El Hombre Perro "alias" Lionel Messi
Heute ist es Zeit, einem echten Heros, einem Künstler und unermüdlichen, nur selten niederfallenden "Rackerer" in seinem Fach, einem echten Ballzauberer, stellvertretend für alle jugendlichen, glücklichen Fans, Dank abzustatten. Diesem quirligen Dribbelkönig, für den Toreschießen wahre Kunst bedeutet, zuzurufen, wie sehr wir uns an seiner Lauffreude und seinen genialen Doppel- und Trippelpässen laben, seinem schelmisch zaghaften Lächeln in diversen Werbespots, seiner bubenhaften Freude, wenn er sich mit den Mannschaftskollegen seines FC Barcelona nach wiederum einmal geglücktem Tor am Rasen wälzt.
Lionel Messi ist der Heros der Jugend. „Der weltbeste Fußballer“, kommentiert Fachmann Isai lapidar. „Sein zweites Tor gegen Bayern in Camp Nou war reine Kunst. Nach dem ersten habe ich aus vollen Lungen geschrien. Hast Du mich gehört, Papa? Ins kurze Eck, ansatzlos. Neuer war unvorbereitet. Ein Aufsitzer, der beschleunigt. Das letzte Goal, von Neymar, ein Messi-Traumpaß in den leeren Raum. Neymar lief alleine auf Neuer zu, düpierte ihn mit einer Täuschung und netzte ein.“
Salomon Karli, 11, ist in Sachen „Messi“ ungleich gefährdeter. Sein Leiden, sprich: seine Aufregung, beginnt bereits 24 Stunden vor dem Match. Er wägt alle Faktoren ab, dann kommt das Pre-Match-Urteil: „Badstuber, Robben, Ribéry und Alaba sind verletzt. Der einzige torgefährliche Stürmer, Lewandowsky, spielt wegen Knochenbrüchen mit einer Gesichtsmaske. Selbst der beste Trainer der Welt, Pep Guardiola, wird dagegen kein Rezept finden. Arme Bayern! Camp Nou wird diesmal ihr Untergang sein. Wirst sehen! Und außerdem, wir haben noch eine Rechnung offen (damals verlor Barcelona zuhause gegen die Bayern 0:2, und insgesamt mit 0:6; eine Demütigung). Sie werden die erste Hälfte torlos halten. In der zweiten werden sie untergehen. Ein Geniestreich Messis wird den Damm brechen. Wirst sehen!“ Und so geschah es. Mein Junge fiebert mit, während das Spiel läuft. Es gibt unberechtigten Penalty, Shaluco weint beinahe. Ter-Steegen hält, Karli hängt an der Decke. Ja, Lionel Messi, „La pulga“, die „Zecke“, wie er in Spanien und in Lateinamerika genannt wird, läßt die Jugend und junggebliebene Altsemester mitfiebern. „Er ist wirklich schwer zu halten. Es ist beinahe unmöglich.“ So Pep Guardiola. Kein Kompliment aus berufenerem Munde von einem, der jahrelang mit dem argentinischen „Superstar“ trainiert hat.
Zusammenschnitte ausgewählter Szenen wahrer Fußballkunst zeigen die Qualitäten dieses kurzgewachsenen Spielers; wahre Gustostückerl. Eine technische Beherrschung des Balles sondergleichen. Blindes Verständnis mit seinen Spielpartnern. Die Übersicht eines Adlers für den entscheidenden Lochpaß. Messis Auge ist überall. Er schießt ansatzlos, ohne aufzublicken. Er zieht ohne Gewalt vom Leder. Meistens schlenzt er das Spielgerät über den herauslaufenden, den Boden abdeckenden Goalie. Alles ohne Anstrengung. Toreschießen macht ihm Spaß, so wie seinem eleganten Langschlacks Neymar und dem „Bösewicht“ Suarez, dem WM-Beißer, der den Dreiertraumsturm Barcas komplettiert. Die „alte Dame“ Juventus wird am 6.Juni im Berliner Olymiastadion nichts zu lachen haben. Das Finale der Champions-League ist heuer praktisch bereits gelaufen. Die Buchmacherquoten sprechen eine deutliche Sprache. Und dann haben wir ja auch noch, um es nicht zu vergessen, das Cup-Finale, la Copa del Rey. Bitte, wir sprechen heuer, wie allseits bekannt, ja vom "Triple"…
Die Mannschaftsaufstellung des FC Barcelona liest sich wie ein „Who is who“ der Ballestererkunst, derweilen die galaktische Truppe Real Madrids mit dem unantastbaren „CR7“ und dessen Compagnons Garreth Bale und Karem Benzema zu bitterer Abwesenheit verdammt ist. Ausgerechnet ein zu Turin abgewanderter Madrilene war der Sargnagel der Galaktischen in Santiago Bernabeu.
Wenn ich mir Andrés Iniesta in der Autowerbung anschaue, dann bleibt mir der Mund offen stehen und ich staune wirklich, und das ist etwas, was mir eigentlich nicht oft passiert. Er schießt den Ball durch die offenen Fenster eines zuerst stehenden und dann vorbeifahrenden japanischen Wagens. Ich dachte nicht, daß so etwas möglich wäre. Ja, anscheinend gibt es ein paar Gottbegnadete auf dem grünen Rasen, und sie führen Kunststücke auf, die machen einen baff. So wie dieser Zlatan Ibrahimovic, ein ehemaliger Kollege Messis. Schlichtweg ein Verrückter. Der Exzentriker schlechthin, aber immerhin ein gottbegnadeter.
Ja, Lionel Messi ist für den Fußball geboren. Für den Fußball, nicht für das Steuern-Zahlen. Da verdonnerte ihn der spanische Fiskus zu einer Nachzahlung von 15 Millionen Euro. Ein Klacks. Das wird unter Galionsfiguren des runden Leders ohne Pressekommentar abgeführt. Immer noch hundert Mal besser als im Koks zu versinken wie Maradona, oder bei Nobelprostituierten wie Ronaldinho. La Pulga war ein Zwerg, aber wollte unbedingt ein Fußballstar werden. Barcelona heuerte ihn mit 11 an. Mit 11! Messi verabreichte sich Wachstumsspritzen in den Oberschenkel. Vielleicht ist es das, was ihn heute öffentlich erbrechen läßt, so wie beim WM-Finale gegen Deutschland. Isai hegt deshalb Mitgefühl mit La Pulga. Ein Junge, der sich nach oben kämpfte, weil die Welt des Rasens und des Leders sein Leben bedeuteten. Seine Eltern wußten es, und er selbst auch. Sie scheuten keine Mühe, um von Buenos Aires nach Barcelona zu reisen, einen anderen Planeten. Der kleine Argentinier hatte eine Mission zu erfüllen. Und dann schaffte er es in die Kampfmannschaft, und er schoß sein erstes Tor (welches auf Youtube besichtigt werden kann).
Die fußballverrückte Jugend Spaniens und Lateinamerikas rückt Mister Dribblanski auf den Pelz. Er versteht sie und läßt sich für ein Benefizspiel in Lima engagieren. Und damit sind wir beim springenden Punkt: Ich schulde Salomon Karli eine Eintrittskarte im Camp Nou. Das werden schlußendlich wohl mehrere Karten sein, denn da wollen noch andere mit von der Partie sein. In diesem Sinne wünschen wir Lionel Messi, dem Beglücker der Jugend und neuerdings am rechten Unterarm in Gelb tätowiert, alles Gute in den entscheidenden Momenten, die wir in Superzeitlupe für die Nachwelt archivieren wollen.
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Ich habe Dir nie einen Rosengarten versprochen
Ein versonnener Autofahrer bremst im Ortsgebiet vor dem Zebrastreifen ab. Die Frau, rechts stehend, blickt ihn dankend an. Eine Frau aus der Vergangenheit. Seine ehemalige Nachbarin. Er hat sie seit 30 Jahren nicht mehr gesehen. Seit damals, als sie ihren im Fortgehen begriffenen Mann ein letztes Mal an der Hand ausführte und sie einander begegneten, in einer lärmumtosten, betonernen Bahnunterführung. Sie hat sich nicht verändert. Ihr Blick immer noch tiefblau, wie reinstes Brunnenwasser. Die Frau, deren Gedanken er als Kind nie lesen konnte. Ihr Name: Bertha. Sie waren zwei Nachbarinnen gleichen Taufnamens, sie und die Witwe rechterhand, deren Mann, ein Klarinettist, so früh versterben sollte.
Sie hatten einen Hund, die Wiesingers. Einen Straßenköter, wie man zuweilen sagt, einen schwarzen. Eine Hündin, „Susi“. Der Hund heulte nächtelang, vor Traurigkeit. Nie kam jemand drauf, warum die Hündin bei Nacht traurig wurde, und nur bei Nacht. Das Tier hatte sein Fressen, ja sogar seine Hütte. Doch bei Nacht stand sie am Zaun und heulte, heulte gottserbärmlich. Dann ließen sie das altersschwache Tier, mit dem kein Kind jemals spielen wollte, obwohl es nicht biß, einschläfern. Kurze Zeit später starb Walter. Er, der nicht mehr wußte, wer er war. Er, der talentierte, unermüdliche, gebückte Tischtennisverteidiger. Er, der Klubschachspieler. Er hatte den treuen Hundeblick. Seinen Aufblick mit großen Augen werde ich nie vergessen. Und nicht seine rostige, so ganz typische Stimme. Er war Bundesbahner aus Passion.
Ein anderer war Tischler, mitten im Ort, Steinakirchen am Forst, doch oben am Berg. Ein für die Tischlerei ungeigneter Ort wie kein zweiter. Die Auffahrt steil wie nur was. Das ganze Anwesen hatte etwas Zinnenhaftes. Ihr Garten fiel den Berg ab. Nicht steil, aber doch spürbar. Die Frau des Hauses, eine Hebamme, züchtete herrlich duftende Rosen am Rand der kleinen Terrasse. Das war ihr Stolz, ihre Erholung, mitten in dem sonst doch entbehrungsgezeichneten Leben in den Ausläufern des Ötscherlandes. Der Tischler war ein Unikat. Das Leben lehrte ihn früh. Er wurde früh Waise. Er hatte früh kein Zuhause. Er wurde früh ein erfahrener Hund. Er biß dort zu, wo er Nahrhaftes fand. Er liebte das Essen, das Rauchen und schnelle Autos. Und er spielte Schach, ein blutiger Amateur. Doch immerhin, er kannte die Regeln. Und die Regel des Schachspiels – und hier muß ich einmal weiter ausholen, weil es ums Prinzip geht -, die Regeln des Schachspiels fangen nicht bei den Figuren an, sondern damit, wie man das Brett aufstellt. Die Kuriositätensammler der Schachhistorie kennen dieses Phänomen, seit es die Fotographie gibt. Auf mindestens der Hälfte aller Fotos, auf denen Menschen beim Schachspielen abgelichtet werden, steht das Brett falsch. Ich kenne einen Pfarrer und mehrere Inhaber von Kursalons: Deren Rasenschach steht falsch, und sie können es nicht fassen, wenn ich ihnen sage: „Das Brett steht falsch!“ Und in der Tat: Sie handeln nach der Faustregel „Linkes Feld des Weißen ist weiß“. Sie definieren die Diagonale a1/h8 als weiße. Sie meinen, das habe keine Auswirkungen auf das Spiel. Das meinen diese Schachspieler, für die das Spiel reiner Zeitvertreib ist, wirklich. Sie spielen nach einer fundamentalen Regel, die falsch ist, und wissen nichts von ihrer Ignoranz.
Nicht so der verdrießliche, beleibte Tischler, den man praktisch nie ohne Zigarette sah. Er verlost die Steine, ich habe Weiß. Doch es ist sein Schachbrett. Er hat es selbst furniert. Er stellt mir das Brett vor die Nase. Ich will es um 90 Grad drehen. „Laß es so! Es ist schon richtig.“ „Aber …“ will der Spund einwenden. „Nein, so wie es steht, ist es richtig“, bestimmt der Tischler. „Dein Vater ist ein Narr!“ Die erste Partie zwischen uns gewann er. Zur Revanche kam es nicht mehr, denn die Gattin rief zur Jause. Damit war ich infiziert, – und, wie es scheint, bin es bis heute. Bis heute habe ich ein Ohr für all jene, die im Brustton der Überzeugung „Schwarz – Weiß“ sagen. „Bist Du sicher, daß Du „Schwarz – Weiß“ sagen willst und nicht „Weiß – Schwarz“?“ In solchen Diskussionen entgehe ich nur knapp dem Tod. In der zweiten Partie, der Revanchepartie mit dem Fiat-Fahrer, auf meinem Schachbrett, zuhause, er war bei uns samt Familie zu Besuch, spielte ich mit unterdrückten Tränen. Der Mann ließ mich gewinnen. Ich blicke ihn an, und er mich. Ich sehe die Wahrheit. Das beschämt mich. „Das hab‘ ich übersehen“, grummelt er nasal. Es verschlägt mir die Sprache, doch die ganze Verkrampfung ist weg. „Wirst sehen, Bub, Du wirst noch viel lernen!“ Ein Lehrer fürs Leben. Ein maßgeblicher. Anton Resch († am 28.Mai 2015, um 12:30 Uhr im Krankenhaus Scheibbs). Ihm verdanke ich es, daß ich nicht zum Mörder wurde.
Der Tod kennt kein Alter
Frauen haben mir immer schon imponiert. Ehrliche Frauen. Solche, die spontan sprechen, ohne Herumüberlegen. Aus tiefem Herzen, sozusagen. Was zählt denn mehr als das Herz unserer Mitmenschen. Menschen, die keine Mörder sind. Menschen, die nicht verhärtet sind.
Die Verzweiflung der Menschen sollte uns doch zutiefst anrühren. Und diese Anrührung, so meine ich, darf auch in Worte gefaßt werden.
Ich spüre, ich suche nach dem rechten Zugang.
Der Tod ist mir kein Übel. Ich hadere nicht mit dem Tod. Er ist nicht mein "Todfeind", um den von Elias Canetti gebrauchten Begriff zu strapazieren. Und er ist auch nicht das "Böse", wie es mir jüngst ein seit Kindesbeinen an liebgewordener Herr, mittlerweile in den 80ern, aus tiefem Herzen gestanden hat. Ich glaube, niemand kann sich aufschwingen, um etwas Definitives über den Tod zum Besten zu geben. Er ist auch nicht das notwendige Übel. Er ist eine Herausforderung. Nennen wir es einmal so. Die persönliche Herausforderung. Sie kommt auf uns zu über unsere Mitmenschen. Das stilisiert, oder sagen wir vielleicht besser: verankert doch erst das Prinzip der Mitmenschlichkeit in unserer sozialen Mitte. Die Menschen neben uns sterben. Sie entschwinden. Bis auf den heutigen Tag. Wir können das nicht einfach so hinnehmen, meine ich. Wir sind aufgefordert, dazu Stellung zu beziehen, indem wir unseren Mitmenschen danken, sie würdigen. Sie gehen, sie entschwinden, und sie werden nie mehr wiederkehren. Das ist doch faktibel. Der Dialog in Körperlichkeit endet unabänderlich. Mögen sie im Geiste zu uns sprechen. Doch das körperliche Gegenübertreten der Kreatur, es wird nie mehr geschehen. Was bleibt sind Erinnerungen, eine nur allzu kurze Zeit. Und dann gehen auch wir.
Wie könnte ich es denn anders nennen als „wahre Liebe“, die, in der Erinnerung, aus dem Mund der Verblichenen spricht, vor allem jenem der Frauen? All die jungen Mütter, die dahingerafft wurden. Was für ein Schock für die Männer.
Die Frauen, die sich aufbäumten. „Es gibt nichts Schlimmeres als das Altern“, sagte mir meine Nachbarin, es ist schon 23 Jahre her. Ein gutes Jahr später starb sie, alleine. Sie hatte alle Tränen geweint, die sie in ihrer Seele gesammelt hatte. Nächtelang weinte sie. Wir lagen wach. Ihr Mann hatte sie all die Jahre betrogen. Ich habe sie nie gefragt, ob sie etwas geahnt hatte.
Meinem lieben Neffen, einem Kämpfer von Natur aus, wurde die Frau, sie war erst 27, eine stämmige, unverwüstliche Frohnatur durch und durch, bei der Geburt des ersten Kindes, einer Tochter, geraubt. Das Kind überlebte. Was für ein Schlag. Gott im Himmel! Meinem Cousin Michael wurde die Gattin ebenso geraubt, die drei Kinder waren noch G´schrappen. Innert eines Monats war sie tot. Gehirntumor. Ich kann diese meine verwitwten Verwandten nur mit tiefstem Mitgefühl inniglich grüssen. Doch es gibt, auf beiden Seiten, Unzählige. Die Dramen des Lebens könnten uns den Atem rauben. Wohl niemand hat die Statur, das alles auszuhalten.
Sie gehen nur allzu bald fort. Erst viel später fangen wir an, bewußt zu denken. Erst viel später fangen wir an, uns zu erinnern. Da sind sie längst fort, die heroischen Frauen, – und ihre Männer. Sie sind längst fort, und oft wissen wir nicht einmal, wo sie begraben liegen.
Und ich frage mich: Wo sind all die Millionen begraben in diesen grauenerregenden Megalopolen, Tokio, Yokohama, Manila, Djakarta? In diesen Stätten des kalten Stahls. Wo sind all die Friedhöfe, die Friedhöfe der Einkehr, des stillen Betens, die Friedhöfe unserer Dörfer? Spurlos verschwundene, ohne Grab. Ein Gräuel.
Sie entschwinden, und nur ein Bild bleibt. Ein Bild, das zu Tränen rührt. Amen.
Mein unvergessener Haarschneider
Bis heute denke ich mit Wehmut an ihn. Er war eine Persönlichkeit im Dorf an der Bundesbahn, eine gern gesehene, eine gern aufgesuchte. Er gehörte von Frühzeit an zum Personeninventar des Marktes, der Haarschneider Heinz Strasser, im Volksmund „der Strasser Heinz“. Im Anfang war er der einzige Haarschneider, neben der Coiffeuse Alwine, die sich ausschließlich den Frauen widmete. Heinz Strasser widmete sich anfangs auch den Frauen, doch er entschied sich schlußendlich aus einer strategischen Grundsatzüberlegung heraus, das Frauengeschäft nicht überborden zu lassen. Der technische und personelle Aufwand für einen Damensalon hätte den Rahmen seines bescheidenen Lokals gesprengt. So galt der Strasser Heinz als der einzige traditionelle Männerfriseur, „der ohne jeden Schnickschnack“, im Ort. Er legte immer selbst Hand an, das ging gar nicht anders, denn das Haareschneiden war sein gelerntes Métier. Er war darin unbestrittener Meister. Ich kam bereits mit Drei in seine Hände. An das Ereignis damals habe ich keine Erinnerung, doch das Erlebnis war, so wurde mir zugetragen, schweißtreibend für den Vater. Ich wollte mir, auf seinem Schoß sitzend, um keinen Preis die Haare schneiden lassen. Das ist einer der ersten Eckpunkte in meiner Biographie, und, bei genauerem Betrachten, zurecht. Ich habe nie verstanden und werde das auch nicht verstehen, dieses Beharren der Eltern auf einer „geschniegelten“ Frisur, diese beinahe Kahlkopffrisur, die mich immer erinnert an die Standardfrisur der deutschen Landser und der SS. So war es zumindest in den frühen 60er-Jahren. Die Beatles begehrten ja, wie allseits bekannt, dann später mit ihrer Pudelfrisur dagegen auf. Das Beharren der Mutter auf beinahe Kahlgeschorenheit bei mir, dem Knaben, das gute 10 Jahre anhielt, war ein maßgebender und weitreichender Störfaktor im Verhältnis zu ihr, Indiz für ihr fehlendes Einfühlungsvermögen.
Der Strasser Heinz jedoch tat, wie ihm geheißen. Einmal kam ich ein zweites Mal zu ihm, beinahe mit Tränen in den Augen und mich genierend, weil das erste Resultat in den Augen der Mutter ungenügend ausgefallen war, in den seinen jedoch genügt hatte. Er gab mir tröstende Worte mit auf den Lebensweg, als er die zusätzlichen kürzenden Korrekturschnitte anbrachte. Heute weiß ich, daß diese seine Worte für den Lebensweg gedacht waren: „Wirst sehen, junger Mann (er nannte mich zeitweise „junger Mann“ und ab und zu mit meinem Vornamen, scheu, wie mir vorkam, obwohl er ihn nur allzu gut kannte), die Haare wachsen schnell wieder nach, und im Sommer ist kurz besser als lang.“ Ich war ihm aus tiefstem Herzen dankbar, daß er mich in dieser so peinlichen Situation mütterlicher Willkür ohne Umstände verstand. Der Haarschnitt kostete damals fünf Schilling, und der Ausspruch der Mutter, „für fünf Schilling muß er mehr schneiden“, ich solle es ihm so sagen, öffnete mir damals auf dem denkwürdigen Fußweg zu ihm, diese 500 Meter, die Augen für den Eigensinn und die faschistische Gesinnung einer Frau, die zufällig meine Mutter war, die es sich aber selbst gestattete, bei ihrer Coiffeuse Stunden zu verbringen. Und was eine Damenfrisur für verschiedene Anlässe kostet, hat mich nie interessiert. Ich habe auch nie eine aus eigener Tasche bestritten. 75 Jahre später, also vor ein paar Jahren, holte ich die hochgebrechliche Mutter von unserem nahegelegenen Frauencoiffeur ab und bezahlte mit dem grünen 100-Euro-Schein des Vaters. Weder ihn noch mich interessierte das Rückgeld. Damit schloß sich eine Klammer. Eine Lebensklammer.
Zurück zu Strasser Heinz. Er hatte einen Charakterkopf, irgendwie. Dunkel, italienisch, freundlich, leicht gebeugt, hoch aufmerksame, immer interessierte, lebendige, nie müde Augen und eine Stimme, die mir wie Öl ins Gehör kroch. Diese Stimme fasziniert mich bis heute. Eine unglaubliche Sanftheit. Eine Flüsterstimme. Die Form der Kommunikation zwischen uns beiden, wenn ich in diesem grauen Kunststofffauteuil, das mit einem Zischen in die Höhe fuhr und sogar dessen Lehne sich einstellen ließ, war erregend. Ich hatte jedes Mal eine Gänsehaut unter der Schutzplane. Ich sprang auf diese Stimme an. Er sprach diskret. Nicht heimlich, diskret. Er redete mit mir so wie mit allen anderen Kunden, ganz selbstverständlich. Er blickte mich über den Spiegel hin an, das war vom ersten Moment an lustig. Er war an mir interessiert, tatsächlich. „Wie geht´s in der Schule? Was gibt es Neues? Was treiben die Eltern? Wie verstehst du dich mit den Geschwistern? Wieviel seid ihr?“ Das waren keine Scheinfragen. Hier war jemand an mir interessiert, und so etwas, ja, so etwas kam höchst höchst selten vor: Echtes Interesse. Sein Augenausdruck, diese freundliche Stimme, hier paßte alles zusammen. Ich genoß sein Verfahren. Diese professionellen Hände. Dieses Schereschneiden auf den Millimeter. Das Schnippschnappgeräusch der geschliffenen Schere. Manchmal machte er, wie in einer eingefleischten Übung, auch in der Luft Schnippschnapp, wie um Augenmaß für die nächste Bahn zu nehmen. Die Art, wie er mein Haar, das vorsätzlich gut gewaschene („Mit fetten Haaren geht man nicht zum Coiffeur!“), anfaßte, kann ich nicht anders als als „vorsichtig“ bezeichnen. Dann das Abrasieren des Nackens, der Schläfen und der Ohrenrundung mit dem Rasiermesser, das er am Lederriemen schliff. Diese schabend kratzende Millimeterführung eines potentiellen Mordinstrumentes. Freilich, auf diesen Gedanken kam ich bei Strasser Heinz nie. Wirklich nie, und das bedeutet etwas. Das bedeutet viel, sehr viel. Hier war ein durch und durch friedfertiger Mann am Werk. Ich hatte immer diese Gänsehaut, – Zeichen, wenn ich in Anwesenheit eines Erwachsenen gänzlich aufgeschlossen war. Diese Stimme! Ein intime Stimme, dem Kunden, dem Kind zugewandt. Er hatte mich gern. Einmal wusch er mir das Haar, ja wirklich. In einer Nackenschüssel. Diese ganze Luxusprozedur war mir insgeheim peinlich und kam gänzlich unerwartet, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Das war, als ginge ein Freund Winnetous in die Wildweststadt zum Barbershop, um sich dort das wüstenzerzauste Haar waschen zu lassen. Das Eigenartige an der ganzen Angelegenheit aber war der Umstand, daß mir diese „Handreichung“ der Haarwaschung keinerlei pekuniäre Kalamitäten bescherte, und ich kann mir bis heute nicht erklären und mich erinnern, wie das zugehen konnte. Wirklich nicht.
Strasser Heinz war Patient meines Vaters, so wie seine ganze Familie. Das begann etwa 15 Jahre später, in meiner studentischen Rübezahl-Zeit. Ich war nicht mehr Kunde von Herrn Strasser. Der liebgewonnene, gute Mann, so erfuhr ich beim Mittagstisch, erlitt familiäre gesundheitliche Schicksalsschläge. Es schmerzte mich, das zu hören. Zuerst die Gattin. Er legte sein Gewerbe zurück, als es auch ihn selbst traf, ich glaube, Hirnblutung. Noch härter der Schlag. Sein Lokal stand alsbald leer, zur Vermietung. Ein eklatanter Schmerz für lange Zeit, daran vorbeizugehen. Ich vermißte ihn wirklich, den Strasser Heinz. Es war nicht zu glauben. Nein, es war nicht zu glauben. Das tote Lokal mit seineer charakteristischen Eingangstür.
Dann, Jahre später, völlig unerwartet, traf ich ihn auf dem Rohrberg, unserem Schiberg der Kindheit, im Spätwinter, Februar, auf einsamer Straße. Sein Bruder, der rundum bekannte Sportreporter, hatte oben am Berg einen für unsere Begriffe modernen Bungalow. Heinz Strasser ging dort oben auf der von der Schneeschmelze nassen Straße spazieren. Es war Samstag, um die Mittagszeit. Die Sonnenglast blendete im Wasser und im Schnee. Die ganze Landschaft lag in Weiß. Ich kam aus unbekannter Sehnsucht. Das war vor 28 Jahren, etwa. Er sieht mich als erster auf der leeren, stillen Straße. Erst wie er den Blick, diesen ganz und gar persönlichen, zu mir herwendet, erkenne ich ihn. Ich bin hochgradig perplex. Er hat Tränen in den Augen. „Grüß dich, Wolfgang!“ Mehr nicht. „Grüß´ Sie, Herr Strasser!“ Mein Gesicht eine formlose Masse des Mitleids, des Schocks, der Trauer und der Feigheit. Ich ging zu ihm hin, um ihm die Hand zu schütteln. Ob ich es tatsäch tat, weiß ich nicht mehr. Die ganze Szene des letzten Mals ist in eine einzige, doppelarmweit ausgestreckte Wehmut getaucht. Ich weiß nur eins, ich habe mich damals aus Feigheit, ehrlich zu werden, nicht bedankt bei diesem durch und durch geheimnsivollen Wohltäter, diesem einzigartigen Lehrer, diesem Verbündeten meiner Kindheit und meines Lebens. Er verschwand. Unwiederbringlich.
Sie unvergessener, gottergebener Mensch, Heinz Strasser. Ewig Dank, bei Gott!
Ein brillianter Erzähler. Harald Schmidt zur Ehre.
Er kam in den 80er Jahren zu mir, purzelte mir sozusagen aus dem Minifernseher entgegen, dem schwarz-weißen, den meine unverwüstliche Krankenschwester irgendwo aufgegabelt hatte und mit dem sie, stilvoll, wie es ihre Art war, ihre Abende nach dem Dienst verbrachte, bei ihrer Lieblingszigarettenmarke, ich glaube, es waren „Hobby“. Sie war die Dame vom Fach, las sie doch jede Woche mit Bedacht die „Zeit“. Damals wurde ich, dank ihrer, zum Zeit-Fan, und, gewissermaßen im Vorbeigehen, auch von dieser klassischen, unverwechselbaren „deutschen Schnauze", diesem schlagfertigen Witzbold (das ist vielleicht ein unpassender Ausdruck, aber sei´s d´rum) der allerfeinsten Klinge, dem unvergeßlichen, ewig bedankten Harald Schmidt.
Bei Schmidt, bereits in Schwarz-Weiß, paßte alles zusammen, wirklich alles. Text, Stimme, Mimik, Rethorik, Ambiente, Wortspender Manuel, Musikband, Thema. Der Mann war ein erstklassiger Schauspieler. Er klebte sozusagen am Zuschauer. Er umarmte ihn, er vereinnahmte ihn. Man ließ es willfährig geschehen. Harald Schmidt zu schauen war ein Sich-entführen-Lassen in einen Schwall an schlagfertigen Witzen und Pointen. Eine Reise ins Dunkle der Nacht an der Hand eines Magiers des Reisens durch die Zeit, immer auf Augenhöhe mit ihr. Eines Bundesbürgers, von dem die italienischen Magazine meinten, er gehöre zu den Paradeintellektuellen der Bundesrepublik. Ein Lob, das ich ihm nicht abstreiten möchte. Ein Mann auf der Höhe des sozialpolitischen Diskurses. Eine Art Staatsmann des Fernsehens. Ich weiß nicht, ob es sein Witz war, den er bei einer nachgestellten Günther Jauch-Show anbrachte, sein Abendhonorar betrage 250.000,- Mark. Wie auch immer, das mögen amerikanische Größenordnungen sein. Ich neide ihm nichts. Er verdiente es kraft seines inspirierenden Charakters. Er war, in meinen Augen, der Entertainer schlechthin. Er hatte zu allem etwas zu sagen. Er war ein Metaphysiker des Alltags. Darin bestand wohl seine größte Gabe. Nehmen wir nur seinen 13-Minuten-Sketch „LKW-Beobachtungen von Harald Schmidt am Burger-King-Drive-Inn-Parkplatz“. Er spielt dazu klassische Musik von Bach und Strauß. Es ist faszinierend, ihm an den Augen zu hängen, diesen immer lebendigen, absolut intelligenten. Der Fluß seiner Assoziationen, wie ein Wildbach, der von diesem „Blitzgneisser“ in Maßanzügen mittels eines persönlichen Mühlenrädchens angezapft wird, wie bei Daniel Düsentrieb, der immerfort an einer patenten Idee knobelt. Schmidt, das sieht man, war ein Kind der 50er-Jahre. Er verkörpert den Klassiker, den klassischen Deutschen, der sich nicht versklaven hat lassen. In seiner Form war und ist Schmidt der Kulturheros des Fernsehens schlechthin, mehr als jeder andere Deutsche. Die amerikanischen Talkmaster wirken neben ihm wie lahme Enten. Dieser Reichtum an Humor, auch an schwarzem, dieser Einfallsreichtum, diese Improvisationskunst: all das blieb bis heute unerreicht, auch in den USA. Keiner der früheren Showmaster konnte ihm im Vergleich das Wasser reichen. Seine Intelligenz brillierte, funkelte und sprudelte. Er konnte sich jedes Themas annehmen, auch der explosiven wie etwa der Nazibelastetheit seines Volkes. Er war über jede Anfeindung erhaben.
Ich habe nie verstanden, warum sie ihn von SAT 1 ablösten und er zu Sky wechseln mußte. Dort fand er augenscheinlich nicht sein Publikum, weshalb auch immer. Vielleicht liegt es daran, weil er seit dem Tod seines Freundes Gert Voss ernst macht. André Heller lud beide auf sein Grundstück in der Toskana ein. Dort plauderten die beiden beinahe zwei Stunden lang. Ich werde dieses gefühlsoffene Gespräch mir noch einmal in aller Ruhe zu Gemüt führen. Vielleicht überfiel ihn eine große Trauer. Es wäre nur allzu verständlich. Nur wenige konnten und wollten ihm folgen. Doch immerhin: zumindest war das Studiopublikum immer auf seiner Höhe, und so etwas imponiert einem Nachbarsgartenzwerg immer. Wenn das Publikum nicht grölt, sondern in der Geistesoffenheit miteilt. Und Schmidt diese spürbare Eile seines Publikums aufgriff, um noch eins draufzusetzen. Schlagfertigkeit war sein Atout. Friedliche Schlagferigkeit, pointierte, nicht maliziöse. Schmidt trieb die Evolution des deutschen Geisteslebens definitiv allabendlich voran. Allabentlich. Was für ein Kraftaufwand. So brannte er aus, dieser Gigant, als den ich ihn doch titulieren möchte, ihn Reverenz zu diese unvergeßlichen Moment höchsten intellektuellen Genusses beim Hängen an seinen Lippen und an seinem Gesicht. Er schaltete einem das Gehirn ein, per Fernbedienung.
Harald Schmidt, große Verneigung! Wie verabschiedeten Sie beide sich, André Heller und Sie? Gott schütze Sie! Mann oh Mann. Wirklich starker Tobak, Sir! Ich wünschte, ich wäre ein Medienmogul. Sie bekämen eine freie Sendung, ohne jedwede Einflußnahme. Das können Sie mir glauben! Also bitte, ziehen Sie das Ding noch durch, wie ein glühendes Stahlmesser durch Butter. Ich bitte Sie darum! Danke, Sir!
Der Herr an der Bahnübersetz
Wir hatten einen englischen Sir im Markt, damals, in jener goldenen Zeit, als es noch keine Bahnunterführung, sondern nur die ortsbeherrschende „Bahnübersetz“, wie der Volksmund so etwas in Österreich nennt, gab, für fünf Gleise, die im Ort aus gleich zwei Richtungen einliefen. Zwei Gleise für die Westbahn, zwei für die Steyrer-Bahn, wie sie im Volksmund hieß. Das fünfte war Verschubarbeiten vorbehalten. St.Valentin ist bis heute ein beeindruckender Bahnknotenpunkt. Heute donnern die Hochgeschwindigkeitszüge auf gerader Strecke mit Tempo 200 durch den Bahnhof, daß es einen wegbläst. Damals waren solche Geschwindigkeiten unvorstellbar. Damals war die maßgebliche Schrankenkonstruktion mit vier Schranken bestückt, zwei für Fußgänger, und zwei hoch aufragende für den Autoverkehr. Die Langenharter Hauptstraße machte direkt nach der Übersetz einen Knick und verlief dann, am Kohleplatz und dem nachfolgenden Fußballplatz, einer „Gstettn“, vorbei, in einer deutlichen Rechtskurve, am Sägewerk Stöckler vorbei, hinüber zum Schwimmbad und schlußendlich zur zweiten katholischen Kirche im Ort, am Ende der Langenharterstraße. Dort residierte, wie wir bereits wissen, Pfarrer Dangl. Auf der anderen Seite der Übersetz war es nicht minder kompliziert. Die Straße fiel in einer Rampe ab und verzweigte sich haarscharf. Nach links in einer 90°-Kurve zur Westbahnstraße, und nach rechts in die Hauptstraße. Der Autoverkehr, wie vorstellbar, stockte zeitweise massiv. Zum Glück, darf man sagen, schrieben wir damals die 60er- und frühen 70er-Jahre. Damals waren Zweitautos für den Haushalt noch unbekannt. Der Fahrzeugbestand des Landes war überschaubar. Ach ja, und um es nicht zu vergessen, auch auf der Langenharter Seite gabe es direkt bei der Einmündung in die Bahnübersetz eine zusätzliche Straßeneinmündung, jene der Thurnsdorferstrasse, einer idyllischen Parkstraße, wo Goldfischteiche und Miniaturgebirge mit Miniaturseilbahnen den Stil prägten.
Die Bahnübersetz hatte ihr eigenes Flair, gerade im Herbst bei dichtem Nebel, der aus aus dem Enns-Donau-Winkel die Erlaaer-Leite heraufkroch, ein nicht nur wegen des roten Nebelblinklichtes erinnernswertes und durch und durch nostalgisches. Auf der Valentiner Seite stand das Häuschen des Schrankenwärters. Der wurde per Telefon vom Bahnhofsvorstand instruiert. Umständlich und manchmal reichlich spät. Scheinbar waren die Telefonverbindungen damals allgemein schwerfällig, so wie die Hauptlok der ÖBB, die 120 hergab. Das war damals schon viel. Dann kurbelte der diensthabende Bahnschrankenwärter beidhändig an den beiden Schwungrädern für die großen Hauptschranken, dann an den zwei kleineren für die Fußgänger. Manchmal war Eile geboten. Da schossen die Schranken geradezu herunter. Nie wurde ein Auto in der Übersetz eingesperrt. Es gab kein Schrillen, keine Sirene. die Bahnschranken zu bedienen, war ein 24-Stunden-Job, also ein Dreier-Turnus.
In all den Jahren erlebte ich es nur ein einziges Mal, daß das Herunterlassen, aus welchem Grund auch immer, nicht funktionierte. Es war um die Mittagszeit, und aus der Wiener Richtung kam eine E-Lok angerauscht, in voller Fahrt, schon von weitem sichtbar. Ich hielt vom Garten unseres Häuschens (Nummer Zwei) aus die Luft an. Die Lok pfiff nicht. Sie rauschte ohne Verlangsamung durch. Der Lokführer mußte erkannt haben, daß die Schranken nicht heruntergelassen waren. Er tat im Schock das einzig Richtige: er behielt seine Geschwindigkeit bei. Aber auf das Pfeifen vergaß er. Ich weiß nicht, was mit dem Schrankenwärter war. Er blieb unsichtbar. Vielleicht, so denke ich heute, saß er wegen dringender Unpäßlichkeitz am Klo. Er kam nicht mit heruntergelassener Hose vom Klo herausgeschossen. Wie gesagt, ich traute meinen Augen nicht. Die Lok zischt durch, und kein Auto weit und breit. Göttliche Fügung.
Die Bahnübersetz war also zeitweise ein einziges Gerangel. Vier Strassenadern. Und erst recht, wenn die langachsigen Holztransporte des Sägewerks Stöckler die Kurven weit ausholend nehmen mußten. Die Holztransporter kamen aus dem Mühlviertel. Sie hatten einen freilaufenden Hinteraufleger, mit einem Zusatzlenker, der hinten, ungeschützt an der Seite sitzend, ein Korrekturrad bediente. So wand sich der Holztransporter um die Kurve. Die „Stöckler-Soog“ sollte später, so um 1981, nächtens abbrennen. Ich sah es kommen. Ein defektes Gebläse im Kühlturm, das Funken schlug. Keiner bemerkte es, keinen der nächtlichen Heimkehrer kümmerte es. Das alleine schon war ein substantieller Beitrag zu der Watzlawick´schen Frage „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ Damals kroch ein heimliches Verständnis des Wortes "Versicherungsbetrug" in mir hoch. Das war um die selbe Zeit, als auch in Wien, am Opernring, das Steyrer-Gebäude ausbrannte, einfach so, ohne erkennbare Ursache, über Nacht.
Am anderen Ende der Übersetz, also auf der Valentiner Seiter, am Ende der kurzen Rampe, rechterseits, gab es einen gemauerten Kiosk. Dort residierte der noble Sir, Stefan Koubek, ein Kriegsflüchtling aus Tschechien, ein Mann in den späten Sechzigern, würde ich sagen. Er war etwa 1,88 groß. Silbernes Haar, Metallbrille. Er war immer im Sakko und in Krawatte, nie anders. Er trug einen Siegelring. Die Nägel seiner Hände waren ebenmäßig façonniert. Er war die vornehmste Erscheinung im ganzen Ort. Er rauchte Zigarette am Spitz. Er war der Tabakier, daneben der Zeitungs- und Broschürenmann. Er betrieb das große Lotto und das Fußballtoto. Herr Koubek war mein Freund. Er wußte wohl besser, was er in mir sah, als ich selbst. Er war immer korrekt und speziell freundlich, ohne Übertreibung. Es gab ein Lasso zwischen uns beiden. Er wußte, daß ich ein leidenschaftlicher Totospieler war. Er fragte mich regelmäßig am Montag, ob ich etwas gewonnen hätte. Natürlich log ich, wenn mir der Verlust peinlich war. Wie bei jedem leidenschaftlichen Spieler stand am Ende meiner Karriere das Minus, trotz aller Gewinne. Das höchste war ein Elfer, mit ein paar tausend Schillingen. Den Zwölfer vergall mir das Umfallen der Liverpool-„Bank“. Sie verloren zuhause gegen den Tabellenvorletzten 0:1. Bitter und nicht vorhersehbar.
Herr Koubek hatte eine Tochter, eine hübsche, verheiratete, mit stets hochtoupierter Frisur. Sie wußte von unserer Connection und verhielt sich dementsprechend. Sie bediente mich ohne Fragen. Als ich mit 16 mit „Benson&Hedges“ ins Rauchergewerbe einstieg, bediente sie mich, ohne mit der Wimper zu zucken. Mein „B&H“-Spleen dauerte nur ein gutes Jahr, zum Glück, dann verlief auch das im Sand. Scheinbar waren meine Frustrationen in Sachen Liebe nie übermächtig genug, um aus mir einen Selbstmörder zu machen. Warum, könnte ich so aufs Erste nicht klarlegen. Das bedürfte ernsten "Brainstrormings". Es war ja alles nur ein Traum.
Das mit Herrn Koubek war gute Nachbarschaft, denn zwischen seinem Kiosk und unserem Häuschen war Steinwurf nur 50 Meter. Ich war der Frühstücksbrötcheneinkäufer bei Kleestorfer, speziell am Samstag, und er kannte mich von daher, also aus der Volksschulzeit. Er hatte Adleraugen, der gute Koubek. Er grüßte mich jedes Mal, wenn ich vorbeizwieselte, auch durch das Seitenfenster. Er winkte mit seiner siegelringgeschmückten Hand, nobel, wie der König von England.
Er mochte mich und sah es mir nach, als ich mir, 10 Jahre später, eines Tages ein Herz faßte, und das einzige „Magazin“, das damals in Österreich für „beginnende“ Männer kursierte, bei ihm bestellte, den „Nachtboten“, in Schwarz-Weiß. Er sah mich kurz an und händigte ihn mir aus. Ich blickte ihm direkt – verständnisheischend – in die Augen. Er schmunzelte auch nicht und es war ihm nicht anzusehen, was er dachte. Er verstand meine nicht vernachlässigbare Notlage. Dafür danke ich ihm noch heute. Ein entscheidender, weltbewegender Moment, mein Gott, mit unschuldigen Fotos.
Ich glaube, Herr Koubek war Patient beim Vater, anders als seine Tochter. Er litt an dezentem Raucherhusten. Sein rechter Zeigefinger war innen bräunlich. Offenbar hatte er nicht immer mit Spitz geraucht. Er verschwand eines Tages, ohne Vorwarnung. Seine Abwesenheit wurde besorgniserregend, als seine Tochter die Stammbedienerin wurde. Und das war unleugbar. Ihre Auskunft: Dem Vater geht es nicht mehr so gut. Das war zu einer Zeit, als auch das Valentiner Kino, das Paradies meiner Kindheit, mittlerweile verschwunden war. Die Auslagen vor dem Bahnschrankenwärterhäuschen mit den Fotos der aktuellen oder angekündigten Filme blieben leer wie ein ausgeräumtes Haus nach der Todeskrankheit des letzten Besitzers. Vorbei alle Karl May-Filme, vorbei alle Clint Eastwood-Spaghetti-Western, vorbei Christopher Lee (in memoriam!) als Dr.Fu-Man-Chu. Vorbei Stefan Koubek, von dem ich dann nur mehr aus dem Mund der Mutter hörte, er wäre gestern gestorben, nach dem Krankenhausaufenthalt in Linz. Daß es Lungenkrebs gewesen sein mußte, wollte ich in meinem veritablen Schock, der mir einen Kloß in der Kehle bildete, schon nicht mehr wahrhaben.
Stefan Koubek war Witwer seit vielen Jahren. Er war ein distinguierter, einsamer Gentleman. Wer weiß, welche Woge ihn in unser Bauern- und Bahndorf geschwemmt haben mußte. Er, wie nur wenige, war imstande, meine Kindheit zu adeln. Er bleibt unvergessen und aus kindlicher Seele tief bedankt.
Santa Claus am Bahnhof
Dies ist die Erinnerung an jenen Mann, der mir in einer abgelegenen, aber wichtigen Furche am tiefsten im Gedächtnis eingegraben ist, zurecht, den er lehrte mich zu frohlocken. Er lehrte mich zu frohlocken, wenn ich seine Stimme hörte und ihn bereits vor meinem geistigen Auge mit seinem Elektrobullenwagen auf den Perrons des Linzer Bahnhofs geschickt herumkurven sah. Mein Wohltäter war der passionierte Würstelverkäufer schlechthin, und im Grunde verehre ich seit je alle Würstelstandausschenker, auch jene, die nicht in Wien ihr lukullisches Unwesen treiben. Die Linzer sind auch nicht so schlecht, und gerade mein Starverkäufer lebte und schaffte in Linz, am Bahnhof, der sowieso meine zweite Heimat schon immer war. Ich muß wohl in meinem früheren Leben ein Bahnhofssandler gewesen sein. Die Zeit von 1968 bis 1974 war irgendwie eine wehmütige Zeit. Der Linzer Bahnhof, ein historischer, nach dem Krieg wieder aufgebauter Großbau, ein Unikat mit seinen Schläuchen und Passagen. Damals gab es keine Aufzüge und keine Rampen für Rollstühle. Es gab auch keine oder nur äußerst seltene Rollstuhlfahrer in solchen Bauten. Die Hauptpassage war schmuddelig wie nur was, mit warmen Heizkörpern im Winter, Kinoprogrammauslagen, Brötchen-, Zeitungs-, Blumen- und Geschenkartikelkiosken, aber vor allem einer großen Bahnhofsresti erdgeschossig und einem, für die damaligen Verhältnisse, noblen Restaurant im ersten Stock oben, zu welchem man über eine imperiale Stiege hochsteigen konnte, das Restaurant mit weißgedeckten Tischen und einem Kellner in Livrée, die Speisekarte bürgerlich. Der Linzer Bahnhof, der zweitgrößte in Österreich, in seiner imperialen Wucht und mit den wachenden zwei Löwen am Haupteingang, war denkmalgeschützt. Es gab eine Vielzahl von Seitenläden. In einem gab es die Romanheftchen des Bastei-Lübbe-Verlages, Jerry Cotton, Wyatt Earp, Fledermaus, und die Superman-Comics. Sie hatten nicht die schmalen Tibor-, Sigurd- und Phantom- (Vorreiter von Batman) Heftchen, denen Wim Wenders in "Im Lauf der Zeit" ein Denkmal in Schwarz-Weiß gesetzt hat. Die gab es bei Alfred Kohel, dem alten Juden, der treuesten Seele von allen, in der Valentiner Westbahnstrasse. Der Linzer Bahnhof war also in jeder Hinsicht eine Erörterung mit weiten Pfadfinderaugen wert. Er glich einem Fuchsbau. Zwei große Hallen, zwei Zugangstunnels, 13 Geleise. Lokalkolorit pur.
Am Linzer Bahnhof gab es aber diesen Mann, der in meinen Augen der eigentliche, der demütige Besitzer des Bahnhofs war, der fahrende Würstelverkäufer mit seinem Elektrobulli. Er hatte ein rechteckiges Boxerkiefer und stets eine Franzosenkappe auf dem Kopf, die auffällig und in gewissem Sinne geradezu adrett zu seinem weißen Arbeitsmantel kontrastierte. Er stand also auf seinem gelbbemalten Elektrobulli, der in der Länge gute zwei Meter zwanzig maß. Der Versprecher der heißbegehrten Versuchungen stand vorne, auf einem Gitterpodest, und hantierte mit zwei Hebeln und zwei Tretpedalen. So manövrierte er sein geräuschlos dahinsurrendes Gerät, das mit Vollgummireifen ausgestattet war, mit Bravour und Schwung. Dem guten Mann, dessen Namen ich nie erfuhr (ich wäre auch zu schüchtern gewesen, ihn nach dem Namen zu fragen), war eine satte, volumige Stimme zu eigen, mit der er unüberhörbar seinen Verkaufsschlager abspulte, seinen Spruch, den ich bis heute im Ohr höre: "Heiße Würstel, Bier und Saft, Hollá!" Er war der Würstelmann. Er servierte neben Wurstsemmeln und Manner-Schnitten gekochte Würste aus dem Kessel. Frankfurter, Debreziner, Knacker und Krainer, auf dem rechteckigen Pappgeschir, dazu süßen oder scharfen Senf von Mauthner Markhof. Doch die eigentliche, unbestrittenen Sensation war das Brötchen, wie ich es in seiner Gschmackigkeit nie mehr wieder gefunden habe. Ein Weckerl, nicht übergroß, schokoladenbraun, mit einem Geschmacksbouquet, das unbeschreiblich bleibt. Die Weltmeisterkreation schlechthin. Und ich habe nie herausgefunden, woher er diese Kreation an Brot bezog, der gute Mann. Alleine an dem Brot hätte ich mich satt fressen können.
Das ganze Arrangement war eine pure Verführung. Der Auftritt des Mannes. Seine Fuchsgeschwindikeit. Die Geschwindigkeit des Bedienens in den paar Minuten, in denen die Schnell- und Fernzüge hielten und die Passagiere die Fenster herunterließen, um etwas von seiner kochenden, gschmackigen Versuchung abzubekommen. Der Lockruf des Herrn war pure Versuchung und versprach nicht zu viel. Wenn ich frisches Taschengeld bei mir hatte, leistete ich mir dazu noch die Schartner-Bombe, eines der oberösterreichischen Unikate schlechthin.
Ich beobachtete den Mann stets wie ein ominöse Erscheinung. Ich fieberte mit ihm mit. Der Service war auf die Sekunde "getimet". Die ÖBB waren immer schon ein pünktlicher Betrieb, und die Bahnhofsuhren, die mechanischen, blieben bis zum heutige Tag valide Referenz. Es gab sogenannte D-Züge, die fuhren bis Wien West. Dann gab’s den Budapester mit den blauen Waggons der MAV, der fuhr schon weiter, und dann gab es den Traum aller Träume, den sprichwörtlichen Orient-Express der SNCF, der von Paris bis Istambul fuhr, eine Dreitagesreise, mit Schlafwaggons und Restaurantwaggon à la Agatha Christie, vornehme Kultur pur. Wie gern wär‘ ich mitgefahren. Ich mußte warten bis 1977.
Der Orient-Express. Er stand sieben Minuten, ich erinnere mich. Mein Prophet bediente die Reisenden. Es ging zack zack. Er arbeitete ohne Handschuhe. Die Portion kostete einen Zehner, später dann zwölf, bei Extraweckerl und Doppelsenf. Für Wechselgeld gab es keine Zeit. Es war auf die Sekunde geplant. Die Schartner-Bombe kostete fünf, das Bier, die Halbe, ebenso. Dann fuhren die Garnituren wieder ab, der Herr bliebt zurück, reinigte alles, stieg auf sein Podest und rauschte geräuschlos ab, über die mit Schwellen ausgelegte Gleisniederung hinweg, hinüber zum Perron mit dem nächsten Schnellzug. Damals unterschied man zwischen Eilzug (E), Schnellzug (D) und Expresszug (Ex). Die Expresszüge waren die internationalen Fernzüge. Neben dem Orient-Express gab es noch den Nordsee-Express nach Hamburg Altona und den Venedig-Express. Der Zug nach Ungarn war ein gewöhnlicher Schnellzug. Das höchste, was man damals in Österreich auf Schiene wie auf der Autobahn fuhr, waren 130. Das Herz jauchzte, wenn es so dahinging. Die Verbindungsketten und -plattformen zwischen den einzelnen Waggons knarrten und quietschten.
Die Debreziner fertig zu essen war ein Ritual, bisweilen nahm ich zwei von diesen götttlichen Brötchen. Nicht ein Senfpatzerl ließ ich übrig. Der Mann fuhr mit traumwandlerischer Sicherheit. Er antizipierte, wo ein Waggonfenster aufgehen würde. Es kam nie zu Geschiebe oder Gedränge, geschweige denn zu Unfällen. Er hupte einfach, wenn er losfuhr oder daherkam. Er kurvte generös um die Ausgangstüren herum, wie ein Slalomfahrer, und stieß zum nächsten, am Waggonfenster wartenden Hungrigen hinzu, wie ein Versorgungshabicht. Die Leute müssen damals geahnt haben, daß sie hier in Linz das Paradies direkt am Bahnsteig erwarten würde. Wie gesagt, des Würstelmannes Stimme war bereits pure Verheißung. Er hatte eine Speichelstimme, wie man sie manchmal trifft und sofort auf sie "abfährt". Natürlich gab es auch Kren, ja, den auch. Und es gab auch Schwarzbrot. Er fragte immer: "Schwarzbrot oder Weckerl?" Meine Antwort war klar und unveränderbar. Der Mann hatte sinnliche Lippen und freundliche, konzentrierte Augen. Er war nicht von hier, dazu war er zu professionell und im Jargon zu vornehm. Es fehlte ihm jede Tollpatschigkeit oder Mißlaune. Vielleicht war er ein Bayer. Die Bahnangestellten bestellten bei ihm ihr Pausenbier am Bahnsteig von Gleis eins. Dann machte auch Santa Claus Pause. Er nahm sein Franzosenkäppi ab und wischte sich mit einem Schweißtuch, das er in der Innentasche seines Arbeitsmantel eingesteckt hatte, über das gelichtete Haupt, ohne jede Leidensmiene. Er plauderte aber nicht. Er war kein Unterhalter. Er war nicht von hier. Dann war er weg, und er blieb weg. Ich habe nie nachgefragt, warum. War sein Herumfahren ein Sicherheitsrisiko? Paßte er jemandem nicht ins Bahnhofsbild? War sein Geschäft doch nicht so ergiebig, wie es den Anschein hatte? Wie auch immer: Ein herber Verlust. Die Feststunde zu Mittag, die appetitanregende Verheißung fand ihr Ende und machte den G’schrappen traurig. Liebe entschwand.
Mein Würstelwohltäter arbeitete nicht ewig. Eines Tages war er verschwunden, und er blieb verschwunden. Gott hab ihn selig.
Ein Herz für die Jugend
Alfred Kohel war bereits in den Sechzigern, als ich mit dem Beginn des Zur-Schule-Gehens zum ersten Mal in seinen Papier- und Schreibwarenladen am Beginn der Valentiner Westbahnstraße eintrat. An der Tür schellte eine helle Glocke. Eine echte Glocke. Ein Glöcklein, ein echtes, mit Klöppel. Jedes Mal, wenn einer hereinkam oder hinausging. Fast alles Schüler. Hin und wieder die Eltern, zumeist, ja großteils, die Mütter. Aber im Prinzip die Kinder und Jugendlichen, alleine, mit ihrer Schuleinkaufsliste. Bei Alfred Kohel gab es alles für Schule, Büro und zum Basteln. Der Laden war ein echter, halbdunkler Laden, alles aus Holz. Plastik existierte damals nicht. Wir sprechen vom Jahr 1964 aufwärts. Es war ein geräumiger Laden, mit zwei Abteilungen. Kohel wußte im Schlaf, wo alles lag.
Er war ein geknickter Mann. Seine rechte Hand konnte nicht zugreifen. Damals fragte ich mich nicht, warum. Ob durch Unfall oder Nervenkrankheit, diese Perspektive handhabte ich damals, am Beginn meines Denkens, nicht. Er trug die Hand immer angewinkelt. Er konnte den Arm nicht ausstrecken, weder den Arm noch den Ellbogen, den rechten. Er schrieb aber mit der rechten, trotz aller Widerstände, mit flacher Hand. Er zwang sich zu schreiben. Links zu schreiben stand außer Frage. Er handhabte geschickt seine manövrierfähige linke Hand. Sosehr, daß es mich faszinierte. Ich hing an seinen Bewegungen, gerade, wenn er die Papierblätter aus einem Stapel herauszog oder die DIN A4-Bögen abzählte. Er hatte keine fertig gepackten 50 oder 100 Blatt zur Hand. Er zählte alles ab, mit geschickten Fingern. Die Zeit verrann beim Hingaffen. Dieser Papiergeruch, gepaart mit dem der Holzeinrichtung.
Alfred Kohel war klein. Er hinkte. Sein graues Haar gelichtet. Ein Schnurrbart. Seine Frau bediente anfangs auch noch, ich erinnere mich, doch kurze Zeit später war sie schon fort, weggestorben. Zum Glück hatte Alfred Kohel einen Sohn. Der trat dann später in des Vaters Fußstapfen, zusammen mit seiner Gattin, doch nicht auf ewig.
Ich bleibe bei Alfred Kohel.
Er hinkte, er ging gebückt, er hatte einen halb gelähmten rechten Arm, er konnte den Rücken nicht durchstrecken, und er hielt auch den Blick gesenkt. Nicht aus Demut, nein, Kohel, war sprichwörtlich von seinem schweren Schlaganfall, den er Jahre zuvor erlitten haben mußte, geknickt. So bediente er. So bediente er uns, die aufgeregten Schulkinder.
Seine Sprache war die des Nuschelns. Er grantelte nie, und schon gar nicht wurde er laut. Das konnte er gar nicht. Er war die durch und durch graue Existenz. Er trug immer Anzüge, graue Anzüge, doch ohne Krawatte. Das Hemd war immer frisch gebügelt. Seine Schuhe abgetragen. Später, sehr bald, wechselte er dann auf Hauspantoffel um. In der Herbst- und Winterszeit legte er den Holzbohlenboden mit Zeitungspapier aus. Der Boden bedeutete ihm offenkundig etwas. Mit dem Zeitungspapier schützte er ihn vor Nässe. Gab es draußen Regen, fragte er die hereinkommenden Kinder: „Habt ihr euch die Schuhe abgeputzt? Draußen ist es schmutzig! Hier herinnen soll es sauber bleiben!“ Wir streiften akribisch unsere Schuhe ab, auch dann, wenn es draußen nicht regnete.
Er hatte eine Geheimecke, seine Schatztruhe. Die einzige echte Schatztruhe meines Lebens, durchaus gleichwertig jenem legendenumwobenen des Silbersees. Alfred Kohel, der Wohltäter von einem guten Hundert Volks-, Haupt- und gymnasialen Bahnschülern, hatte an der Fensterfront seines Geschäftes zwei Kartons mit den allerbesten Comic-Heften der damaligen Zeit stehen. Nicht nur jene von Walt Disney mit Mickey Mouse, Goofy, Donald und Dagobert Duck, Daniel Düsentrieb, der Hexe Gundel Gaukley, Tick, Trick und Track, und auch die Panzerknacker durften nicht fehlen, nein, die Schatzkiste des Adolf Kohel war überreich gefüllt mit anspruchsvollerer Literatur für verständnisvolle Abenteurer, Bessy, Sigurd, Tibor, Phantom, ach Gott, diese schmalen Heftchen, die im Schwarzhandel um ein Vermögen gehandelt wurden (nicht nur von Wim Wenders) und deren Reiz manch Wiener Raritätensammler frühzeitig erliegen sollte, ja, ich fand in Wien später, Jahrzehnte später, solche Geschäfte, die voll waren mit jenen heißbegehrten Serien aus der Vorzeit, als Papier noch Gold war und das Fernsehen in Schwarz-Weiß.
Das Faszinierendste für ein abenteuerlustig gestimmtes Kind. Und Alfred Kohel hatte dieses überlebensgroße Herz, wie ich es später nicht mehr wiederfinden sollte, dieses so noble, edle, jüdische Herz für uns, die Dorfkinder, wenn wir, wohlerzogen, und wohlbedenkend, den Schritt, den magische Schritt wagten und uns ein Herz faßten: „Herr Kohel, darf ich ein Bessy-Heft lesen?“ Ja, er stellte uns den Karton leise grummelnd hin, und wir durften stöbern und mit roten Ohren lesen, augenblicklich in dieser magischen, geöffneten, uns entgegenspringenden Welt versinken. Es war ihm zeitweise – zwei Mal, wie ich mich erinnere – unangenehm, wenn zu viele „Massen“ die heißbegehrte Lektüre umschwirrten, dann ließ er den finalen Grummler los, zu dessen Äußerung er sich wohl selbst auch ein Herz fassen mußte: „Könnt ihr euch nicht eines kaufen?“ Ich verstand das nur allzu gut. Es schmerzte mich, das Kind, zu sehen, diese geschäftliche Bescheidenheit. Bald schon versuchte ich seine erwiesene Gunst im Vorfeld immer zu „kompensieren“, indem ich eine Füllfedertintenflasche (später -patronen) oder einen Bleistiftspitzer kaufte – das eine nützlich, das andere billig -, aber ich konnte nicht alles an Gunst abzahlen, die Alfred Kohel uns unverdienterweise erwies und zukommen ließ, uns, den Abenteuerfiebrigen, von ihm, dem Warmherzigen.
In Alfred Kohels Papier- und Schreibwarenladen glühte im Winter ein Kanonenofen. Es war nie kalt in diesem Laden. Direkt daneben hatte er Küche, Wohn- und Schlafzimmer, nur durch eine Wand getrennt. Sein Verkaufslokal, so habe ich es in Erinnerung, war so groß wie seine gesamte übrige, erdgeschossige Wohneinheit. Ob das Obergeschoß ihm gehörte, habe ich nie erfragt, doch ich denke schon. Seine Gattin starb oben…
Alfred Kohels Kindheitsparadies lag am Ausgang der Marchand-Kurve, direkt gegenüber den Kinoprogrammankündigungsplakaten und Szenenfotos in fünf Vitrinen, unmittelbar vor dem Stellwärterturm. Dahinter das Zugparadies der ÖBB mit der bereits beschriebenen Schrankenanlage.
Ich sah Alfred Kohl zuletzt, als ich ungefähr 14 war. Die Superman-Hefte waren damals schon in Linz erworben. Ich untreuer Süchtiger. Das letzte, was ich schlußendlich bei ihm erwarb, guten Gewissens, waren die Jerry Cotton-Romane. Er bediente mich mit Demut. Ich will es nicht anders nennen. Alles das mitansehen zu müssen, tat mir weh. Und dann war Alfred Kohel fort. Niemand kommentierte sein Verschwinden. Ich weiß nicht einmal, ob er am Valentiner Friedhof begraben liegt. Sein Sohn führte den Laden ein gutes Jahr, dann verkaufte er ihn. Das Haus wurde abgerissen. Eine Wunde, die Jahre brauchte, um zu verheilen. Noch ein Heros der Kindheit, der so lange am Leben bleibt wie ich, das dankbare Kind.