Stille Tage in Clichy
Hallo an alle. Wir sind alle noch am Leben. Und wir werden es bleiben, auf die eine oder andere Weise. Ich denke schon. Auch wenn sich das Weggehen dermaßen tragisch ausnimmt. Hallo, guten Tag, wie geht es? Wir sind in einem neuen Jahr. Das war ein bärenheftiger Turnaround. Lauter und verrückter geht´s wohl nicht mehr.
Schiunfälle: Die ehemalige österreichische Innen- und Finanzministerien Maria Fekter; Michael Schumacher (vor laufender Kamera), Angela Merkel. Die Kälteschockwelle in den USA, nach 42° im Sommer. „2013 war stärker als der Hype 2012“, sagt mir ein freundlicher junger Chinese, den ich immer schon gemocht habe. Wie wird erst 2014? Es gab nicht so viele Festtagsgrüsse wie 2012/2013 oder davor. Die Leute, so scheint mir, gehen teilweise auf Tauchstation. Gut so. Denn wir haben ein paar Dinge zu klären, jeder für sich. Oder ein paar Dinge auszuschlafen, 14 Stunden am Stück. Nichts dagegen einzuwenden. Denn die Dinge sind sehr kompliziert, wie Fred Sinowatz vor laufenden Kameras vor Jahren meinte. Ich seh ihn noch vor mir. Auch er schon eine gute Zeit unter der Erde.
Um Vier in der Früh, die Wolfsstunde, kommen neuerdings Schockwellen. Sie reden. Es wird nicht mehr lange dauern, und keiner wird sich mehr daran erinnern, daß wir alle einmal hier an der Oberfläche gelebt und Unsinn getrieben haben. Ja, die Erinnerungslosigkeit ist eine Schockwelle. Das ist ein gigantischer Spuk, und keiner bekennt sich dazu. Oder nur ein paar. Die Amokläufer. Diejenigen, die nach dem Blutbad für sich selbst die Todesstrafe fordern.
Wenn ich durch die Kriegszonen streife, denke ich immer wieder das gleiche. Gewalt über Gewalt, wohin das Auge blickt. Chaos pur. Der tägliche Bürgerkrieg auf den Strassen, – und in den Betten. Und ein Lärm, daß es zum Aus-der-Haut-Fahren ist. Peter Handke war noch nicht in Peru, meine ich. Besser so. Er würde in Lima gleich wieder kehrt machen. Mein Lieblingsschriftsteller, den ich penibel verdaue. Der Spezialist in Sachen „Lärmteufel“. Zum Lärmteufel müßte man ein paar Dinge anmerken. Auf jeden Fall hat er die Hölle auf die Oberfläche gleich mitgebracht. Und sofort reitet er seine Generalattacke: Fort mit „Stille Nacht, heilige Nacht!“ Wenn ihm das gelingt – und es scheint ihm zu gelingen – wird das Christuskind gleich mit dem Bad ausgeschüttet. Beweis bereits zur Genüge erbracht. Und schon kommt die zweite Angriffswelle: „Leute“, trompetet er, „wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt!“ Und siehe da, die Leute scheinen es zu kapieren. „Alles erlaubt! Interessant!“ Wolgograd, das ehemalige Stalingrad. Wahrscheinlich Tschetschenen. Was wissen wir von den Tschetschenen? Nichts! Aber sie sprengen sich der Reihe nach selbst in die Luft. Und im Irak haben die Fundamentalisten Falutscha wieder in ihren Besitz gebracht. Eine Stadt, für die tausende den Blutzoll gezahlt haben. Der Krieg im Irak, wann soll er enden? Wohl nie. Die zweite ewige Kriegsfront, so wie Palästina. Ewiger Krieg im Heiligen Land. Papst Franziskus will heuer nach Bethlehem pilgern.
Und womit hat das neue Jahr noch begonnen? Dem China-Syndrom in Fukujima. Zwei Atomexplosionen im Erdinneren, in das sich der glühende Kern gefressen hat. Eine natürliche, unausbleibliche Kernreaktion. Zwar nur ein Bruchteil von Hiroshima, aber immerhin. Nuklear. 2014 wird ein radioaktives Jahr. Das ficht den American Football nicht an. Sie ziehen ein Match in Wisconsin bei minus 30° durch. Ja, the American Dream. Destilliertes Wasser. 30 Pillen am Tag, 16 Stunden arbeiten.
In den 20er-Jahren verbrachte Henry Miller glückliche Jahre in Paris, es war in Clichy. Er schrieb dazu seine Memoiren. Die wurden verfilmt, in Schwarz-Weiß, mit der Musik von Arlo Guthrie. In 15 Jahren wird sich jene Traumzeit zum hundertsten Male jähren. Heute? Was hält Paris heute in Atem? Die Diskussion um das Verbot der Prostitution! Man höre und staune. Aktion „Clean Sweep“ von emanzipatorischer Frauenseite. Frankreich möchte das älteste Gewerbe der Welt in die Illegalität drängen. Ist Frankreich in irgendeinen Krieg involviert? Natürlich, Afrika. Afrika, der Kontinent des Jahres 2014. Das Symbol von Aufstieg und Fall der Menschheit. Afrika, du dunkler Kontinent. Dich, ja, dich haben sie aller Hoffnung beraubt. In deinen Wüsten krepieren die Kinder. Afrika, unsere Urgroßmutter. Wie quälen sie dich! Und niemand, niemand spricht von Dir! O Mutter!
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In Memoriam Fred Leuchtenmüller
Er war einer der Kulturträger des Stadtteils Langenhart im Weiler St.Valentin. Der geschätzte Leser ist bereits orientiert. Alfred Leuchtenmüller war immer schon Ford-Verkäufer mit Werkstätte, und bald hatte er neben seinem Geschäft auch noch eine Tankstelle. Er war umtriebig und doch gesetzt. Ein Mann, der es verstand, nicht zu eilen, auch wenn seine Termine gedrängt lagen. Er hatte sein Anwesen direkt gegenüber der Langenharter Kirche, der er sich ein Lebtag lang verbunden fühlte. Bei den Fronleichnamsprozessionen war einer der Altäre immer auf seinem Anwesen, so wie das alljährliche Pfarrkirchenfest. Fred Leuchtenmüller war groß und füllig. Das auffälligste war seine voluminöse Baritonstimme, die immer – wie gesagt, er ließ sich nie zur Eile treiben -, aber auch wirklich immer ihr gesetztes Tempo beibehielt. Er formulierte denkerisch und absolut pragmatisch. Es gab keine Lebenssituation – zumindest in der Öffentlichkeit, in der wir ihn hörten – in der nicht diese raumgreifende Stimme, dieses Timbre dominierte. Fred wurde auch nie ausfällig. Das war schon gar nicht seine Art. Wie sonst hätte er sich seinen päpstlichen Orden verdient? Und tatsächlich, dem war so. Fred Leuchtenmüller war Träger eines päpstlichen Ordens, was soviel heißt wie, er war ein Gönner der Kirche. Selbst der Bischof stieg bei ihm ab und ließ sich von der örtlichen Tarock-Mafia, der Fred Leuchtenmüller angehörte, zu ein paar Stunden angestrengten "Kartelns" verleiten. Die Tarockrunde, wie bereits bekannt, existierte seit gut 40 Jahren. Der Leichenbestatter, der Schuster, die Bankangestellte, der Pfarrer, der Kirchenwirt und der Arzt gehörten ihr an. Sie wanderten traditionell reihum. Einmal hier, einmal dort, immer mit Abendessen. Fred Leuchtenmüller war ein konservativer Spieler. Das Spiel gehörte ihm zum Geschäft und mußte als solches wohl kalkuliert sein. Deshalb verbat ER es sich – er war der Wortführer in dieser Sache -, daß der Pfarrer dermaßen schlampig mischte. Er maßregelte den Pfarrer, der ja immerhin auch bereits "Monsignore" war, choram publicam deutlich. So mischt man nicht! "Sind Sie etwa mischfaul?", fragte er den Pfarrer. Es war ein sonores Grummeln, das dem Geistlichen ins Gebein fuhr. Alle stimmten ihm heimlich bei. Denn wie wir von Erich Dangl bereits wissen, ließ der sich von niemandem dutzen, auch nicht vom Ford-Verkäufer Leuchtenmüller. Als der Bischof Krenn, dessen Leidenschaft dem Tarock und den leiblichen Genüssen galt, sich zum Pfarrbesuch einfand, wurde er den folgenden Nachmittag bei Leuchtenmüller im Garten von der Runde, die ihr Ritual zelebrierte, gekonnt und ohne Pardon eingeseift. Zu Beginn wurde Bischof Krenn aus dicken Münztöpfen penibel das Kleingeld eingewechselt. Danach, oh weh, machte er keinen nennenswerten Stich mehr. Seine Solos gingen alle in die Hose. Die Herren der Runde führten ihn geradezu vor, auch Monsignore Dangl, der, wie in der Begräbnisrede des Dechants Zarl eröffnet wurde, "beim Tarockieren keinen Pardon kannte, auch nicht gegen seinen Bischof".
Leuchtenmüller war eine Institution. Er hatte keine Feinde. Er lebte im Geschäft und fuhr zeitweise weite Strecken nach Deutschland hinaus, immer alleine, und nie im Zug. Ford war sein Motto.
Er war verheiratet mit einer bidhübschen Frau, einer schwarzhaarigen. Die Frau war ihm sein Glück, und ihr parierte er, wohlerzogen, wie er war. Ich hatte die Ehre, beide ein wenig näher kennenzulernen, als wir mit der Bank eine Sankt-Lorenz-Strom-Reise nach Kanada unternahmen, eine kurze Woche lang. Leuchtenmüller war nicht aus der Ruhe zu bringen. Er schlief, wenn er schlafen wollte, ansonsten gab er kurze Kommentare zu diesem und jenem, unüberhörbar im Bus. Man brauchte ihn nicht zu sehen, um ihn zu verstehen. Fred amüsierte sich, ich erinnere mich, im passenden Moment über die ständige Eile unseres kanadischen Guides. "Was der dauernd rennt!"
Ein paar Jahre später erlitt Fred während einer Deutschland-Fahrt eine Hirnblutung. Er wollte sich partout nicht in ein deutsches Krankenhaus einliefern lassen. Er hielt trotz unerträglicher Kopfschmerzen, die ein Auge kurzzeitig erblinden ließen, eisern durch, die paar Stunden, obwohl er wußte, das konnte der Tod mitten auf der Autobahn sein. Zuhause angekommen, wollte er noch immer nicht die Hausärztin rufen. Er telefonierte am Tag danach mit seinem Tarockfreund, dem pensionierten Arzt. Der ließ sofort die Rettung kommen.
Vor zwei Jahren starb ihm die Gattin, um ein Stück jünger als er, aus heiterem Himmel. Seine Liebe, der er treu war. Das knickte ihn. "Der Fred", so sein Freund Karl, "trauert Tag und Nacht um seine Frau. Das wird nicht lange so gehen. Er hat nichts mehr auf dieser Welt verloren." Und in der Tat, so sah ich ihn, den unvergeßlichen Fred Leuchtenmüller, bei meinen letzten zwei Heimatbesuchen. Das eine Mal auf der Post. Ein nachlässig gekleideter Geistesabwesender, der nicht einmal mehr gerade ging. Und das zweite Mal Ende Oktober, nicht einmal zwei Monate vor seinem Tod, im Supermarkt, am Nachmittag. Er erschrickt über die vor ihm zugehende automatische Schiebetür. "Was ist das?", entfährt es ihm, als er zurückzuckt. Dann ging die Tür wieder auf. Ich wagte es nicht, ihn anzusprechen. Ich meinte, er würde mich vielleicht nicht mehr erkennen. Er war nicht mehr da. Ein nicht mehr Hierhergehörender. Ein von der Majestät Gezeichneter. Trauer.
Fred Leuchtenmüller entschlief im Schlaf, am 27.Dezember 2013, im 78.Lebensjahr. Mein Vater kommentierte das Ableben seines langjährigen Weggefährten über die Distanz mit den Worten: "Vielleicht Lungenembolie. Er hatte nach seinem Schlaganfall eine versteckte Hirnschädigung. Alles kann im Alter nochmals durchbrechen. Er starb in seinem Bett, friedlich schlafend. Das gibt eine große Leich."
Es war mir ein Bedürfnis, diesem Herrn einen Nachruf zu schreiben. Er war es wert, ohne Zweifel. Ciao von Herzen, Herr Leuchtenmüller!
Anni, die Kirchenzeitungsaustraegerin
Sie fuehrte Zeit ihres Leben ein stilles Leben. Ein stilles und unauffaelliges, ein harmonisches, ganz und gar anspruchsloses. Dieses ihr Leben war dermassen anspruchslos, dass es schon wieder auffaellig wurde, verbraemt unter dem nostalgiebeladenen Glanz der Heimat- und Gemeinschaftsliebe. Anni Brunner, "die Brunner Anni" im Volksmund, wurde sehr frueh Witwe. An ihren Mann habe ich keine bewusste Erinnerung. Sie war ein Engel, ein Engel auf Erden, wie es derer immer noch gibt, Gott sei Dank, und wohl, nochmals sei Gott Dank, auch immer geben wird, sogar unter den schwierigsten Verhaeltnissen. Die Anni lebte am Ende der Heimstrasse, in einer ausgedehnten, absolut stillen Wohnsiedlung. Ihr Haus samt dem frontseitigen Garten war in meinen kindlichen Augen der Inbegriff der Idylle, um genauer zu sein: der Tiroler Idylle, denn das Haus, dessen Fassade, war ganz und gar untypisch: Ein Wellenverputz, Dachgiebel und Balkon aus rustikalem dunkelbraunen Holz, und unter dem Giebel, als Kroenung von allem, ein alpines Landschaftsgemaelde, wie sie zum Standardbegriff des oesterreichischen Heimatgefuehls gehoeren. Schneebedeckte Berggipfel, See, ein einsames Haus, Waelder. Wer von den beiden hatte diese Idee?, frage ich mich heute. Das ganze Haus roch anders. Harzig. Es war immer gepflegt. Das Holz immer gebeizt. Die Baeume immer getrimmt, der Rasen geschnitten. Hatten sie nicht auch einen halbversteckten Goldfischteich?
Wie auch immer, der Mann starb frueh. Das war ein Drama, erinnere ich mich, das besonders die Mutter verschreckte. Die Anni traenenaufgeloest. Ihre Kinder kannte ich nicht. Ihr Privatleben war Geheimsache. Sie war Patientin meines Vaters. Einmal, so erinnere ich mich jetzt, wartete ich im Auto vor ihrem Haus. Ja, das war zu der Zeit, wo der Mann im Sterben lag. Und das im Angesicht dieser Landschaftsidylle. Und der Vater, im Einsteigen (ich war ein G’schropp von nicht mehr als acht): "So ein schoenes Haus und der Arme hat nicht mehr lange etwas davon…" Der Vater war traurig und nachdenklich. Ich wagte nicht zu antworten. Die Todesfaelle seiner Patienten habe ich nie kommentiert und auch schon gar nicht erfragt. Und er schwieg uns Kindern gegenueber dazu immer.
Die Brunner Anni wurde also frueh Witwe, und von da an, mit einer Witwenrente ausgestattet, widmete sie sich voll der Kirche, wohnte sie doch Ecke Heimstrasse/Kirchenstrasse. Die Langenharter Kirche war 200 Meter entfernt. Sie widmete sich dem Blumendienst im Kircheninneren und draussen in den Veilchen und Tulpengevierten und begann das Kirchenblatt der Dioezese St.Poelten auszutragen, im ganzen Stadtteil, und sie war es, die somit alle Glaeubigen, das heisst, alle Abonnenten des Kirchenblattes, kannte, und sie wusste auch von allen, wie diese aktuell ueber die Kirche dachten. Die Anni war kleingewachsen, sie trug immer einen Hut oder ein Kopftuch, und immer einen Mantel. Zeitweise fuhr sie mit dem Rad Austragen, zeitweise ging sie, wohl um sich ruestig zu halten. Sie laeutete aus Gewohnheit zuerst ueberall, und erst dann, wenn sich niemand meldete, steckte sie das Kirchenblatt zusammengerollt ins Postfach. Sie war nicht leutscheu, im Gegenteil, sie trug immer ein ehrliches Laecheln im Gesicht und kannte die Leute alle beim Namen. Sie fand immer und ueberall einen Gespraechsanschluss, und wenn es Not war, gab sie die freundliche, unverdrossene Speerspitze des Pfarrers ab, etwa, wenn eine Sammlung, wie z.B. fuer die Kirchenrenovierung, bevorstand oder wenn sie die Sternsingeraktion muendlich ankuendigen sollte. Die Anni war immer informiert, auch ueber manch unerwartete Wendung in der Stimmungslage des Kirchenvolkes, somit ueber jeden Schimpfer, oder wie wir es im Mostviertel nennen, ueber jeden Puh.
Die Anni war immer freundlich, und sie hatte einen charakteristischen, geschwinden Watschelgang. Sie trug Brillen. An ihren milden Augen ersah man, sie hatte einmal viel geweint. Ihre Gesichtshaut war wettergegerbt. Die Anni war das Gegenteil einer Stubenhockerin. Sie war immer auf den Beinen. Es stimmt mich traurig, dass ich keinen natuerlichen erweiterten Zugang zu ihr fand, aber heute bilde ich mir ein, das war, weil sie so wie ich wusste, dass ich damals vor dem Haus gewartet hatte, als der Tod bereits heranzumarschieren drohte, damals. Es gab diese stille Herzensverbindung aus stiller Pein. Ein oder zwei Mal nahm ich ihr das Kirchenblatt an der Haustuer aus der Hand. Da strahlte sie uebers ganze Gesicht ueber meine freundlichen Worte. Und keine Frage: Sie erkannte mich in der ersten Sekunde. Das war ganz und gar nicht selbstverstaendlich. Dieses lachende, innig beruehrende Gesicht, es strahlte religioese, unkompliziert einfache Verzueckung aus. Das war Heimat, Herz.
Die Anni ging bis zuletzt Austragen. Dann brach sie zusammen und wurde ein Pflegefall. Der einzige Sohn konnte sich nicht um sie kuemmern und uebergab sie dem ortsansaessigen Pflegeheim. Um dessen Kosten zu decken, verkaufte er den rueckseitigen Wiesengrund. Der Vater als Nachbar kaufte ihn ohne zu zoegern zur Erweiterung seiner Wildwest-Ranch, und er feilschte auch nicht um den Kaufpreis. "Das", so murmelte er in seinen Bart, "hat die Anni nicht verdient. Es ist schon traurig genug, dass sie jetzt im Heim liegen muss." "Und was wird mit dem Haus, diesem schoenen?", fragte ich ihn, und er verstand sehr wohl, wie ich es gemeint hatte, und er laechelte mich an und brummelte knorrig: "Da war ein anderer aus Linz geschwinder als wir, ein Bankspezi, und wenn ich’s recht ueberlege, und sag’s mir doch du: Was haetten wir mit dem Haus gemacht? Vermachen will gekonnt sein und Erben auch."
Und so verlosch das Licht der Brunner Anni, dieser treuen Seele, und ich maehe heute, wenn ich zuhause bin, mit dem Traktor ihren Garten, den rueckseitigen, diesen naturbelassenen, und wenn ich unter den Kernobstbaeumen und den Reisighaufen herumkurve, kommt es mich kurz harsch an, "Ach Gott, koennte die Zeit nicht einmal still stehen?" Ach Anni, pfiat‘ di‘, du treue Seel‘!
Maria Lager
Sie war meine Quartiergeberin von 1980 bis 1986. Ich wohnte bei ihr zur Untermiete, als Student. Eines Tages hatte ich von meiner alten Bude, eigentlich einer zeitlosen grauen Ruine in Wien 9., Stroheckgasse 6, Tür 12, genug. Etwas trieb mich dazu, den "Kurier" aufzuschlagen, dessen Mietangebote. Die eine Annonce stach mir wegen des Preises und der Lage in die Augen. Linzerstrasse 196, Wien 14., das war weit draußen vom Zentrum, das war "Vorstadt". Ich fuhr hinaus und klopfte bei der Vermieterin. Sie war Tschechin, eine Frau in ihren Siebzigern, hochtoupierte Frisur und ein breites, theatralisches Hexenlächeln auf dem Gesicht. Die Wohnung, zwei Zimmer, ca. 30 Quadratmeter, drei helle Fenster auf den Hof hinaus, das Anwesen eines ehemaligen Gasthofs mit Ziegen- und Kaninchenstallungen. Draußen an der Wand der wild wuchernde Efeu, "Feitschi", wie man ihn auf dem Land nennt. Es gab einen Warmwasserautomaten mit drei Litern und eine Elektroherd mit zwei Platten. Sie schaltet die größere Platte ein und legt meine Hand drauf: "Funktioniert! Sehen Sie?" Sie öffnet den Kühlschrank und steckt ihn an. Das Lämpchen leuchtet auf. "Funktioniert auch. Sehen Sie?" Dasselbe macht sie mit dem Durchlauferhitzer. "Hat nur drei Liter, aber wozu braucht der Mensch mehr, und Sie sind ja ein junger Spritzer." Sie hatte recht. Ich lebte seit 5 Jahren ohne Warmwasser. Das Wiener Hochquellwasser ist das beste Wasser weltweit. Ich sagte ihr auf der Stelle zu, obwohl ich mir vorgenommen hatte, zuerst noch nachzudenken. Aber ich hatte keinen Vergleich. Ich stand in der Wohnung, an der Seite von Maria Lager, und sah auf den Hof hinaus, der gekrönt war von einem blühenden Nußbaum. Ich sagte ihr zu. Die Miete betrug 1.000,- Schilling. Im letzten Jahr unserer Mietzeit, nach ein para Jahren, wollte sie um 100,- Schilling erhöhen, aber da startete sie unversehens an der Schwelle zu ihrer offenen Wohnung zu einem Monolog: "Wann werde ich einen besseren Mieter als Sie finden, Herr Nachbar, und ich werde bald sterben, also was soll ich meiner Tochter um 100,- Schilling mehr hinterlassen? Lassen wir’s dabei, Sie werden es mir danken und Sie haben mich nie enttäuscht und immer pünktlich bezahlt." Ich zahlte pünktlich am ersten, Direktübergabe, ohne jeden Vertrag. Maria Lager war Tschechin. Sie kam aus Budweis und war hier verheiratet. Sie betrieb mit ihrem Mann das rustikale Gasthaus. Es gab Ziegen und Hasen, keine Schweine, denn die machten zuviel Dreck und Geschrei. Sie schenkten Budweiser aus. Das war schon damals ein Renner. Es gab Betrunkene, die schafften es beim besten Willen nicht bis nach Hause. Die schliefen im Garten oder bei den Ziegen in der Streu. Sie hatten Heu. Damals war die Adresse echte Vorstadt. Wiesen und Gärten. Maria Lager muß so um 1906 geboren sein. Wie sie nach Wien kam, war sie 20, das war also 1926. Es blieben ihnen 13 Jahre bis zum Krieg. Die Lagers hatten nur ein Kind, eine Tochter, eine wirklich rüstige Maid, sie wohnte gegenüber, mit ihrem Gatten, einem Brigadier des Bundesheeres, und ihrer Tochter. Der Gatte fuhr einen Audi, den er in der Innenhofgarage unter der Wohnung der Schwiegermutter abgestellt hatte. Das Herein- und Hinausfahren war Zentimeterarbeit, was er all die Jahre perfekt und ohne die leiseste Nervosität zu meinem Respekt manövrierte. Ich sprach ihm diesen einmal aus, ich erinnere mich, und er erwiderte ohne Stolz, sanft und bescheiden: "Alles Gewohnheit und Augenmaß!" Ich wechselte sonst nie ein Wort mit ihm, es ergab sich keine Gelegenheit. Seine Gattin hingegen sah mich oft beim Wohnungsputz: Die Fenster (ohne Sicherung), der Teppich. Die Lager hatte einen Teppich in meiner Wohnung, den ich nach der ersten Nacht wegen störender Geruchsentwicklung inspizierte. Es stellte sich heraus, daß er herbe Zeiten hinter sich gehabt haben mußte. Er war an einer Stelle schwer mit eingetrocknenten Fäkalien verdreckt. Offenkundig hatte hier jemand über eine längere Zeit hinweg seine Notdurft verrichtet, und die Vermieterin hatte es nie bemerkt oder, was ich auch für möglich hielt, es war ihr egal. Wie auch immer, das bedurfte einer Generalreinigung draußen auf dem Vorplatz, unter der streng-skeptischen Inspektion der Besitzerin, die aus ihrem Hexenhäuschen herunterlugte. Die Tochter sah von der anderen Seite her aus dem ersten Stock lobend zu. Meine Geschäftigkeit in Sachen Wohnungsputz erregten das Mißtrauen der guten Frau Lager, aber das war nur tiefes Schauspiel. Erst mit der Zeit begriff ich, was hier gespielt wurde.
Es begann damit, daß es im Herbst bitterkalt wurde in der Wohnung, die Ostseite. Ich klopfte die Wand ab, reine Pappe. Die Südseite: Provisorischer Verputz. Ich sagte nichts und machte mich winterfest. Ich schlief mit Pudelhaube und Heitzmatte, die ich nach einer Stunde im Schlaf ausschaltete. Am nächsten Morgen hatte ich Eis an der Wand und auf dem Bart und Reif auf der Schlafdecke. Die Decke habe ich heute noch, hier, in wärmeren Gefilden. Sie hat 40 Jahre auf dem Buckel, und wenn sie nach meinem Tod niemand haben will, nehm ich sie mit ins Grab. Nach dem ersten Winter also fragte ich meine Tschechin: "Winterfest ist Ihre Wohnung nun wohl nicht, Frau Lager?" "Was wollen Sie, junger Mann? Hier war Krieg! Wir wurden abgeschossen, bumm bumm, und weg war unser Wirtshaus. Hier auf der Stiege lagen die toten Soldaten reihenweise, mit glasigem Blick, und mein Ferdinand kam nicht mehr zurück. Mit wem, bitte, hätte ich das alles wieder aufbauen sollen?"
Die Antwort genügte. Nach dem zweiten Winter schaltete ich auf Sparmodus um und feuerte den Kanonenofen nicht mehr umsonst. Den Tag über in der Studienbibliothek (derer gibt es in Wien mehrere, alle sehens- und besuchenswert), am Abend im Militärpullover. Das Wasser auf der Toilette fror uns nie ein. Die Lager stelle eine Kerosenlampe auf, mehr nicht. Sie war Sparmeisterin, doch in ihrer Wohnung war es immer pudelwarm. Wir teilten uns die Toilette. Auch damit hatte ich nie Schwierigkeiten.
Sie war rustikal. Das ist wohl noch eine Untertreibung. Sie hatte einen Kater, Murrli, er war nicht kastriert. In der Zeit der Rolle begannen die Kämpfe zwischen den Katern im Hof, und die waren nicht von schlechten Eltern. Der Kater wohnte im Freien. Die Lager ließ ihn nie in die Wohnung. Er schlief auf ihrer Fußmatte. Bisweilen begegneten wir einander, wenn ich nachts aufs Klo mußte. Ab und zu stellte sie ihm die Futterschüssel hin, vielleicht war es sogar jeden Tag. Ich hatte den Eindruck, es wäre unregelmäßig gewesen, aber vielleicht täusche ich mich. Die Lager war also Sparmeisterin, soviel steht fest. Was sie ihrem Liebling servierte, weiß ich nicht, aber daß sie der nächtlichen Räuberbande, wenn sie es zu arg trieben, ihren Nachttopf hinunterschüttete, soviel steht fest. Am Morgen lag der Kater mit zerfleddertem Ohr wie eine wundstrotzender Ritter ermattet und blutig auf der Matte. "Hat der andere heut Nacht schon wieder gewonnen, Murrli! Armer Kerl!"
Die Lager hatte in den anderen Wohnungen, auch im ehemaligen Ziegenverschlag, eine Jugobande als Untermieter, alles genügsame, freundliche, verschworene Leute, mir scheint, schon seit Jahrzehnten. Einer von ihnen war der Hausmeister. Patente Leute. Mit Jugos und Türken konnte ich schon immer gut. Das blieb so bis zu meinem Fortgang von Wien.
Zweimal lud sie mich zu Kaffee und Kuchen ein, im Sommer, abends, der Fernseher lief. Sie formulierte fundamentale Sätze: "Würde die Welt sich nur so vertragen wie wir beide mit einander. Die erste Freundin, die Sie hatten, die hätten Sie heiraten können, eine fesche Maid, aber sie war nicht von hier, habe ich Recht? Und die, die Sie jetzt haben, die werden Sie bald wieder verlieren, die trägt die Nase zu hoch, und Treue bedeutet ihr nichts, sie wollte mich grad nicht einmal grüßen, und das in meinem eigenen Garten. Wien war nie meine Stadt, auch wenn ich ohne Akzent spreche. Nicht, ich habe keinen Akzent?" "Nein, haben Sie nicht, Frau Lager." "Gefällt es Ihnen hier bei mir, mit dem Nußbaum, jedes Jahr aufs Neue?" "Ja, wem sagen Sie das! Und die Raben im Herbst und im Winter, die sich die Nüssen aus der Dachrinne klauben." "Raben und Krähen, junger Mann! Den Krähen kann niemand böse sein, wissen Sie, warum?" "Ja, das ist mir schon aufgefallen…" "Warum übernachten die Krähen oben, im Park, bei den Verrückten? Was glauben Sie, warum? Und warum, glauben Sie, kommen sie aus Sibirien hierher, hierher, in meinen Garten?" Ich blicke sie groß an. "Haben Sie sich jemals erschreckt, wenn Sie mich des Nachts am Klo gesehen haben? Ich mache aus Gewohnheit kein Licht." "Das erste Mal, Frau Lager, aber ich muß gestehen, ich habe damit gerechnet." "Sehr ehrlich, Sie junger Spritzer. Sie wissen also, daß ich eine alte Hexe bin. Haben Sie mir etwas zu erzählen?" "Ja, ich habe nie besser geschlafen als hier bei Ihnen, hier habe ich meine Ruhe, und wenn ich abends aus dem Fenster schaue, sehe ich den Potala-Palast." "Den was?" "Na ja, einen Palast aus einem fernen Land." "Ah, da schau her. Was der Herr nicht alles sieht. Haben Sie sich je geekelt, daß wir dasselbe Klo benutzen?" "Nein, nie, Frau Lager. Und es hat nie gestunken." "Na, sehen Sie, ich stinke nicht. Ich benutze kein Parfum, ich habe nie eins benutzt und werde auch nie eins benutzen, und ich benutze auch kein Deodorant, und trotzdem stinke ich nicht. Warum, glauben Sie, weshalb?" "Weil sie nicht schlecht denken, obwohl sie letztens zu ihrer Tochter hinuntergerufen haben, sie solle sich den Strick geben" "Und warum, junger Mann, glauben Sie, daß ich nicht schlecht denke?" "Weil Sie Ihren Kater nicht verhätscheln." "Nur deshalb?" "Nein, natürlich nicht, aber ich habe Sie nie fluchen gehört, Frau Lager, und außerdem habe ich den Eindruck, daß Sie ganz und gar nicht die Person sind, für die man Sie halten könnte. Ich zum Beispiel weiß nur, daß Sie regelmäßig zum Friseur gehen. Ihr Haar steht Ihnen überhaupt ausgezeichnet." "Ja, finden Sie?", greift nach hinten hinauf und löst eine Spange. Das Haar fällt ihr tief in den Rücken, sorgfältig gekämmtes Haar. Sie schüttelt den Kopf, sodaß es sich gleichmäßig verteilt. "Eine Pracht, Frau Lager!" "Ja, das Haar ist mein ganzer Stolz. Mein Vater war deswegen in mich verliebt. Er ließ es nie zu, daß sie mir das Haar schnitten, denn die Mutter wollte genau das. Sie sagte, ich werde noch zu einer männerverführenden Hexe mit diesem Haar. Sie hat sich getäuscht. Ich hatte nur meinen Mann. Der hat mir genügt. Nach seinem Tod kam mir kein anderer mehr ins Bett."
"Frau Lager, das ist vielleicht etwas indiskret…" "Wollen Sie mir auf den Zahn fühlen, ob ich nicht doch einen Liebhaber hatte…?" "Nein, ganz und gar nicht. Nein, Sie sind nur eine geheimnisvolle Person und wir haben wirklich prächtig all die Jahre zusammengelebt. Aber ich habe den Eindruck, Sie leben in einer ganz anderen Welt, Frau Lager." "Ach, mein Herr, das ist lieb von Ihnen! Wer vermag das je zu wissen? Ich bin eine alte Schachtel, und Sie gehen bald fort. Sparen wir uns das, bis wir klüger sind."
16 Jahre später kehrte ich eines Nachmittags an den Ort zurück. Die Tochter verließ in dem Moment in einem Kleinwagen den Hof. Ich schlich in den Hof hinein. Der Feitschi wucherte immer noch. Maria Lager war nicht mehr hier.