Dr.Dieter Katterle, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychoanalytiker in Nürnberg. Entnommen der Zeitschrift MUT, Forum für Kultur, Politik und Geschichte, Oktober 2007. Das Gespräch führte Astrid von Friesen.
MUT: Die Scheidungsquote bei Akademikern beträgt bereits 50 Prozent. Im Jahr 2005 wurden 160.000 Scheidungswaisen freigesetzt, fast 500 jeden Tag. Hinzu kommen die nicht gezählten Kinder unverheirateter Eltern nach der Trennung.
Katterle: Für diese Kinder zerbricht eine Welt, beginnt eine Wanderungsbewegung zwischen den Eltern und deren Lebenswelten – wenn sie Glück haben. Für etliche beginnt die Katastrophe des Elternverlustes, denn zwei Jahre nach der Trennung hat die Hälfte aller Scheidungskinder jeglichen Kontakt zum getrennt lebenden Elternteil verloren, in überwiegender Mehrheit zu ihren Vätern.
MUT: Eine der Folgen des Feminismus ist eine flächendeckende Männerverachtung. Sind diese tatsächlich die "Bösen"?
Katterle: Die Palette der Gründe dafür reicht weit: Vom Desinteresse, Wegzug mit großen räumlichen Distanzen, Wiederverheiratung oder neuer Elternschaft, Versagensgefühlen und Scham, Arbeitsplatzverlust, Verarmungsprozessen, Resignation vor dem Dauerstreit bis zum Rosenkrieg um den Besuchskontakt, den bislang meist die Väter verloren. Es liegt auch an der deutschen Rechtslage der mütterlichen Alleinsorge in unehelichen und nachehelichen Situationen und am skandalös unzulänglichen Vollzug der Rechte der Kinder auf geschützten Kontakt mit beiden Elternteilen durch Jugendämter und Familiengerichte. Erst in den letzten Jahren melden sich zunehmend Frauen, die ebenfalls ihre Kinder verlieren. Das lenkt nun den Fokus hoffentlich auf die mit Füßen getretenen Kinderrechte ud diejenigen, die auf Dauer ihr Kind an den anderen Elternteil verlieren. Denn bislang verweigerte man den Vätern die Einfühlung, so als sei ihr rechtloser Zustand belanglos. Vergessen wir auch nicht die schmerzhaften Trennungen von Großeltern, getrennt lebenden Geschwistern und Verwandten, denen diese gemarterten Kinder oftmals von einem Tag zum nächsten willkürlich weggerissen werden! Man kann es vergleichen mit Flucht und Vertreibung zu Kriegszeiten! Diese Szenarien dürften inzwischen über die Jahrzehnte auf einige Millionen angewachsen sein. Ich habe bei einem Gespräch mit der Bundesjustizministerin Frau Zypries am 19.Juni 2007 von einer psychosozialen Massenkatastrophe gesprochen.
MUT: Über die zerstörerischen Folgen haben wir schon viel gelesen, bitte geben Sie einige Stichpunkte dazu.
Katterle: Der Verlust eines geliebten Elternteils ist grundsätzlich ein Trauma. Je früher es im Leben einsetzt und je weniger die Eltern kooperieren, desto nachhaltiger verändert es die psychische Entwicklung bis in die Kernstruktur der Persönlichkeit hinein. Es kann zu zerreissenden Loyalitätskonflikten kommen, zur Ermattung im ewigen Grenzverkehr zwischen den verfeindeten Welten der Eltern oder sich als Parental Alienatiopn Syndrom (PAS), als Eltern-Entfremdungssyndrom, auswirken. Dabei wird das Kind systematisch vom Kontakt mit dem anderen Elternteil abgehalten, manipuliert, indoktriniert, einer Art "Gehirnwäsche" unterzogen, oft mit krimineller Raffinesse, Skrupellosigkeit und primitiver Rachsucht oder zur Erzwingung materieller Vorteile. Nicht zu vergessen, daß nicht wenige Erwachsene schwere psychische Störungen aufweisen und ihr Kind zur eigenen Stabilisierung mißbrauchen, indem sie den getrennt lebenden Elternteil als Monster darstellen, was zu Ablehnungs- und Haßreaktionen der Trennungskinder führt, die nicht aus der Realität der tatsächlichen liebevollen Beziehung zum später getrennt lebenden Elternteil erklärbar sind. Wir Therapeuten wissen, daß diese mißbrauchenden Elternteile oft aus ihrer eigenen Scheidungs-Kindheit schwere Störungen davongetragen haben – denn auch seelischer Mißbrauch kann generationenübergreifend weitergegeben werden.
MUT: Wie laufen solche Prozesse der Aussonderung ab?
Katterle: Von subtiler Manipulation bis zu manifester Mißhandlung. Eine Mutter verriet, daß sie das Kind in der Nacht vor den Vaterkontakten wenig schlafen ließ und ihm ein kratzendes, verfilztes Wollunterhemd anzog. Das überdrehte Kind war dementsprechend überreizt. Die Sozialarbeiterin verknüpfte dies zwingend mit dem Auftreten des Vaters, der Umgang wurde für Monate unterbrochen, weil der Vaterkontakt nicht zumutbar sei, da das Kind ja eine massive Aversionsreaktion gegen ihn zeige. Oder es heißt: "Ich bin sehr dafür, daß mein Kind zum anderen geht, es will einfach nicht mehr, soll ich es vielleicht zwingen?", oder der Kontakt sei gefährlich, das Kind verwirrt, gestört, belastet, wenn es vom Umgang komme. Das instrumentalisierte Kind wird vorgeschoben, der manipulierende Elternteil versteckt sich dahinter. Oder Väter werden gezielt des sexuellen Mißbrauchs beschuldigt – ein Vorwurf, der sich in späteren Glaubwürdigkeitsgutachten allermeist als unwahr erweist.
MUT: Und die Folgen für die Kinder?
Katterle: Es kommt zu schweren Störungen der Identität, weil das Kind die Hälfte seiner Seele offiziell verleugnen muß, um den Schmerz über den Verlust zu ertragen. Gleichzeitig muß es gegenüber dem anwesenden Elternteil "Lieb Kind" spielen. Es entsteht eine Rißlinie durch die kindliche Psyche, eine Amputation, die häufig dazu führt , daß der Erinnerungs- und Gefühlskontakt abreißt – mit der Folge eines chronischen Entfremdungsprozesses, der auch nach realer Wiederbegegnung oft nicht mehr reparabel ist. Angstzustände, Verhaltensauffälligkeiten, Selbstwertverlust, psychosomatische Störungen, Schulversagen, Süchte und Beziehungsunfähigkeit können ebenfalls Folgen sein.
MUT: Ich habe oft den Eindruck, daß bei uns Rosenkriege und Kinderquälerei als "Privatsache" gesehen und die gesellschaftlichen Folgen ignoriert werden.
Katterle: In der Tat: Man ignoriert die eklatanten Folgen. Aus amerikanischen Untersuchungen wissen wir, daß aus vaterlosen Familien zwischen 70% und 90% der Ausreißer, Drogenabhängigen, Kriminellen und jugendlichen Schwangeren kommen. Umgekehrt formuliert bedeutet dies: Kinder ohne Väter sind fünffach häufiger gefährdet, Selbstmord zu begehen, zehnmal häufiger drogenabhängig, zwanzigmal häufiger in Gefahr, im Gefängnis zu landen, als Kinder aus intakten Familien und 73mal mehr gefährdet, wieder Opfer tödlichen Mißbrauchs zu werden beziehungsweise schwere Persönlichkeitsstörungen, sogenannte Borderline-Störungen, zu entwickeln.
MUT: Was erfahren Sie als Psychoanalytiker über die Folgen für die ausgesonderten, rechtlosen Elternteile?
Katterle: Sie sind nicht weniger schlimm. Der Psychiater Gardner, der das bereits zitierte PA-Syndrom konzipierte, beschrieb auch einen spezifisch seelischen Verelendungsprozeß der Elternteile, die ihre Kinder geliebt haben, dann wegen Scheidung aus der Familie herausfallen und denen durch systematischen Boykott die Möglichkeiten zu Kontakten und einer weiteren, wenn auch nur punktuell umschriebenen gemeinsamen Lebenszeit verwehrt wird. Gardner spricht vom "lebenden Tod des Herzens", also einem depressionsartigen, traumatischen Zermürbungs- und Qualprozeß, den diese Elternteile, oft auch Großeltern und Geschwister, durchlaufen. Jahrelang einen verzweifelten Kampf um das Kind zu führen, öffentlich gebrandmarkt zu sein: "Was hat er/sie dem Kind früher wohl angetan, daß es jetzt nicht mehr zu ihm/ihr will?", vor dem Kind als Monster dargestellt zu werden, das Kind nicht mehr sehen zu dürfen, Jahre nicht geteilter Lebenszeit zu verlieren, ist eine nicht heilbare seelische Wunde.
Sie ist allenfalls nur zu mildern, aber nicht kausal zu behandeln, da eine Traumatisierung nicht behandelbar ist, solange sie andauert. Wir finden in den Gruppen der abgespaltenen Elternteile viele psychosomatische Symptombildungen, eine erhöhte Suizid- und Unfallrate, vermehrte Krankschreibungen und einen hohen Beghandlungsbedarf im psychotherapeutischen Bereich – mit Klinikaufenthalten, also einem enormen volkswirtschaftlichen Schaden. Der Selbsthilfeverein "Väter in Not" schätzte einmal etwa 1000 Vaterselbstmorde pro Jahr, die kausal im dauerhaften Verlust ihrer Kinder begründet sind. Für Mütter liegen mir vergleichbare Zahlen nicht vor.
MUT: Warum wird dieses Phänomen immer noch kollektiv verleugnet?
Katterle: Jeder meint, in seiner Umgebung nur Einzelfälle zu kennen. Obwohl es sich hier um eine der größten psychosozialen Massenkatastrophen in der Bundesrepublik Deutschland handelt. Aber wir wollen die extreme Kinder-Not nicht erkennen, weil sie zu sehr schmerzt.
MUT: Was muß sich verändern?
Katterle: Eine Liste mit Vorschlägen haben wir Frau Zypries übergeben, so zum Beispiel:
Erstens: Die Gleichstellung von psychischem Mißbrauch und körperlicher Mißhandlung.
Zweitens: Eine Pflichtweiterbildung für Familienrichter und Jugendamtsmitarbeiter. Hier ergibt es erhebliche fachliche Defizite.
Drittens: Obligate Verfahrensbeauftragte und Ergänzungspfleger mit einem robusten Mandat, um einen geschützten Umgangskorridor sicherzustellen. In Frankreich greifen Strafmaßnahmen bei Entfremdung bis hin zu Gefängnis, wenn die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
Und viertens: Den fortdauernden Beratungszwang gerade für die oft jede Kommunikation verweigernden Mütter oder Väter.
Kinder dürfen nicht im Loyalitätskonflikt zerrissen werden. Die Frage: "Willst du zu Papa oder Mama?" kann man als himmelschreienden Kunstfehler im Umgang mit mißhandelten Kindern bezeichnen.
MUT: Gibt es auch positive Auablicke?
Katterle: Das Cochemer Modell zeigt, daß es mit der Kooperation aller Verfahrensbeteiligten oftmals sehr gut laufen kann.
MUT: Herr Katterle, haben Sie Dank für dieses Gespräch.