablenkungsmanöver werden von den gekauften Medien umso hektischer betrieben, je näher Armageddon zu rücken droht. Wir haben also 2008 bereits eine symbolhafte Papiervernichtung erlebt, eine gigantische, globale. Wir wissen ja gar nicht, wo und wofür auftreten, sosehr werden wir von den Giftgasschwaden geblendet. Mit dem Giftgas, das beinahe im Takt des eigenen Schrittes freigesetzt wird, beschreitet die humanitäre Auflösung in einer grenzenlos hochmütigen Hochwendung sogar das Schlachtfeld der Luft, wir wissen es nur allzu gut. Wasser und Luft, – eine Einheit. Es wird alles unhaltbar, und bald ist es dann soweit, sich an den antiken Philosophen ein Beispiel zu nehmen. "Störe meine Kreise nicht!" Ein Ausspruch, selbst um den Preis eines Schwertstreichs. Letzte Wahrheit. "Ich sehe den Tod und gebe mich ihm hin. Das Unsagbare wird mich retten. Ich entschwinde im Strom, im Meer." Der Wasserzauberer. Der Banco, der ins Wasser geht. Diese Leute wußten, warum ins Wasser und nicht ins Feuer. Wasser reinigt, Feuer reinigt. Doch warum bloß zitierte der Nazaräner nur das "Wasser des Lebens", die Taufe, und nicht das Feuer der Klärung, das Fegefeuer? Liegt hier gar Quellenfälschung vor? Auch das Feuer fließt, aber es ist anfällig. Vielleicht hält höhere Hand unseren Blick ab vom wahren Höllenfeuer, dem Feuer, das alles verschlingen könnte, und es dennoch nicht tut. Das Feuer im Schoß unserer Mutter Erde.

Aber noch etwas anderes fließt: Musik. Musik liegt in der Luft. Mehr noch, sie schwingt in allem. Und wenn die Menschheit auf etwas stolz sein kann, dann auf ihre Musik. Die Opern. Die Streichkonzerte im Haus von Max Planck, zu denen sich auch Einstein einstellte.

"Pioneer 11" also, extraplanetar fortgeschleudert in die unendlichen Weiten des Alls, trägt eine Goldplatte mit sich. Eingravierte Zeugnisse der Menschheit. Die Stimme Kurt Waldheims, die Periodentafel, ein Menschenpaar, unsere Lokation, – und Mahlers Neunte. Mahlers Neunte, die den Weltenbrand, so er kommt, in weiter Ferne unbehelligt übersteht. "Pioneer 11", ein losgelassener Eilbote ohne Ziel, fort. Gebe Gott, daß er gefunden wird, in den unendlichen Weiten des Raums, zu unausdenklichen Zeiten. Ein Steuermann möge die Boje mit seinem Rasterauge auflesen. "Brücke, wir haben etwas im Visier…."

Tamshiyacu liegt 126 Meter über dem Meer und 3000 Kilometer von ihm entfernt. Und doch, der Fluß, dieser gebieterische, der sich nunmehr in der Regenzeit, einer ausgiebigen wie seit Jahrzehnten nicht mehr, aufwirft wie eine einzige, alles verschlingende, in unhörbaren Klängen dräuende, dröhnende, niemals zu bändigende Macht, er schießt geradezu an unserem Ufer vorbei, Baumleichen und Gestrüpp auf seinem Rücken. Niemand geht in diesen monströsen Fluß, auch nicht die Lebensüberdrüssigen.

Es ist ein Gastspiel, ein grenzenloses Gastspiel. Jedes Menschengesetz hebt es auf. Selbst die Mörder und Kriegstreiber sterben, wie denn anders? Dieser Fluß, wenn er uns nicht in den Wahnsinn treibt, wie dann zur Erleuchtung? Indem wir diese grenzenlose Ungeheuerlichkeit ohne Hysterie aushalten. Und so kommen wir wieder zur Dichtung und zu den Epen. Siddharta. Fährmann am Fluß. Seien Sie gegrüßt, Hermann Hesse, Heros unserer Jugend!

P.S.

Die kompromißlose Frau von oben bereinigte ihre Ehestandsituation im Einvernehmen mit ihrem langjährigen Begleiter, ohne sich scheiden zu lassen. Als sie das Pensionsalter erreicht hatte, zog sie vom jenseitigen Donauufer der sozialistischen Gemeinde, der sie ein Leben lang als Schauspielerin gedient hatte, fort auf eine Vulkan-Insel Neukaledoniens und bescherte so ihrem Gatten die ersehnte Freiheit. Sie nahm nur wenig mit. Das wichtigste war ihr, ihre Hausbank mit einem Dauerauftrag für ferne Gestade ausgestattet zu haben. So verbrachte sie ihren Lebensabend fern der alten Heimat. Schnell verlor diese ihre Kraft. Zuletzt verbrannte sie alles, was sie mitgebracht hatte. Nicht ein einziges Stück aus dem Alten Kontinent war vor der Vernichtung sicher. Sie legte ihre Identität ab, wurde namenlos. Auf der überschaubar kleinen Insel war sie nicht das einzige Faktotum. Andere hatten ähnlich wie sie entschieden. Die Einwohner waren ihr gesonnen. Sie lebte hoch oben auf einer Klippe, in einem niedlich kleinen, gediegen gemauerten Haus mit wunderbarer Terrasse. Dermaßen beschenkt, tauchte sie ein in die Zeitlosigkeit und holte das nach, was sie so lange versäumt hatte. Da verstand sie, daß das Versäumnis einerlei war, jetzt, im Stande der Kompromißlosigkeit. Der einzige, der von ihr wußte und den sie auf Besuch duldete, war ein verwegener Volksschauspieler, dem der sechste Kontinent, die Heimat der Blauhäutigen, zur Heimat geworden war. Jeden Morgen blickte sie auf das glitzernde Gespinst auf der Oberfläche des Stillen Ozeans hinaus, und in der nicht endenden Sonnenglast entrückte ihr Blick. Sie lernte mit den Vögeln sprechen und hörte auch sonst Stimmen. Ihre Geschichte verliert sich in einem Hauch, "Ja, es ist möglich!"

"Wenn das Feuer des unverstellten Erkennens der Wirklichkeit, so wie sie ist, aus der fehlerfreien Analyse entsteht, wird das Brennholz des begrifflichen Denkens aufgebraucht, so wie das Feuer von zwei Holzzweigen, die man aneinander reibt." (Buddha)

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  1. Der Amazonas wird heuer, nach zehn Jahren, in größerem Maße wiederum aus seinen Ufern treten. Das bedeutet, er wird um mehr als 8 Meter steigen. Die letzte große Flut wird uns Anfang Mai erreichen. Für viele arme Hüttenbewohner besonders rund um Iquitos wird dies ein mittleres Desaster, das sie aber einkalkuliert haben. So leben sie halt: Die Hütte kann forttreiben. Bis dato wurden laut Zeitungsberichten 9.100 Familien evakuiert.

    Ein Anschwellen dieser Größe bedeutet ein Bewegen von Wassermassen ungeheuren Ausmaßes. Bei Tamshiyacu sind es 450 mal 8 Meter, somit 3.600 Kubikmeter Süßwasser pro Sekunde, das sind 3,600.000 Liter in einem Augenblick oder 311 Milliarden Liter pro Tag, eine Menge, von der die gesamte Erdbevölkerung an einem Tag mit einem Konsum von 100 Litern bequem zehren könnte.

    Von diesem Wasserreichtum leben aber nicht Millionen Menschen, weil sie sein Wasser trinken, denn das tun nur die wenigsten. Auch gehen sie nicht in ihm baden. Der Reichtum an Süßwasser gebiert vielmehr gewöhnlich ungesehenen Fischreichtum, das Hauptessen der Armen wie auch der Reichen. Fisch und Kochbanane, wofür man kein Geld ausgeben müßte.

    Dann aber, endlich, nach 3.000 Kilometern, wälzt sich die Mutter aller Ströme, ungezähmt, ohne je durch eine Stromturbine gezwängt worden zu sein, in einem nur von oben auszumessenden Schauspiel, in den Atlantik, jungfräulich geradezu, mit all den Mineralstoffen aus den Anden, zum weiteren Heil dieses Planeten, einem Heil, das nicht in Menschenhand liegt, denn so weit langt diese erbärmliche Hand nicht, um so großzügig zu geben.

  2. Von Kröten und Fröschen (2)

    Die Majestät des nächtlichen Regens läßt den Wetterfrosch zurückkommen auf das Wasser. Der meteorologische Dienst der Hohen Warte zu Wien, die seine Funkmeldung empfängt, trägt die Details in die globale Wetterkarte ein. Außergewöhnlich wasserreicher tropischer Sommer mit vermehrten nächtlichen Niederschlägen. „Es schüttet ganz schön“, meldet der Wetterfrosch. „Die Leute liegen wach in ihren Betten und beten zu Gott, daß das Dach hält. Sie sind verängstigt, weil sie gegen diese Massen nichts tun können. Die Mächte drehen den Wasserhahn auf, wie es ihnen beliebt. Mal stärker, mal weniger, und dann Maximum. Dieses Wasser spült alles weg. Haltet euch nur fest!“

    Und in der Tat, die Sonne macht Pause. Gigantische Wolkenmassen am Firmament. Um 17 Uhr brechen sie auf. Die badenden Kinder jauchzen. Zwei Stunden später liegen sie dann alle tot im Bett, mit offenen Mäulern, das Leibchen verschwitzt. 20 Uhr, die Erwachsenen folgen nach. Heute kein Fernsehen, und keine Fiesta. Totenstille im nunmehr ganztägig elektrifizierten Dorf. Die Kröten beginnen mit ihrem Lied, dem dunklen. Dann und wann rappelt sich einer auf und torkelt schlaftrunken zum Klo. Das Gespenst des phantastischen Traums geistert durch die Häuser und Hütten, strömt ungehindert in die offenen Mäuler der Niedergestreckten. Das eine oder andere Kind beginnt im Traum zu reden. Terry, der nach 11 Jahren aus dem Gefängnis Entlassene, schreit auf und grummelt. Und wieder schreit er. Am nächsten Morgen erinnert er sich an nichts. Die Kater tragen ihre krallenbewehrten Rivalenkämpfe auf den Blechdächern auf, die zur Rennstrecke mutieren. Und die Katzenfrauen gießen mit ihrem Babygejammere Öl ins Feuer. Ein riesiger Falter verirrt sich durchs sperrangelweit offene Fenster ins Zimmerinnere. Fledermäuse jagen ihm nach. Das Moskitonetz bauscht sich. Um Mitternacht die nächste Regenattacke. Und diese, wie mit der Stechuhr bemessen, dauert bis 5. Um 5 legen die Fischer am Hafen an und verkaufen ihren Fang an die Marktfrauen. Die Marktfrauen jauchzen. Der Regen hat aufgehört, hurra, und die Fischer bringen gute Ware. Die Hähne jauchzen auch. Endlich hat der Regen aufgehört, der eklige, der mir mein Federkleid in Unordnung bringt. Und sie plustern sich auf und schütteln sich wie die nassen Hunde, die man von ihrer Pestilenz mit einem Seifenbad im Bach befreit hat.

    Die Regennächte Amazoniens, die einen an so Vieles denken lassen. An die Kinder, an die Kranken, an die Toten, an die Alten, an die bedrängende Not. Diese Regenmassen, die alles fortspülen wollen. „Nehmt mich mit!“, ruft, denkt man ihnen insgeheim in einem Moment zu, kaum dass man es zu denken wagt. Die Antwort folgt auf den Fuß: „Nein, noch lange ist es nicht Zeit! Du hast deine Verantwortung. Tu deine Arbeit! Es gibt noch so viel zu tun!“

  3. Alle hundert Jahre, alle tausend Jahre

    Warum mag Woody Allen Ingmar Bergman, wurde er vor nicht allzu langer Zeit einmal im Interview gefragt. "Weil ich mich schon von klein auf mit dem Tod zu beschäftigen begonnen habe. Ich war ein Knirps, so ungefähr sechs. Bei Bergman mit seinem ihn traumatisierenden evangelischen Elternhaus war es ähnlich. Man sieht es an seinem Werk."

    "Wie sehen Sie das Leben heute, im Alter, Mr.Allen?" Und Woody Allen äußert ein abgeklärtes Statement. "Es ist eine Frage der Perspektive. Eine Frage der Zeitstrecke. Wir sind heute fähig, das Universum zu betrachten. Was sehen wir? Nichts bleibt, so wie es ist. Unsere Erde wird einmal vergehen, dann, wenn die Sonne langsam in ihr Endstadium eintritt und sich aufblähen wird. Keine Sonne bleibt, kein Planet. Die Menschheit vergeht, nichts bleibt. Beethoven, Einstein, da Vinci, Vivaldi. Die Erinnerung wird ausgelöscht. All die Bücher, leider auch all die Filme. Alle Gespräche mit meiner Frau, jeder Ehestreit. Keiner wird sich mehr an das zerbrochene Geschirr erinnern. Und keiner an die Mahnbriefe der Hausbank. Because, everything has gone. Was wir sehen, die Erde, die Natur überlebt uns. Alle hundert Jahre drückt jemand den Knopf, und die Natur beginnt von neuem. Und sie beginnt von neuem. Bis hundert Jahre später wieder jemand den Knopf drückt, und alles wird fortgespült. Diese unfaßbare Gleichgültigkeit. Wie also dazu Stellung beziehen? Natürlich kann ich nicht im Bett liegen bleiben oder mein Leben lang vor dem Fenster hocken. Ich muß etwas tun. Wer hält es im ewigen Nichtstun denn aus? Aber was tun?, das ist die große Frage. Und hier ist der Künstler gefordert. Er nimmt zu dieser Gleichgültigkeit des Kosmos Stellung, mit den Mitteln der Kunst. Er nähert sich aus verschiedenen Richtungen dem Problem des Menschen, also dem Menschen selbst. Er betrachtet den Menschen – und somit auch sich selbst – aus verschiedenen Perspektiven. Er sucht Antworten. Vielleicht vergeblich, aber immerhin kreativ. Doch eines ist sicher: Alles vergeht. Alles, was wir hier sehen, so auch die Staaten, der Präsident, diese Kultur, sofern man sie "Kultur" nennen darf. Alle Namen werden ausgelöscht."

    Wir müssen bis 2060 imstande sein, diesen Planeten zu verlassen, sagt Stephen Hawking. Denn ab 2060 wird der Planet unbewohnbar. Klarerweise durch den bodenlosen Schindluder, den der Mensch mit seiner Geburtsstätte aufführt. Wer wird all die Bücher mitnehmen, all die Kunstschätze? Wer wird den Petersdom einpacken, wer die Pyramiden?

    Wird die Menschheit losziehen, eines Tages, einmal, final? Ohne Wiederkehr? Fort von einem verwüsteten Planeten, wie ein Parasit, der einen neuen Wirt sucht? Fort von Mutter Erde. Spätestens 2060. Ohne Wiederkehr. Allen bleibt der Mund offen stehen. Die Menschheit in Zugzwang. Wer hätte das gedacht!

    "Das kommt alles nach unserem Tod", sagen sich die Lebenden. "Das ist etwas, worüber ich mir in meinem Pensionistendasein nicht den Kopf zerbrechen muß. Das ist vergebliche Liebesmüh‘, außerhalb meines Horizontes. Ich werde schon gestorben sein und damit basta!" Ja, so denken wir. "Was geht das mich an? Das Leben ist schon schlimm genug! Es endet tödlich! Was wollt ihr denn noch?"

    "Ewiges Leben, so wie es uns versprochen wurde, Herr Nachbar. Erinnern Sie sich?"

  4. 1.Dezember 2015, Beginn der Regenzeit

    Der Himmel verhangen. 1.Dezember, ein Stichtag: Kalendarischer Beginn der Regenzeit. Und es regnet, wie auf Bestellung, pünktlich, wie alle 15 Jahre zuvor. Auf diesen Regen ist Verlaß. Wenigstens etwas.

    Es ist still geworden im Dorf, unüblich still. Die Lärmterroristen wurden, so scheint´s, ausgesondert. Eine Nachdenklichkeit liegt in der Luft. Da und dort, über den Tag verstreut, ein Hit, aus Frauenmund. Ansonsten singen Köchinnen und Wäscherinnen bei der Arbeit, vereinzelt. Sie singen.

    Das Schuljahr neigt sich seinem Ende zu. Die Kinder singen auch, unschuldig. Der Schwiegervater, 87, zornig ob seiner Schwerhörigkeit und seines Sterben-Müssens, alleine, ohne Umarmung, Kuß und alltäglichem Tratsch, hat einen Sprechanfall. Episoden aus seinem Leben. Hinter allem: Keiner versteht mich. Seine Stimme rauh.

    Derweilen, 12.000 Kilometer entfernt, andere Menschen, im hohen Alter. Gebrechlichkeit. Sie können jeden Tag fortgehen. Entschlafen. Entschlafen, so wie in "100 Jahre Einsamkeit". Auch Gabriel García Marquéz ist bereits entschlafen, vergangenes Jahr. Ein Schlaf, nicht ewig.

    Eine einsame Stimme ertönt. Die eines kindlichen Knaben im Feiergewand. Er steht einsam auf einem leeren Fußballfeld, vor dem Mikrofon. Er singt die Nationalhymne. Alle Zuschauer stehen erhoben, die Hand auf dem Herzen. Glockenhell schallt seine Stimme durch das Oval, er, der Junge, singt alleine. Manch einem steht eine Träne im Augenwinkel. Dann beginnt das Spiel, der erste taktische Angriff, und das Spiel wird aufgelöst, indem der Boden wegbricht. Christopher Nolans Vision der Vereinigten Staaten.

    Ein Mann, 56, aus einem Leben einsam in den Wäldern, ohne Strom und ohne Gas, in seiner kargen Hütte verwildert, aus North Carolina, fährt nach Colorado, in ein "Zentrum für Familienplanung", und bringt dort drei Menschen um. Er läßt sich widerstandslos abführen. Ein verwilderter, nicht zurechnungsfähiger Mann mit irrem Blick, der vielleicht nicht einmal realisierte, daß ihn sein Mordweg zu einer "Abtreibungsklinik" geführt hatte. Er führte Kriegsgerät mit sich.

    Das ist unser gegenwärtiger Zustand. Abtreibung, Krieg, Wahnsinn. Barrack Obama kann noch soviel dagegen hilflos und resignierend wettern (er ist dabei nicht alleine). Der Irrsinn seiner Mitbürger (und von uns allen) hat andere Gründe. Nicht jenen, daß wir eine geladene Waffe im Handschuhfach mit uns führen oder neben uns im Schlafzimmerkästchen schußbereit gelagert haben. Nur wenige, die sich glücklich preisen können, gesund zu sein. Wenige.

    Die Menschen sehen, was geschieht, und sie schweigen, derweil die Irren, die Gutbezahlten, jene, die sich auf Pfauenthronen der Öffentlichkeit präsentieren, weiter ihren alltäglichen Lügen und Mordgeschäften widmen dürfen, von uns fordernd, daß wir ihnen blind glauben. Sie tun so, als wären sie Gott. Gerade deshalb bringen sie ja Menschen um. Sie instrumentalisieren den Tod und meinen, sich damit auf die Höhe des Allmächtigen emporschwingen zu können.

    Eine Katastrophe. Wer weiß, wo wir am 1.Dezember 2016 stehen werden. Wenn wir ihn überhaupt noch erleben, den Beginn der nächstjährigen Regenzeit. Niemand weiß, wo die Welt am 1.Dezember 2016 stehen wird. Niemand. Niemand von den Menschen.

    Auch nicht Albert Einstein, der vor 100 Jahren die allgemeine Relativitätstheorie formulierte. Eine Theorie, die kaum einer begreift. Aber die Grundaussagen lassen eine Ahnung in mir aufkeimen. Eine Ahnung in vollkommener Stille, bei Nacht, im Bett. Eine Ahnung, eigentlich gleichbedeutend mit dem Versuch einer Vorstellung, ob die Welt nach meinem Tode weiterexistieren wird. Ich spüre dann die Mächtigkeit des Stromes, ein wenig lasse ich das Spüren zu. Ein paar Sekunden gelingt es mir, die Angst zurückzuhalten. Ein paar Sekunden lang steigt eine Ahnung auf. Wohin ist die Flamme der Kerze, die da gerade noch eben gebrannt und geflackert hat, entschwunden? Diese eine Flamme. Und gäbe es nicht einen Menschen, ein Kind, daß den Docht aufs Neue zum Brennen entfacht, mit einem Streichholz, das es zuvor angerieben hat, die Kerze würde niemals mehr brennen, auch wenn sie beileibe noch nicht zu einem Stummel geworden oder bis auf den Grund des Holzsockels herabgebrannt ist.

    Wohin entschwindet das Licht? Wurde es so einfach ausgelöscht, in der Stille der Nacht?

    Der große Strom, die Mutter aller Flüsse. Dank sei Gott, daß es das Wasser noch gibt. Unverseuchtes Wasser zumal. Nicht so wie in Brasilien, wo keiner einen Finger rührt für all die armen Menschen, die Fischer, die Bauern, die Dürstenden.

    Gott ist nicht nur groß, er ist auch gerecht. Wir werden das alles eines Tages sehen. Wann auch immer dieser eine Tag in unsere Illusion hereinbrechen mag. Und er wird gewaltig sein, dieser Tag, unbeschreiblich gewaltig, denn mit ihm endet alles, was die Lüge gebärt. Amen.

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