„Es ist an der Zeit fuer dich zu erfahren, weshalb du in der Lage warst, eine verbesserte Version deiner urspruenglichen Arbeit wahrzunehmen.“
Esperanza setzte sich aufrecht und zwinkerte mir zu, so als sei sie im Begriff, mir ein bedeutungsvolles Geheimnis zu enthuellen.
„Waehrend der Traumwache haben wir Zugang zu unmittelbarem Wissen.“
Sie beobachtete mich eine Weile, und ich bemerkte die Enttaeuschung in ihren Augen.
„Stell dich doch nicht so dumm!“ schnappte N?lida ungeduldig. „Du solltest waehrend der Traumwache gemerkt haben, dass du, wie alle Frauen, ueber die einmalige Faehigkeit verfuegst, Wissen direkt aufzunehmen.“
Mit einer Handbewegung brachte Esperanza sie zum Schweigen und sagte: „Weisst du, dass einer der Hauptunterschiede zwischen Mann und Frau in ihrer unterschiedlichen Annaeherung an Wissen besteht?“
Ich hatte keinen Schimmer, wovon sie sprach. Bedaechtig entfernte sie ein unbeschriebenes Blatt von meinem Notizblock und zeichnete zwei menschliche Figuren darauf. Den Kopf der einen kroente sie mit einem Kegel und nannte ihn den Mann. Auf die Spitze des anderen Kopfes zeichnete sie den gleichen Trichter, jedoch mit der Spitze nach unten, und bezeichnete die Figur als Frau.
„Maenner erwerben Wissen schrittweise“, erklaerte sie und zeigte mit ihrem Bleistift auf die Figur mit dem Kegel auf dem Kopf. „Maenner greifen ueber sich; erklettern den Weg zum Wissen. Die Zauberer behaupten, dass Maenner sich zum Geist hin verjuengen, wie ein Kegel; sie verengen sich auf ihrem Weg zum Wissen. Dieser Prozess limitiert ihre Reichweite.“ Sie zog den Kegel auf der ersten Figur mit dem Stift nach. „Wie du siehst, koennen Maenner ledigleich eine bestimmte Hoehe erreichen. Ihr Weg zum Wissen endet in der Spitze: der Spitze des Kegels.“
Sie sah mich aufmerksam an: „Gib acht“, warnte sie mich und zeigte mit ihrem Bleistift auf die zweite Figur, die den umgekehrten Kegel auf dem Kopf trug. „Wie du sehen kannst, steht dieser Kegel auf dem Kopf; er ist offen wie ein Trichter. Frauen sind in der Lage, sich der Quelle direkt zu oeffnen. Oder besser gesagt, die Quelle erreicht sie auf direktem Weg durch den weit geoeffneten Fuss des Kegels. Die Zauberer behaupten, dass die weibliche Verbindung mit dem Wissen eine expansive ist. Die der Maenner dagegen ist relativ beschraenkt. Maenner stehen dem Konkreten naeher“, fuhr sie fort. „Sie zielen nach dem Abstrakten. Frauen sind dem Abstrakten verbunden und versuchen trotzdem, das Konkrete nicht zu vernachlaessigen.“
„Wie kommt es, dass Frauen, wenn sie doch dem Abstrakten so offen gegenueberstehen, als die Unterlegenen angesehen werden?“ unterbrach ich sie.
Esperanza warf mir einen faszinierten und verzueckten Blick zu. Bedaechtig erhob sie sich und streckte sich wie eine Katze, bis die Gelenke knackten, dann setzte sie sich wieder.
„Die Tatsache, dass Frauen als minderwertig und die weiblichen Eigenschaften im besten Fall als den Mann ergaenzend betrachtet werden, hat mit der unerschiedlichen Art und Weise zu tun, in der sich Maenner und Frauen dem Wissen naehern“, erklaerte sie. „Allgemein sind Frauen eher an Macht ueber sich als an Macht ueber andere interessiert, waehrend letztere eindeutig eine maennliche Domaene darstellt.“
„Das ist auch unter Zauberern nicht anders“, warf N?lida ein, und die Frauen lachten.
Esperanza fuhr mit ihren Ausfuehrungen fort und erklaerte, dass Frauen es ihrer Meinung nach urspruenglich nicht fuer notwendig erachtet hatten, ihre Auffassungsgabe als Mittel zu einem direkten und erweiterten Kontakt mit dem Geist zu benutzen. Sie sahen keinen Grund, ihre natuerliche Kapazitaet zu intellektualisieren; es war ihnen genug, sie zu benutzen und zu wissen, dass sie sie besassen.
„Ihre Unfaehigkeit, sich direkt mit dem Geist zu verbinden, brachte die Maenner dazu, ueber den Prozess der Wissensaneignung zu sprechen. Sie sprechen immer noch davon. Und genau diese Behauptung, naemlich zu wissen, wie man sich dem Geist naehert, das Beharren darauf, diesen Vorgang zu analysieren, gab ihnen die Ueberzeugung, dass es sich bei dem Vorgang des logischen Denkens um eine typische maennliche Fertigkeit handelte.“
Esperanza erklaerte, dass die Begriffsbildung des Verstandes ausschliesslich von Maennern unternommen worden war und dass dies den Maennern erlaubt hatte, die Talente und Errungenschaften der Frauen zu schmaelern. Und was noch schlimmer war, es hatte den Maennern gestattet, weibliche Eigenschaften aus der Formulierung verstandesmaessiger Ideale vollstaendig zu verbannen.
„Natuerlich glauben die Fauen mittlerweile selbst an diese Definition“, hob sie hervor. „Frauen haben gelernt zu glauben, dass einzig Maenner rationell und folgerichtig zu denken imstande sind. Mittlerweile tragen Maenner einen Berg unverdienter Vorurteile vor sich her, der sie automatisch zu Ueberlegenen macht, unabhaengig von ihren wirklichen Faehigkeiten oder davon, wie gut sie sich vorbereitet haben.“
„Auf welche Weise haben Frauen ihre direkte Verbindung mit dem Wissen verloren?“ fragte ich.
„Sie haben diese Verbindung nicht verloren“, korrigierte Esperanza mich. „Frauen haben weiterhin eine direkte Verbindung mit dem Geist. Sie haben lediglich vergessen, wie sie zu benutzen ist und haben die Aussage der Maenner uebernommen, die behauptet, sie haetten diese Verbindung nicht. Seit Tausenden von Jahren haben Maenner dafuer gekaempft, dass Frauen diese Verbindung vergessen. Denk nur an die Heilige Inquisition. Das war ein systematisches Unterfangen mit dem Ziel, den Glauben auszurotten, der besagt, dass Frauen eine direkte Verbindung zum Geist haben. Bei jeder organisierten Religion handelt es sich um ein ausgesprochen erfolgreiches Manoever, Frauen in untergeordneten Positionen zu halten. Religionen beschwoeren ein goettliches Gebot, das Frauen als minderwertig beschreibt.“
Verwundert sah ich sie an und fragte mich, wie es moeglich war, dass sie ueber eine derartige Bildung verfuegte.
„Der Drang des Mannes, andere zu dominieren und das mangelnde Interesse der Frauen am Ausdruck ihres Wissens bilden eine ausgesprochen unheilige Allianz“, fuhr Esperanza fort. „Sie ermoeglicht es, Frauen vom Augenblick ihrer Geburt an zu der Ueberzeugung zu zwingen, dass ihre Erfuellung im Nestbau, in der Liebe und Heirat, im Gebaeren und in der Selbstverleugnung liegt. Frauen sind von den vorherrschenden Formen abstrakten Denkens ausgeschlossen und zur Abhaengigkeit erzogen worden. Der Glauben, dass Maenner fuer sie denken muessten, ist ihnen so gruendlich antrainiert worden, dass die Frauen das Denken schliesslich aufgegeben haben.“
„Frauen sind sehr wohl in der Lage zu denken“, unterbrach ich sie.
„Frauen sind in der Lage zu formulieren, was sie gelernt haben“, korrigierte Esperanza mich. „Und was sie gelernt haben, ist von Maennern bestimmt worden. Maenner definieren, was das Wissen an sich ist, und von dieser Definition haben sie alles mit dem Weiblichen Verbundene ausgeschlossen. Sollte es doch Bestandteil ihrer Definition sein, dann steht es ausnahmslos im negativen Licht. Und die Frauen haben sich daran gewoehnt.“
„Sie sind Jahre hinterher“, warf ich ein. „Heutzutage koennen Frauen alles machen, was ihr Herz begehrt. Sie haben Zugang zu fast allen Bildungsstaetten und koennen beinahe jeden Beruf ausueben.“
„Das ist bedeutungslos, solange sie ueber keine Basis und keine systematische Unterstuetzung verfuegen“, beharrte Esperanza. „Was nuetzt es schon, den gleichen Zugang wie Maenner zu haben und trotzdem wie ein minderwertiges Wesen behandelt zu werden, das maennliche Verhaltensweisen annehmen muss, um erfolgreich zu werden? Die erfolgreichsten Frauen sind die vollkommen Umgewandelten. Und die blicken auf andere Frauen herab.
Nach Auffassung der Maenner werden Frauen durch ihre Gebaermutter geistig wie koerperlich behindert. Sie haben zwar Zugang zum Wissen erlangt, sind aber an der Definition dieses Wissens nicht beteiligt worden.
Nimm als Beispiel die Philosophen“, schlug Esperanza vor, „die reinen Denker. Einige von ihnen sind vehemente Frauenfeinde. Andere sind in dieser Sache etwas weniger direkt und geben zu, dass Frauen unter Umstaenden so faehig wie Maenner sein koennten, wuerden sie Fragen des Verstandes nicht so desinteressiert gegenueberstehen. Sind sie dagegen interessiert, so sollten sie es nicht sein. Denn fuer eine Frau ist es bekoemmlicher, wenn sie ihrem Wesen treu bleibt: ein unterstuetzender, abhaengiger Begleiter des Mannes.“
Esperanza hatte diese Worte mit unerschuetterlicher Autoritaet vorgetragen. Trotzdem wurde ich nach wenigen Augenblicken von starken Zweifeln uebermannt. „Wenn es sich bei Wissen wirklich um ein maennliches Konstrukt handelt, weshalb besteht ihr dann darauf, dass ich mein Studium abschliesse?“ fragte ich.
„Weil du eine Hexe bist und deshalb wissen musst, was wie auf dich einwirkt“, erwiderte sie. „Bevor du etwas ablehnst, musst du verstanden haben, weshalb du es ablehnst.“
„Das Problem ist, dass die Quelle des Wissens heutzutage einzig aus logischem Denken besteht. Doch folgen Frauen einer vollkommen anderen Herangehensweise, die niemals auch nur in Betracht gezogen wurde. Diese Herangehensweise kann ebenfalls zur Wissensbildung dienen, doch wird dieses Wissen nichts mit logischem Denken zu tun haben.“
„Womit dann?“ fragte ich.
„Das musst du selbst entscheiden, nachdem du das Handwerk des logischen Denkens und Verstehens gemeistert hast.“
Ich war mittlerweile vollends verwirrt.
„Nach Ansicht der Zauberer“, erklaerte sie, „koennen Maenner keinen aussschliesslichen Anspruch auf Verstand haben. Im Augenblick scheint es jedoch so, weil sie ihren Begriff von Verstand auf ein Gebiet anwenden, das ueberwiegend von maennlichen Vorstellungen beherrscht wird. Wenden wir den Verstand also auf ein Gebiet an, auf dem Weiblichkeit dominiert. Und bei diesem Gebiet handelt es sich selbstverstaendlich um den umgekehrten Kegel, den ich dir erklaert habe. Die Verbindung der Frauen mit dem Geist.“
Sie neigte ihren Kopf und ueberlegte, was sie als naechstes sagen sollte. „Diese Verbindung muss unter einem anderen Aspekt des Verstehens gesehen werden. Ein Aspekt, der noch nie zur Anwendung gelangt ist: Die weibliche Seite des Verstandes“, sagte sie.
„Woraus besteht die weibliche Seite des Verstandes, Esperanza?“
„Aus vielen Dingen. Eines davon ist ganz gewiss die Faehigkeit zu traeumen.“ Sie sah mich fragend an, doch ich hatte nichts zu sagen.
Unerwartet lachte sie ihr tiefes Lachen. „Ich weiss wohl, was du von Zauberern erwartest. Du suchst nach Ritualen, Zauberspruechen, geheimnisvollen Kulten. Du moechtest singen. Du moechtest eins mit der Natur werden. Du moechtest mit Wassergeistern kommunizieren und suchst nach dem Heidnischen. Ein romantisches Bild vom Treiben der Zauberer. Sehr germanisch.“
„Um den Sprung in das Unbekannte zu wagen“, fuhr sie fort, „brauchst du Mut und Verstand. Nur dadurch wirst du in der Lage sein, anderen von den Schaetzen, die du dort finden magst, zu berichten.“
Offensichtlich erpicht darauf, mir etwas Wichtiges mitzuteilen, beugte sie sich zu mir. Sie kratzte sich am Kopf und nieste fuenf Mal, wie es auch der Hausmeister getan hatte. „Du musst entsprechend deiner magischen Seite handeln“, sagte sie.
„Und was soll meine magische Seite sein?“
„Die Gebaermutter.“
Sie sagte dies mit derartigem Gleichmut, als sei sie an meiner Reaktion nicht interessiert, und fast haette ich die Antwort ueberhoert. Als mir die Absurditaet ihrer Bemerkung aufging, setzte ich mich aufrecht und starrte auf die Anwesenden.
„Die Gebaermutter!“ wiederholte Esperanza. „Die Gebaermutter ist das ultimative Organ der Weiblichkeit. Sie verleiht den Frauen jene zusaetzliche Kraft, die sie benoetigen, um ihre Energie zu buendeln.
Sie erklaerte, dass die Maenner auf ihrer Suche nach Ueberlegenheit die geheimnsivolle Kraft der Frauen – ihre Gebaermutter – zu einem biologischen Organ reduziert haetten, dessen einzige Funktion darin bestand, zu reproduzieren und den Samen des Mannes zu tragen.
Wie auf ein Stichwort, erhob sich N?lida, ging um den Tisch herum und stellte sich hinter mich. „Kennst du die Geschichte der Verkuendung Marias?“ fluesterte sie mir ins Ohr.
Kichernd wandte ich ihr mein Gesicht zu. „Nein, kenne ich nicht.“
Im gleichen vertraulichen Fluesterton erklaerte sie mir, dass in der Juedisch-Christlichen Tradition einzig Maenner in der Lage waren, die Stimme Gottes zu empfangen. Frauen, mit Ausnahme der Jungfrau Maria, waren von diesem Privileg ausgeschlossen.
Dass ein Engel Maria zufluesterte, so sagte N?lida, war selbstverstaendlich. Nicht so selbstverstaendlich war die Tatsache, dass der Engel Maria lediglich ankuendigte, dass sie ein Kind Gottes austragen wuerde. Die Gebaermutter erhielt kein Wissen, sondern das Versprechen des Samen Gottes. Ein maennlicher Gott, der wiederum einen anderen maennlichen Gott erzeugte.
Ich wollte mich besinnen und ueber das Gesagte nachdenken, doch mein Verstand war nur noch ein wirrer Strudel. „Wie steht es mit maennlichen Zauberern?“ fragte ich. „Sie haben keine Gebaermutter, und doch sind sie eindeutig mit dem Geist verbunden.“
Esperanza betrachtete mich mit unverhohlener Freude; dann blickte sie ueber ihre Schulter, als habe sie Angst, jemand koenne uns belauschen und fluesterte: „Zauberer sind in der Lage, sich nach der Absicht und nach dem Geist auszurichten. Sie haben aufgegeben, was ihre Maennlichkeit ausmacht. Und sie sind keine Maenner mehr.“
Florinda Donner-Grau, Traumwache. Muenchen 1996. S.324-333