Der Burgbauer

Er war nicht Sho Velez, der Junge aus Carlos Castanedas Jugend. Er kam aus dem winzigen, still idyllischen Weiler von Marksee, in welchem das kleine Gehöft der Großeltern stand. Das Haus seiner Eltern, ein Zwergenhaus, war deren nächster Nachbar, in Sichtweite, etwa 80 Meter Luftlinie. Zwei einsame Häuser. Das Haus dieses Wegbegleiters an drei Wochenenden im Jahre 1969 war eine echte „Käusche“, wie man derartige Gebäude vom Land, die man so gerne übersieht, hierzulande nennt.

Hans Finkruin war mir gleichaltrig. Er war Huckelberry Finn, der wetter- und armutgeprüfte Bub armer Kleinhäusler vom Land. Er wuchs neben dem Mostbach auf. Er hatte praktisch nichts. Vielleicht ein altes Fahrrad. Sonst nichts. Seine Kleidung war abgerissen. Das stimmte mich im ersten Moment, als er auf Großvaters Anwesen stand, vorsichtig. Doch er war gut eingeführt. Wir wurden einander vorgestellt. Der Kontakt funktionierte vom ersten Moment an. Was faszinierte mich an ihm? Er gleich alt wie ich, doch im Unterschied zu mir war er kein „Zniachterl“. Er war muskulös und doch schlacksig. Er strahlte keine Aggressivität aus, etwas, das, wie ich meinte, jedem Jungen, der ihr anhing, ins Gesicht geschrieben stand. Nein, Hans Finkruin war nicht bösartig, er war nicht boshaft. Er war auch nicht pfiffig, und er log auch nicht. Er hatte etwas Abgeklärtes in seiner Stimme, einer schmunzelnden, einsilbigen Sprache. Er sprach breiten kumpelhaften Dialekt. Wir gingen schnurstracks in den kleinen Schacherwald neben dem Großelterngehöft, der mich lange, wirklich lange in den Träumen verfolgen sollte. Wir hatten, das wußten wir, vielleicht zwei Stunden, um etwas anzufangen. So streunten wir hinein in den geheimnisvollen Wald, der ein Dreieck bildete, direkt am Ufer des idyllischen Mostbachs, dessen Wasser, wie ich später am eigenen Leib herausfinden sollte, wegen der damals dorthin noch abgeleiteten Fäkalien ungenießbar war. Das Schacherwäldchen beherbergte trotz seiner putzigen Kleinheit allerlei Wild: Rehe, Hasen, Fasane, Igel, Greifvögel. Tiere, nicht scheu. Man konnte sie anpirschen, wenn man auf einen Baum kletterte. Ich tat das einmal und versank im Dort-oben-Hängen auf einmal in stille Gedanken. Mit war, ich träumte. Ich blickte nach unten, zu Füssen des dicken Baumes, – ein Rudel Rehe, friedlich grasend. Ich wagte mich nicht zu bewegen. Ich blieb oben, bis sie gemächlich weitergezogen waren. Als sie auf der Angerwiese oberhalb der Grasböschung in meinem Rücken weiterästen, tat ich das, wessen ich seit Minuten bedurfte: Ich entleerte mich noch oben im Baum auf die kleine Seite. Ein meterweiter Bogen, wie er nie mehr wiederkommen sollte.

Das erzählte ich dem Hans. Er nickte verständnisvoll, als wäre das das Natürlichste auf der Welt. Da, im Hören und Sehen seines Nuschelns war klar: Er war hier zuhause. Er streunte hier herum wie kein zweiter. Das war sein Grund. Huckleberry Finns Jagdrevier. Wir kamen an einer Haselnußstaude vorbei. „Hier hat mir Onkel Florian einen Pfitzipfeilbogen geschnitzt, Hans, mit einem Stoppel am Pfitzipfeil vorne dran!“ „Der Onkel ist nicht dumm!“, war seine kurzsilbige Antwort. Ich glotzte verdutzt.

Hansens Gesicht hatte etwas Markantes. Es war übergroß und leicht eingedellt, und außerdem hatte er leichte Welllocken, eine echte Seltenheit. Es war ein Gesicht vom Land, vom echten Land. Von jemandem, der inmitten der Natur lebte. Marksee war ein Weiler, bestehend aus 4 Häusern, von denen sich zwei in die schattige, steile Oberrader-Leite schmiegten, von der man im klirrenden Winter waghalsige Hurra-Schußfahrten wagen durfte. Der Weiler wurde damals nur sporadisch durchquert, auf einer Schotterstraße. Der, der sie am meisten frequentierte, war der fuchsgesichtige Auer-Bäck´, der Brot und Gebäck ausfuhr.

Ich hatte Hans zuvor nie gesehen, doch meine Tante, die eiserne Jungfrau, die einzige, die ich bewußt bis dato kennenlernen konnte, sie hatte mir natürlich bereits Hansens Existenz um die Ohren geschmiert, eingepackt in irgendeinen, sie charakterisierenden, allwissenden Kommentar zu Hansens Eltern. Hans war gleichaltrig wie ich, doch er blieb unsichtbar. Hatte er Hausverbot? Durfte er hier herüben nicht aufkreuzen? Schämten sich seine Eltern ihrer Armut? Eins war mir bereits damals klar: Alles pure Lächerlichkeit. Doch dann stand Hans auf dem Hof, und wir gingen in den Wald. Dort entschied sich mein Schicksal.

Wir bauten aus Ästen eine „Burg“. Ein Geviert, nicht mehr. Den Boden polsterten wir aus und legten uns hin. Wir lugten Richtung Großelternhaus. „Niemand ahnt, daß wir sie beobachten, nicht wahr, Hans?“ „So ist es immer.“ Ich gaffte schon wieder nach links hinüber. „Hier könnte ich ewig bleiben.“ „Ich auch.“ „Aber im Winter wird´s kalt. Die Kälte würde uns vertreiben, schade, nicht?“ „Wem sagst du das!“ „Wirklich schade…“ „Ja, im Wald, da ist´s gut leben. So mit den Bäumen, tagein, tagaus. Gar nicht rauskommen aus dem Wald. Den Bach haben wir gleich daneben.“ „Wovon würden wir leben, Hans? Was meinst du?“ „Na, von Beeren, Nüssen und Wurzeln.“ „Wurzeln?“ „Ja, von Wurzeln! Da staunst Du, was?“ „Die Tiere würde ich nicht anrühren, Hans.“ „Ich auch nicht. Wir müssen sie an uns gewöhnen. So werden sie unsere Freunde und hüten uns vor Feinden.“ „Welchen Feinden?“ „Na, den Erwachsenen natürlich. Die Erwachsenen sind immer Feinde. Sie nehmen uns nicht ernst, so wie sie auch den Wald nicht ernst nehmen.“

So sprach Hans Finkruin. Er war zwölf.

Nach ein zwei oder drei Wochen kamen wir an einem Wochenende wieder herunter nach Marksee, in Vaters vollbepacktem Käfer. Hans war wie vereinbart zur Stelle. Wir begutachteten sprachlos, was von unserer Burg übrig geblieben war. Wir gingen hinauf zur Angerwiese und schlenderten schweigend die Böschung entlang. Dann hielten wir ein und blickten ebenso schweigend zum nah scheinenden Kirchturm von St.Pantaleon. Ich hatte Tränen in den Augen. Eine maßlose Traurigkeit überkam mich. „Wir können nicht so leben, wie wir wollen, Hans.“ „Mach dir nichts draus.“ Der Hans nannte mich nie beim Namen, und doch hörte ich ihn diesen aussprechen, in Gedanken. Ich weiß, ich habe mich damals nicht getäuscht.

Das dritte Mal pirschte ich mich zu seinem Haus. Die Mutter kam in die offene Haustür. „Nein, Wolfgang, der Hans kann nicht rauskommen, er muß Hausaufgaben machen.“ Ich wußte, hier stimmte etwas nicht. Ich wußte, er hatte gemerkt, daß ich draußen stand. Aber er kam nicht. Er verharrte bewegungslos in seinem Gefängnis, das eine Keusche war. Und niemand sollte mehr die kommenden drei Jahre von den Finkruins sprechen, und Hans, der gute Hans Finkruin, der Erleuchtete, der Herzensfreund für wenige Stunden, er entschwand, wie niemand sonst mehr endgültig verschwinden sollte, doch er hinterließ ein unermeßliches Erbe, und dieses Erbe wird sich, so wie jenes der Pottwale und der sibirischen Tiger, im Himmel fortsetzen, auch und erst recht dann, wenn Mutter Gaia sich in Dune, den Wüstenplaneten verwandelt haben sollte, zu einer Zeit, zu der wir längst dorthin entschwunden sein werden, ins ewige Reich, im Geist des Heiligen Bundes. Amen. Mein Gott, Hans.

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  1. Schifoan! Schifoan!

    Der besorgte Leser, die verwunderte Leserin mögen mir wegen des kryptischen Titels nicht gram sein. Das besagte Wort ist aus dem österreichischen Dialekt transkribiert und wurde sogar in einem berühmten Folklore-Lied als Titel vertont. Schi foan, also Schifahren.

    Es gab da einen Herrn, der war eine Frohnatur. Er dampfte vor Vitalität. Er war ein Pykniker, also von untersetzter, aber stämmiger Natur. Er lachte oft und meistens. Er war für jeden vertrauenserweckend. Er war der Kaplan in Langenhart. An einem der Arbeitstage hatte er, da er gerade am Wochenende, wie jeder Geistliche, erst recht in der Pfarre gebraucht wurde, frei. Ich kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, welcher der Tage es war, doch ich meine, es war ein Mittwoch. An einem Mittwoch wurde ich geboren. Franz Schaupp sprach mich also am Dienstag nach der Frühmesse spontan mit der größten Selbstverständlichkeit an, ob ich nicht morgen mit ihm zum Schifahren mitfahren wolle. Es taugte ihm offenkundig, nicht allein zu sein. Doch das realisierte ich damals nicht. Ich verstand es nur als unschuldigen Gunstbeweis und noch mehr als Einladung zu einem Abenteuer, denn es bedeutete unverblümtes Schulschwänzen. Das rang mir augenblicklich schmunzelnden Respekt ab, der mir bis heute geblieben ist. Und wenn ich zuhause den Schaupp´schen Vorschlag präsentierte, gab es von Vaterseite nur ein zusagendes Brummeln, ohne jede Diskussion. „Na sicher, ein Tag macht nichts, und er freut sich, daß du ihn begleitest.“ So einfach waren die Sachen geritzt, damals, in der Winterszeit von, sagen wir, 1969. Ich fuhr damals noch die weißen Sturzhahn mit Ziehbindung und vorderseitigem Sicherheitsglenk. Die Schuhe waren Alpinschuhe mit Schnürband, handlich und gut sitzend. Nicht diese Monsterplastikschuhe von später, die mir wegen der engen Sohle, die so gar nicht zu meinen Plattfüssen paßte, was in qualvollen Fußsohlenkrämpfen ausartete, das Schifahren auf ewig verleiden sollten.

    Und Kaplan Schaupp fur einen weißen Käfer 1300, wie der Vater. Die beiden bildeten von da her bereits eine stille Allianz. Um 06:15 gings los. Ich brachte die Jausenbrote mit, er den Tee in der Thermoskanne. So fuhren wir los. Heute kenne ich die Strecke besser als damals. Wir fuhren aufs Hochkar, übers Ybbstal, durch Hollenstein hindurch. Ich erinnere mich lebhaft an die Fahrten im beheizten VW. Ich wischte ihm die belegten Scheiben mit einem bereitgehaltenen Tuch ab. Schaupp sprach die meiste Zeit, immer irgend etwas Fröhliches. Ich kann, rückwärtsblickend, nur baff staunen, wie ich im Aufrechterhalten der Konversation mittat, ich, der damals doch Mundfaule, der niemandem traute. Schaupp war eine Kategorie für sich. Sein Riesenbinckerl an Vorschußvertrauen, das er mir mit seiner Einladung aussprach, ehrte mich, ohne daß mir deswegen der Kamm geschwollen wäre, denn, und das muß der Ordnung halber festgehalten werden, ich war kein Schiass, und ich würde nicht einmal sagen, daß ich damals passabel Schi fuhr. Ich hegte keine Leidenschaft dafür, aber es war ein Abenteuer. Ein echtes Abenteuer in fremdem Gelände, mit amateurhafter Ausrüstung. Ich erinnere mich soeben an den Anorak, den ich damals trug, einen blauen, nicht gepolsterten. Die Hose war eine Stoffhose. Schaupp äußerte dazu niemals einen Kommentar. Er selbst war vollkommen in Schwarz. Er hatte bereits eine Schihose mit Spanngumme um die Fußsohlen. Die Pudelmütze war schwarz-weiß. Netter Kontrast. Schaupp war Brillenträger. Über die Brillen stülpte er die Schibrille mit orangefarbener Blende. Ich sah ihn nur ein einziges Mal im Schnee liegen, ein Anblick für Götter. Er lachte aus vollem Hals, und ich brachte den Mund nicht mehr zu. Er war ein Schneemann. Er mußte alles erst zusammensammeln. Wir fuhren getrennt, denn er war eindeutig der Bessere. Er fuhr im Winter jede Woche, ich jedoch vielleicht zwei Mal, wenn´s hoch ging. Ich hatte nie einen Kurs besucht. Die Bretter waren kaum gekantet. Für alpines Gelände völlig ungeeignet. Einmal verirrte ich mich auf die schwarze Piste, von denen es am Hochkar, damals, nur eine einzige und auch nicht überlange gab, doch die war wirklich steil, und es war eine ausgefahrene, waghalsig anzusehende Buckelpiste. Ich stand oben und betrachtete mit einem flauen Gefühl die Misere, doch umdrehen wollte ich auch nicht mehr. Und so stürzte ich mich in die Rinne hinein und rutschte sie ab. Ich wußte instinktiv, ein Sturz könnte gefährlich werden. Dann wäre alles außer Rand und Band. Ich kam heil unten an, mit flauen Beinen. Nun gut, jetzt wußte ich´s. Schauppens Kommentar beim nächsten Wiedersehen am verträumten Sessellift (dem ersten meines Lebens), wo wir üblicherweise auf einander warteten: „Ja, hab dich gesehen, Wolfi. Warst mutig. Wenn ich da reinfahre, muß ich auch aufpassen, grad, wenn´s so bucklig ist wie heute.“ Wie gesagt, er fuhr in einer anderen Klasse. Und doch liebte ich die Schußfahrten im ersten Stück oben. Das Handicap: Die Brillen liefen immer wieder an. Ich erinnere mich, die anlaufenden Brillen vermiesten mir die Sicht und das unbeschwerte Fahren. Es war klar, meine Angst ließ mich an der Stirn schwitzen. Schifahren war eine Herausforderung, aber das Schöne, keiner schaute mir zu, und wenn Schaupp mich sah, dann winkte er mir nur fröhlich zu und setzte sogleich wieder zu einem anmutigen, unbeschwerten Schwung an, der seine ganze Körpermasse geradezu schwerelos erscheinen ließ.

    Das Schifahren am Hochkar war bis auf die Schwarze anspruchslos, es war idyllisch, es war still, es war zeitenthoben. Es war mitten in der Woche, die Besucher waren überschaubar. Es gab ein großes Schifahrerwirtshaus neben dem Parkplatz, und Kaplan Schaupp kehrte mit mir nicht immer dort ein, nein, das tat er nicht, auch er schaute aufs Geld, aber mehr noch auf die Zeit. Schaupp fuhr Schi, solange es das Licht zuließ. Es war seine Passion, seine Freude, seine Naturverbundenheit. Dann die kurze Proformaberatschlagung: „Eß´ ma noch a Paarl Würstl oder eß´ ma zuhause?“ Die Frage war rethorisch, das wußte er selbst nur allzu gut, denn meine Antwort war kältebedingt immer dieselbe: So schnell als möglich nach Hause, denn meine Finger waren am Abfrieren. Und so fuhren wir in die Abenddämmerung hinein, das imposante Hochkar hinab, zurück, und diesmal schweigend, müde. Die Heizung funktionierte im Käfer immer. Ich glaube, bei all den Abenteuern – wie oft fuhr ich mit ihm? Drei oder vier Mal – legte wir auch ein Mal die Schneeketten an, beim Hinauffahren, rechtzeitig. Schaupp war ausgerüstet und vorbereitet. Er tat es behändig. Ich adjustierte ihm die ausgelegten Ketten, während er drauffuhr. Das Abnehmen unten geschah ruckzuck. So fuhren wir nach Hause. Bei uns gab es warmes Essen. Er saß bei diesen Gelegenheiten immer unterm Eßzimmerkruzifix und langte herzhaft zu, auch mit einem Seiterl Bier. Er plauderte aufgeräumt in seiner gutturalen Stimme und ließ es sich schmecken. Ich entschwand totmüde, unter die Dusche und ab ins Bett. Die Entschuldigung für die Schule schrieb mir damals noch der Vater. Er gab irgendein Unwohlsein an. Später, drei Jahre später, schwenkte er in seiner Entschuldigungspolitik um und notierte, sehr zum Erstaunen unserer Klassenvorständin, „Begleitung zum Ärztekongreß“. Das ließ die Kameraden johlen.

    Die letzte Reise mit Schaupp endete justament mit der letzten Abfahrt bereits in der flachen Zielausfahrt mit einem Kapitalsturz aus heiterem Himmel. Bis heute weiß ich nicht, welcher Schneeteufel mir da das rechte Bein wegzog, sodaß es mich wahrlich gewaltig zerbretzelte, und ich konnte von Glück sagen, daß ich mir weder mit dem einen Schi selbst den Kopf zerschlagen noch den anderen zerdeppscht vorfinden hätte müssen. Alles war voller Schnee, die Knie zitterten, und so ging ich belämmert und zerknittert die restliche Strecke bis zum Parkplatz zu Fuß, ein geschlagener Krieger. Schaupp bemerkte natürlich meine Miene und zählte eins und eins zusammen, und doch wollte ich nicht kommentarlos die Dinge auf sich beruhen lassen. Ich erzählte ihm also von dem unerklärlichen kapitalen Roller, und er quittierte es verständnisvoll: „Wird Zeit, daß wir Schluß machen.“

    Und so fanden unsere unkonventionellen Abenteuer ein Ende, und Kaplan Schaupp wurde von Langenhart abgezogen, um fortan sein christliches Werk als Pfarrer zur allseitigen Zufriedenheit in der Wachau fortzuführen. Letztens „googelte“ ich nach ihm. Wie wohltuend, er ist noch am Leben. Der gute Franz Schaupp, diese einzigartige Frohnatur. Dieser Menschenfreund.

  2. Die Welt wird nicht untergehen

    So sagte es mir, unvergessen, der wahre Lehrer, der große Philosoph Augustinus Karl Wucherer Huldenfeld, zu Allerheiligen 2014. Er sagte es mir beim Italiener in Wien 5., etwa gegen 19:15 Uhr. Wir hatten vielleicht 45 Minuten Zeit. Das wichtigste Gespräch meines Lebens fand in aller Eile statt. Er müsse nach der 18 Uhr-Messe auf eine Hochzeitsfeier, das Teffen sei also leider zeitlich beschränkt, hatte er mir um halb Sieben in der Früh am Telefon mitgeteilt. Ein Gespräch, auf das ich mich seit Jahren vorbereitet hatte. Es war ein Gespräch wie, beispielsweise, spontan assoziiert, dem Nagual Juan Matus im Jahre 1960 in der Wüste von Sonora zu begegnen, wie von Castaneda im Detail beschrieben und unvergeßlich eingebrannt. Einem Yaqui-Indio in dessen Heimat. Eine lebensverändernde Begegnung. Hier, bei Wucherer Huldenfeld, war es in dessen Aushilfspfarre, Sankt Josef zu Margarethen, nach der Samstagabendmesse, Allerheiligen, ein Hochfest im kirchlichen Jahreskalender. Wucherer Huldenfeld predigte über die Heiligen. Frei. Ohne Zettel. Er sprach über die Heiligung unseres Lebens zu Lebzeiten. Heilig zu werden zu Lebzeiten, so wie die Mormonen, die „Heiligen der letzten Tage“.

    Alles, was an jenem Tag geschah, hatte programmatischen Charakter. Die Unterhaltung war kultiviertes Stakkato. Wir führten einen sorgfältigen Dialog im Eiltempo. Meine Fragen, die erste nach der Entstehungsgeschichte seines Institutes für christliche Mystik, seine Antworten. Er hatte nur zwei Fragen an mich: „Haben Sie schon meinen neuen Band?“ Und gegen Ende der Unterhaltung hin: „Haben Sie gesehen, wohin der 50-Euro-Schein, der gerade noch hier lag, verschwunden ist?“ Mit einem gewissen Stolz in den Augen deponierte er, was ich in der Zwischenzeit bereits wußte. Er hatte das Gesamtwerk von Karl Barth, einem der führenden evangelischen Kirchenlehrer des 20.Jahrhundert, kurz zuvor fertig gelesen. Das sind gute 30 Bände. „Ich konnte sie lesen“, formulierte er. Er meinte damit, er „durfte“ sie lesen, noch, mit 86. Ein Eidetiker, zweifelsohne. Seine Augen leuchteten. Es war ihm wichtig, das zu deponieren. Er wollte mir damit Mehrfaches sagen, aber das Zentrale, das ich sofort verstand, war das Signal der Hingabe und Konzentration an die Aufgabe. Er hatte erkannt, für die Fortführung seines mehrbändigen Meisterwerkes „Theologische Philosophie im Umbruch“ war im Rahmen der Erörterung des Fideismus Karl Barth als dessen herausragender Prätendent unumgänglich. Er mußte ihn also komplett lesen, um ihn qualifiziert kommentieren zu können. Das tat er. Die Vorstellung, wie er im Schreiben seines aktuellen Bandes innehält, um Barths Gesamtwerk, von dem er vielleicht vier, fünf Bände bereits kannte (sicherlich den „Römerbrief“), durchzuackern, ist mir schlichtweg ehrfurchtgebietend. Wucherer Huldenfeld arbeitet, wie viele Philosophen seiner Epoche, mit einer Zettelkartei. Er exzipiert also die zentralen Aussagen. Doppelte Arbeit. Nicht nur unterstreichen. Exzerption, mit Seitenangabe. Was eine diskussionswürdige Aussage darstellt, erkennt er in einer Sekunde. Ein Mann, der nicht schläft. Noch im Bett schreibt er. Vielleicht diktiert er auf Diktaphon. Er hat eine Sekretärin. Zum Glück. Sein Geist hochgradig geordnet. Ich persönlich meine, daß er wie Castaneda schreibt, im Zustand erhöhten Bewußtseins. Oder wie Pater Pio in seiner Zelle. Vielleicht schreibt sein Schutzengel für ihn. Ernsthaft. Würde mich nicht erstaunen. Wie auch immer. Dann berührten wir ein paar Kollegen: Ebner, Benedikt, Heidegger, Wiplinger. „Kannten Sie Wiplinger?“ „Wir waren Freunde! Eine Woche vor seinem Tod waren wir noch gemeinsam im Hawelka.“

    Dann, wie aus einem Geistesblitz, aus dem Zusammenhang gerissen: „Die Welt wird nicht untergehen! ER hält sie in seiner Hand.“ Das „ER“ leicht dramatisch gesprochen, der perfekte Hinweis. Er durfte so reden, kein Zweifel. Wir hatten zwei ehrenwerte Herren als Zaungäste, Freunde von ihm, jünger als ich. Er genierte sich nicht zu weinen. Es war ersichtlich, der Geist hatte ihn ergriffen. Er mußte etwas in mir gesehen haben, vielleicht Chixkhulub, vielleicht den 11.September, vielleicht noch manches Andere. Es kam völlig unerwartet. Mit dem servierten Essen, kleinen Snacks, liefen wir in die Zielgerade ein. Die Beiwohner befragten mich zur Person. Ich erzählte ihnen von Agustíns Initiation und wie er bei mir gelandet war, im April 1979. Wucherer Huldenfeld verzog keine Miene. Ich durfte ihm in den Mantel helfen. Er äußerte eine überhöfliche, meisterliche Anspielung, die auf meine Mutter, die er in mir gesehen haben mußte, gemünzt war. Ich wußte, das war kryptisch, deshalb hielt ich meinen Schnabel. Draußen, als ich mich nach der Verabschiedung weggedreht hatte, verstand ich.

    Nur allzu gern hätte ich seinen mehrteiligen Abendgedanken zum Johannesevangelium beigewohnt. Etwas später sprach ein Engel: „Das alles ist nicht verloren! Streng dich an. Du wirst sehen.“

  3. Ein Leibarzt Philipps des Zweiten von Spanien

    Karls Entscheidung, Medizin zu studieren, fiel womöglich früh. Spätestens, als er seinen Vater Schultergelenke einrenken sah. Sein Vater war untersetzt, stämmig, muskelbepackt und hatte kurze Bärentatzen samt einem ausgeprägten, beißkräftigen Kiefer. Er handhabte Kunstgriffe mit einem rundgeschliffenen Holzscheit. Woher der Vater diese Kunstgriffe her hatte, verriet er nur einmal. „Als Roßknecht mußtest du dich da drüber trauen. Wenn dich ein Pferd abwirft, kannst du von Glück reden, wenn du dir nicht das Genick oder sonstwas brichst. Und wenn dich der Huf am Schädel erwischt, bist sowieso weg. Wenn einen das Roß erwischt, kannst du nicht Maulaffen feilbieten. Dann, wenn dein Hawara schmerzjaulend sich am Boden windet. Zupackt hab i, was denn sonst?“

    Karl ging 49 zusammen mit Bernhard, der später katholischer Beichtvater eines Kardinals werden sollte, nach Wien und mietete sich im Studentenheim der Pozellangasse, 9.Bezirk, ein. 1949, Vieles lag damals noch in Trümmern, doch es wurde fleißig wiederaufgebaut. Er zog das Studium im Rekordtempo durch. Dazu gehörte Begabung und, wie er später, mit einem Lächeln in den Augenwinkeln, gestand, auch spielerischer Wagemut. Bei zwei Rigorosen spielte er va banque. Das Kalkül ging auf. Die restlichen bestand er mit Auszeichnung. Er wollte so schnell als möglich in den Arztberuf eintreten. Das tat er. Wien 16., Wilhelminenspital. „Ich habe bisweilen rund um die Uhr gearbeitet. Spitalsarztschicksal. Du machst dich bereit, nach dem Nachtdienst nach Hause zu gehen, da kommt ein Notfall herein. Mußt du weitermachen. Manchmal bin ich zuhause in der Badewanne eingeschlafen.“ 1960 kehrte er mit seiner stadtscheuen Gattin in die Heimat am Lande zurück. Er wurde Gemeindearzt. Über Patienten und Notfälle brauchte er sich nicht zu beklagen. Als Gemeindearzt hatte er die Totenbeschauungen vorzunehmen. Die Ausstellung des offiziellen, also amtlichen Totendokumentes. Kein Toter ohne Totendokument. So ist das in einem Rechtsstaat. In den 37 Jahren seiner Praxis beschaute er vielleicht 5.700 Tote.

    Ich fragte ihn einmal nach den Selbstmördern. „Konntest Du in all den Jahren nach der Beschauung eines Selbstmörders gut schlafen?“ „Ja, immer, das hat mir nie Probleme bereitet.“ Wieviele hast du in all den Jahren gesehen? Hundert?“ „Weit über hundert!“ „Auch solche auf der Bahn? Wieviele auf der Bahn? Ein Dutzend?“ „Locker! Auf der Bahn ist es nicht einfach. Für den Lokführer. Beim Drüberfahren hebt es die Lok aus! Der Zugsführer kann von Glück reden, wenn er nicht entgleist.“

    „Einmal mußte ich einen Zugsführer selbst bergen, den W.. Du kennst seinen Sohn, der Beppi geht mit dir in die Schule. Der W. erlitt mitten in der Fahrt einen tödlichen Herzinfarkt. Der Zug stoppte mit der Totmannbremse und kam genau im Valentiner Bahnhof zum stehen, so als hielte er plangemäß. Keiner hat begriffen, daß drinnen ein toter Zugsführer liegt und der Zug deshalb nicht abfahren kann. Sie waren verdattert und riefen mich. Ich stieg die E-Lok hinauf und sah die Bescherung. Der W. war mausetot. „Rufts den Stockinger, er soll mit einem Sarg kommen“, rief ich ihnen hinunter. Sie begriffen immer noch nicht. „Totmannbremse!“, klärte ich sie auf. „Ihr seid doch von der ÖBB, oder etwa nicht?“ “

    Das war ein Ohrwurm, ein konkretes Problem. Ich ging damals in die Vierte Volksschule. Wie kann ein toter Mann bremsen?, fragte ich mich. Keiner wußte die Antwort. Den Beppi konnte ich nicht fragen. Er tat mir leid. Er, der Spaßvogel unserer Klasse. Heute weiß ich, Galgenhumor hoch drei. Das tut mir weh, jetzt, erst jetzt, fast ein halbes Jahrhundert später.

    „Nicht alle Feuerwehrmänner trauen sich einen Baumelnden abzunehmen. Manche übergeben sich oder sitzen mit grünem Gesicht in der Wiese. Für solche Fälle hatte ich immer Riechsalz eingepackt, doch nie Zigaretten. Von Zigaretten halte ich nichts. Ich habe den Feuerwehrleuten so wie der Rettung immer eingebläut: Laßt euch Zeit! Eure Schurrlerei wird nie einen Menschen retten, im Gegenteil! Sie gefährdet euch selbst! Und wie zum Beweis hat die Rettung mit Blaulicht auf der Autobahnauffahrt nach Linz einen Unfall gebaut. Schwere Havarie, mit dem Notfall auf der Liege. Zum Genieren! Den Feuerwehrleuten hab ich sowohl am Posten wie bei der Jagdkanzel in aller Ruhe erklärt: Burschen, wenn da einer hängt und ihr hinzukommt, ist er schon hinüber. Und wenn einer an der Jagdkanzel hängt, wurde er nicht ermordet.“

    „An Absurditäten mangelt es nicht in diesem Beruf. Man braucht Nerven und lernt das Leben in allen Facetten kennen. Und man braucht einen gesunden Schlaf, auch wenn du in einer Nacht zwei, oder, wenn´s der Teufel will, sogar drei Mal aus den Federn herausgeholt wirst. Du darfst dich nicht ärgern, wenn einer anruft und dir erklärt, er sitzt mit seiner Frau im Bett in Kalamitäten, er kommt aus ihr nicht mehr heraus. Das ist kein Einzelfall. Frag mich nicht, wie ich in die Wohnung hineinkam.“

    „Was mir und meiner Frau, die mir all die Jahre treu assistierte, zu schaffen machte, waren die unverhohlenen Forderungen nach Abtreibung. Die Frauen kommen da ganz ungeniert herein. Sie redeten ungeniert. Sie wollen den „Baumpatetsch“ eben nicht. Meine Frau war jedes Mal nahe am Nervenzusammenbruch und mußte hinausgehen. Sie ist ja gelernte Hebamme. Wir mußten uns entscheiden: Entweder im Glauben bleiben oder als praktischer Arzt handeln und die Überweisung schreiben. Ich habe Bernhard konsultiert. Bernhard sagte es mir lapidar: „Karl, der Glaube hat den längeren Atem.“ Die Frau stürmte fuchsteufelswild aus der Praxis, aber mein Gewissen war erleichtert. Später wußten Sie, der H. ist für Abtreibungen nicht zu haben, und so ließen sie mich damit in Ruhe. Klarerweise habe ich diese Leute als Patienten verloren, aber, wie es im Evangelium heißt, man kann nicht zwei Herren gleichzeitig dienen. Meine Frau zündete dann immer ein Kerzlein an in der Kirche.“

    „Freud und Leid liegen ganz eng beisammen. Viele holen sich bei einem Begräbnis den Tod, erst recht im Winter. Manch einer stirbt aus Freude, und das sind nicht nur die Italiener. Auch Frischvermählte können sterben, ganz schnell, eine Woche später. Oder einer will ein ausgebrochenes Pferd auf der nächtlichen Autobahn einfangen. Ich hab dem lokalen Polizeikommandanten erklärt, Herr Kommandant, die Aufgabe Ihrer Burschen ist nicht, einen in Panik geratenen Hengst einzufangen. Es gibt nur eins: Wenn er sich vor Ihnen aufstellt, retten Sie ihr eigenes Leben, und sei es mit der Dienstwaffe. Und wenn nicht, verkriechen Sie sich im Auto, so wie alle anderen Autofahrer auch. Stellen Sie das Blaulicht ab. Lassen Sie den Hengst weggaloppieren. Er wird in die Wiese hinunterspringen und nicht mehr wiederkehren. Dann sind Sie aus dem Schneider. Das Tier wird sich in der Wiese beruhigen, vielleicht nach ein paar Kilometern Auslauf. Dann rufen Sie den Tierarzt. Ersparen Sie sich die Scherereien mit einem Zuchtaraber.“

    „Leute können schnell gehen. Viele am Tag ihrer Pensionierung. Auch wir Ärzte sind nicht vor dem Tod gefeit. Oft ist es tragisch. Junge Frau, junge Kinder. Tragisch. Zum Weinen. Und immer fragt man sich: Was denkt sich der Herrgott dabei? Keine Antworten. Wir sind zu klein, um den Himmelvater zu begreifen.“

    „Mein bester Freund erschoß sich an einem Sonntag, während die Familie in der Kirche war. Sie holten mich von der Geburtstagsfeier meines Vaters weg. Er feierte seinen 60er. Der Alkohol hat den Karl umgebracht. Der Alkohol, nicht die Eifersucht. Alle Alkoholiker werden zu Teufeln. Nicht mehr zurechnungsfähig.“

    „Als Arzt mußt du bereits sein, im Notfall dein eigenes Blut zu spenden. Dein Cousin Walter wurde als Bub direkt vor der Haustür vom Motorrad überfahren, wie du weißt. Er lag in Linz am Operationstisch, mit offenem Schädel. Sie wollten bereits operieren. Ich lag neben ihm, mit ausgestrecktem Arm. Mein Blut floß direkt zu ihm hinüber. Ich sah, wie das Gehirn aufhörte zu pulsieren. Amen.“

    Schon vor Jahren, in einem Moment des kecken, vorwitzigen Wagemuts, wissend, daß er mir die Frage nicht übel nehmen würde, da er doch ein bekannter Steher und Jäger war, fragte ich ihn: „Vater, was machst Du, wenn dein Flugzeug in 10.000 Metern Höhe explodiert?“ Er überlegte nicht eine Sekunde. „Ein Kreuzzeichen.“

    Das sagt alles. Amen.

  4. Lasset die Kinder zu mir kommen

    Zu Ehren von Hermann Gmeiner

    Ich habe nichts tröstlicher empfunden in den Evangelien des Neuen Testamentes als diesen Ausspruch des Herrn: „Lasset die Kinder zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelsreich.“ Und bei einer nahen weiteren Gelegenheit: „Werdet wie die Kinder!“

    Das verstand ich von Kindesbeinen an. Wenn ich etwas in meinem Leben verstanden habe, dann das. Ich habe mich bis heute daran gehalten. Natürlich bin ich oft genug ausgerutscht, auf die „Schnauze“ gefallen, wie man im Deutschen so schön sagt, und habe mir die Nase blutig geschlagen. Doch diese Worte des Herrn habe ich mir nie austreiben lassen. Das hat mir zwar immer wieder Zores eingebracht, doch damit fängt die Geschichte und die Moral an. Das macht den kleinen, aber feinen Unterschied aus. Das ist das Fundament. Die wahren Christen erkenne ich daran, ob ihnen dieser Satz etwas bedeutet. „Bedeutet“ heißt, praktizieren sie ihn? Haben sie ihn in ihr Leben übernommen? Damit fängt es an. Man kann die Leute an diesem Christuswort messen. Alle. Auch Warren Buffet. Und einen Mörder sowieso. Die Kinder spielen Krieg, ja sowieso. Aus gutem Grund. Aber deswegen werden sie nicht zu Mördern. Im Gegenteil: Sie wollen verstehen, wie der Mensch zum Mörder werden kann. Kinder wollen verstehen, wie eine Mutter acht Kinder töten kann. Ich habe das selbst nicht verstanden. Woher hatte sie acht Kinder? Wer war der Vater oder waren die Väter? Jüngst, in der Zeitung. Ich wollte von den Details nichts wissen. Das passiert heute.

    Kinder sind die Zukunft. Kinder sind das Himmelsreich, so wie die Engel, die als putzige Kinder dargestellt werdern. Der Volksmund formuliert es in einem der Folkloreweihnachtslieder plastisch: „Die Engelein, die Buberle, die purzeln haufenweis´ hervor.“ Kinder fallen vom Himmel herunter oder heraus, zu uns, auf die Erde. Glücksboten teilen uns die Glücksbotschaft mit: „Der Heiland ist euch heute Nacht geboren.“ Das ist die wahre Glücksbotschaft. Ich kann damit viel anfangen.

    Und jetzt kommen Kinder. Waisenkinder. Wir brauchen einen zweiten Hermann Gmainer. Hermann Gmainer hatte ein Herz für Kinder, ein riesengroßes. Er, der Begründer der SOS-Kinderdörfer. Ein Tiroler. Da kommen Kinder. Fremdländische Kinder. Syrische Kinder. Waisenkinder. Sie gehen an der Hand eines Grenzsoldaten, eines Polzisten. Man sieht nur die Rücken. Links der Polizist in Uniform, mit Rangerbarett, rechts das Kind, das ihm die linke Hand emporreicht, ein Bub, mit Zipfelmütze und Rucksack. Ein Waisdenkind, ohne Eltern. Niemand weiß, wo die Eltern sind. Mein Gott. Und dann all die Fotos von den Babys im Ionischen Meer. Der Vater, der, nur mit den Beinen rudern, das Kind mit den Händen vor dem Ertrinken zu bewahren versucht. Das sind die Bilder. Das sind die Dramen. Das ist es, was alleine zählt. Die Liebe eines Vaters, der sein Kind vor dem Ertrinken zu bewahren versucht. Das ist alles. Damit hört das Reden auf. Hier ist nur Menschlichkeit gefordert, nichts weiter. Hilfe am Mitmenschen, egal, von woher er kommt. Man kann diese Menschen nicht so einfach zurückschicken in die Türkei, zu diesem Größenwahnsinnigen, der sich so gerne als Pascha aller Osmanen sehen würde und dem es gar nichts ausmacht, heimlich mit dem IS zu paktieren und Öl ins Feuer zu gießen, indem er einen russischen Bomber abschießen läßt. Dieses Wahnsinnige in seinem weißen Marmorpalast in Ankara zündelt mit einem Flächenbrand. Wieviele Kurdendörfer hat er in all den Jahren bombardieren lassen! Wie viele Kinder hat er auf dem Gewissen?

    Im Gaza-Streifen ist es nicht anders.

    Unsere Kinder. Sie kennen uns und machen sich Sorgen um uns. Bei uns als Kinder war es das gleiche. Auch wir machten uns Sorgen um unsere Eltern, denn wir wußten nur allzu genau, wie zerbrechlich deren Existenz schon immer war. Sie, die sie im Ehezwist befangen waren und vor lauter Gedankenschwere im Strassenverkehr nicht mehr klar zu blicken imstande waren. Wir wußten und sahen all das ganz genau. Aber im unterschied zur Generation von heute wagten wir nicht zu fragen: „Papa, warum machst Du so ein Gesicht?“ Doch die eigentliche Frage schieben diese unsere Kinder nach sechs Stunden Pause nach: „Papa, warum bist du so?“ Undf das ist doch wohl eine zentrale Frage.

    Die Kinder lieben uns und wir lieben sie noch viel mehr. Sie sorgen sich um uns, wir uns um sie. Keiner, so hat es den Anschein, hat es nötig, sich um sich selbst zu sorgen, solange diese Achse der Gegenseitigkeit, der gegenseitigen Liebe funktioniert.

    Bei allem, was Kindern widerfährt, könnte ich nur weinen. Auch nur der geringste Schaden, die geringste Verletzung, die geringste Gewalt, die geringste Hilflosigkeit, die geringste Furcht in der Miene all dieser Kinder macht mich bange und drängt mich unmittelbar zum Einschreiten, zum Trostspenden. Kinder zu trösten, durch Worte, durch Lieder, durch Streicheln, durch Lächeln, durch wohlmeinende Worte. Das ist elementar.

    Eintrag in Wikipedia:

    Hermann Gmeiner (* 23. Juni 1919 in Alberschwende, Vorarlberg, Österreich; † 26. April 1986 in Innsbruck, Tirol, Österreich) gründete nach dem Zweiten Weltkrieg die SOS-Kinderdörfer.

    Kindheit und Jugend

    Hermann Gmeiner wurde am 23. Juni 1919 als sechstes von neun Kindern einer Bergbauernfamilie in Alberschwende, im österreichischen Vorarlberg, geboren. Mit fünf Jahren, im März 1925, wurde er durch den Tod seiner Mutter Angelika Halbwaise. Die älteste Schwester Elsa übernahm die mütterlichen Pflichten im Haus und stellte damit die wichtigste Bezugsperson für ihn und sieben weitere Geschwister dar. Auf Grund seiner Leistungen in der Dorfschule Alberschwende erhielt er ein Stipendium, das ihm ab 1936 den Besuch des Gymnasiums in Feldkirch ermöglichte. Noch vor Ablegung der Matura wurde Gmeiner im Februar 1940 zur Wehrmacht eingezogen und diente in Nord-Finnland (Lappland/Eismeerfront), Russland und Ungarn. Mehrere Male verwundet, kehrte er 1945 auch als Verwundeter in seine Heimat zurück, wo er bis November 1945 im Lazarett Bregenz verbringen musste. Nach seiner Genesung half er seinem Vater auf dem Bauernhof, bis nach kurzer Zeit der erste aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Bruder diese Stelle übernahm und er die Matura (Abitur) nachholen konnte. Im Herbst 1946 begann er in Innsbruck Medizin zu studieren.

    Erste soziale Gedanken

    Durch seine Tätigkeit als Ministrant, die der gläubige Gmeiner in der katholischen Pfarre des Innsbrucker Stadtteiles Mariahilf in seiner knappen Freizeit ausübte, kannte er den dortigen Kaplan Mayr. Als ihm im Winter 1947 ein zwölfjähriger Junge begegnete, dessen Schicksal ihn tief bewegte, kamen Erinnerungen an seine eigene Kindheit und seine Erlebnisse im Krieg hoch, wo ihm einmal ein sowjet-russischer Junge das Leben gerettet hatte. Gmeiner wollte für den 12-Jährigen unbedingt etwas tun und ging mit seinem Anliegen zu Kaplan Mayr. So baute er eine neue Jugendgruppe auf. Er konnte 16 Jugendliche motivieren und gründete den Stoß-Trupp, der in der gesamten Tiroler katholischen Jugend bekannt wurde.

    Diese Erinnerung sollte ein wichtiger, spiritueller Wegweiser für den zukünftigen Schaffensweg von Hermann Gmeiner werden. Er selbst kommentiert dieses einschneidende Erlebnis folgendermaßen: „In diesen schrecklichen Augenblicken meines Lebens mitten im grausamen Krieg, in diesen geschilderten Momenten beginnt genau jene Geschichte, die ich eigentlich erzählen will.“ Der frühe Verlust der Mutter und die Tatsache, dass die älteste Schwester Elsa als Ersatzmutter die Verantwortung für die Grossfamilie übernimmt, wird zum zweiten prägenden Erlebnis für Gmeiner, das seine Kinderdorf-Idee erstmals nachhaltig stimuliert. Hermann Gmeiners Nachfolger Helmut Kutin betrachtet Elsas Aufopferung für die Familie und die Geborgenheit, welches die Familienmitglieder dadurch erfuhren, als Schlüsselerlebnis für Gmeiners späteres Mütterprinzip. Er meint dazu: „Eindeutig das Schlüsselerlebnis, das Hermann Gmeiners ganzes Leben prägen sollte.“

    Gmeiner besuchte eine „Erziehungsanstalt“, sprach mit Jugendfürsorgerinnen und diskutierte mit anderen Studenten. Schließlich reifte in ihm die Überzeugung, dass Heime und Anstalten nicht der richtige Weg seien, um Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Familienverhältnissen zu helfen. Dabei erinnerte er sich auch an seine eigene Kindheit, den frühen Verlust der Mutter und die Ersatzmutter in Gestalt seiner Schwester Elsa. Er entwarf den Plan, ein Haus für diese Kinder zu bauen, wo eine Mutter ein richtiges Daheim schenken konnte, ja eine ganze Anzahl dieser Häuser sollten es sein, ein richtiges Kinderdorf.

    Der Weg zum ersten SOS-Kinderdorf

    1948 schlug Kaplan Mayr vor, dass Gmeiner zum Jugendführer für das gesamte Dekanat werden solle. In dieser Rolle gründete Gmeiner einen Verein. Am 25. April 1949 hielt er die Gründungsversammlung ab, die Ziele des Vereines sollten sein:

    • Errichtung eines Dorfes für Waisenkinder

    • Errichtung einer Einrichtung „Mutter und Kind“, zum Schutz verheirateter Mütter

    • Errichtung eines „Mutterhauses“, zur Ausbildung einer Schwesternschaft für soziale Arbeit

    Die Tätigkeit des Vereins sollte sich auf das Land Tirol beschränken und seinen Sitz in Innsbruck haben. Gmeiner gab dem Verein den Namen Societas Socialis, darin war bereits die Abkürzung SOS, was Save our Souls heißt (später: SOS-Kinderdorf).

    Das SOS-Kinderdorf entstand

    Zuerst wollte Gmeiner die Idee des SOS-Kinderdorfes realisieren, erst dann sollten „Mutter und Kind“ und das „Mutterhaus“ in Angriff genommen werden. Er begann mit einem Kapital von 600 Schilling, dies waren seine gesamten Ersparnisse, und, nachdem man ihm in Innsbruck einen Abstellraum kostenlos zur Verfügung gestellt hatte, den er als Büro umfunktionierte, investierte er in Flugblätter, die einen Spendenaufruf enthielten, welche von einigen Frauen und Bekannten aus seiner Jugendgruppe in der Stadt verteilt wurden. 1949 schrieb er an Tiroler Gemeinden und versuchte, dem Verein kostenlos ein Grundstück für den Bau eines Kinderdorfes zur Verfügung zu stellen. Der Bürgermeister der Stadt Imst, Josef Koch, antwortete positiv auf die Bitte Gmeiners. Gmeiner begegnete dort ein Kriegskamerad, der in Imst Baumeister war und sich bereit erklärte, mit dem Bau eines Hauses auf Kredit zu beginnen. Langsam zeigte sich der Erfolg vieler Mühe und es kam Geld herein, das meist sofort wieder in neue Mitgliederwerbung gesteckt wurde. Am 2. Dezember 1949 konnte die Dachgleiche (das Richtfest) des ersten Kinderdorfhauses gefeiert werden, ohne jedes Geld.

    Hindernisse

    1949 gab Gmeiner sein Medizinstudium und die Arbeit als Dekanatsjugendführer auf, um sich völlig der SOS-Kinderdorf-Aufgabe widmen zu können. Es gab auch Schwierigkeiten: Er selbst und viele seiner Helfer wurden mehrmals von der Polizei festgenommen und verhört. Im Sommer 1949 kam es sogar zu einer Hausdurchsuchung. Durch einen befreundeten Rechtsanwalt konnte der Betrieb wieder aufgenommen werden. Im Frühjahr 1950 hatte er beinahe 1000 regelmäßige Spendenmitglieder in seinen Listen stehen und es kamen auch größere Einzelspenden. Als die Gemeinde Imst zusagte, die notwendige Zufahrtsstraße, Strom- und Wasserleitung bis zum Grundstück kostenlos zu errichten, gab er den Auftrag, weitere vier Kinderdorfhäuser zu errichten.

    Verwirklichung einer Idee

    Inzwischen hatte Gmeiner mit der Suche nach Kinderdorfmüttern begonnen. Die erste, Helene Diddl, brachte die Idee mit der Weihnachtskartenaktion ein. Die Spendenwerbung wurde auf ganz Österreich ausgedehnt und intensiviert. Dadurch konnte er bereits Ende 1950 sämtliche Schulden abzahlen. Am Weihnachtsabend 1950 wurde das erste Kinderdorfhaus von fünf Waisenkindern, die kurz vorher ihre Eltern verloren hatten, bezogen. Einige Monate später waren alle fünf Häuser fertiggestellt und im Sommer 1951 von insgesamt 45 Kindern bewohnt.

    Die Kinderdörfer beruhen auf dem Prinzip Mutter-Geschwister-Haus-Dorf, das am ehesten den natürlichen Familienverhältnissen entspricht. Der Anfang war schwierig, zahllose Probleme mussten mit den Kinderdorfmüttern besprochen werden, der Schriftverkehr mit Jugendämtern, Pflegschaftsgerichten und Fürsorgeeinrichtungen bewältigt, und viele Details, von Impfkarten bis Dokumentenmappen, für die Kinder organisiert werden.

    Expansion

    Im Sommer 1951 fuhr Gmeiner nach Wien, um dort eine eigene SOS-Geschäftsstelle einzurichten. In diesem Jahr konnten in Imst zwei weitere Kinderdorfhäuser und ein Gemeindehaus errichtet werden. Im Gemeindehaus wurden eine Krankenstation, ein Gemeinschaftsraum, eine Waschküche, Näh- und Bastelzimmer sowie Lagerräume untergebracht. 1952 erschien erstmals der Kinderdorfbote, eine vierteljährliche Zeitschrift, die alles in und um die Kinderdörfer berichtete und an alle Spender verschickt wurde. Dieses Blatt sollte später, in zahlreichen Sprachen gedruckt, in Millionenauflage der wichtigste Spendenbringer werden. Daneben wurde der Kinderdorfkalender ins Leben gerufen, eine Kinderdorflotterie gegründet und mehr und mehr Unternehmen und Organisationen als Unterstützer gewonnen. Die immer reichlicher fließenden Spenden ermöglichten es Gmeiner in den folgenden Jahren, kontinuierlich das Kinderdorf in Imst auszubauen.

    1953 errichtete Gmeiner im italienischen Caldonazzo, ein Ferienlager, das später ein Ort der Begegnung für alle europäischen Kinderdorfkinder werden sollte und als Ausbildungsstätte für spätere Kinderdorfleiter genutzt wurde. 1954 folgte in Innsbruck erstmals eine als Ausbildungszentrum für Kinderdorfmütter ins Leben gerufene Mütterschule. Am 10. Februar 1955 konnte Gmeiner in München die Gründungsversammlung der deutschen „SOS-Kinderdorf e. V.“ unter der Leitung von Jürgen Froelich und Peter Hecker eröffnen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten – auch hier gab es polizeiliche Beschlagnahmungen – wurde 1958 das erste deutsche Kinderdorf in Dießen am Ammersee eröffnet. 1955 gründete Gmeiner den Verein „SOS-Kinderdorf Oberösterreich“, unter ihrem Geschäftsführer Hansheinz Reinprecht entstand im Frühjahr 1956 das Kinderdorf Altmünster. 1956 wurden auch das Kinderdorf Osttirol in Nußdorf-Debant bei Lienz und das erste Jugendhaus, wofür Gmeiner in Egerdach bei Innsbruck ein aufgelassenes Erholungsheim erwarb, eröffnet. Letzteres wurde Wohnung für spätere Lehrlinge und Studenten aus Kinderdörfern. 1957, nachdem Gmeiner monatelang persönlich in Wien Spenden gesammelt hatte, wurde das bis dahin größte Kinderdorf in Hinterbrühl im Wienerwald seiner Bestimmung übergeben. Es folgten Kinderdörfer in Frankreich und Italien.

    Rechtsgrundlagen

    1960 gründete Gmeiner in Straßburg den Dachverband „Europäischer Verband der SOS-Kinderdörfer“. Hier wurde auch beschlossen, den Namen SOS-Kinderdorf und das Kinderdorfemblem rechtlich zu schützen. Hermann Gmeiner wurde einstimmig zum Präsidenten gewählt, Hansheinz Reinprecht zum Generalsekretär. Nun begann die eigentliche und bis heute anhaltende Ausbreitung der SOS-Kinderdörfer in weiten Teilen der Welt. Nach weiteren europäischen Staaten folgte ein erstes überseeisches Kinderdorf in Südkorea. Bei einem Besuch in Seoul Anfang 1963 kam Gmeiner die Idee, für die Finanzierung ein Reiskorn für einen Dollar zu verkaufen. Die Kampagne „Ein Reiskorn für Korea“ war ein durchschlagender Erfolg, 1964 konnte der „Kinderdorfverein Korea“ gegründet werden und 1965 fand die Eröffnung des ersten außereuropäischen Kinderdorfes in Daegu statt. 1966 reiste er während des Vietnamkrieges nach Saigon, um ein SOS-Kinderdorf Vietnam ins Leben zu rufen, welches trotz des Krieges 1969 in Go Vap, einem Vorort von Ho-Chi-Minh-Stadt eröffnet werden konnte. Es folgten Kinderdörfer in Indien, unter anderem für die im Exil lebenden tibetischen Flüchtlingskinder, schließlich Lateinamerika und Afrika. 1986, im Todesjahr Gmeiners, war die Kinderdorfidee in 85 Ländern mit 233 Kinderdörfern auf 40.000 Kinder angewachsen.

    1965 trug Gmeiner der Internationalisierung seiner Idee Rechnung und der Dachverband wurde in „SOS-Kinderdorf International“ mit Sitz in Wien umbenannt. Um die Expansion in den ärmeren Ländern vorantreiben zu können, wurden in den nächsten Jahren in den reicheren Ländern zahlreiche eigene Fördervereine gegründet, z.B. in Deutschland der „Hermann Gmeiner Fonds Deutschland e. V.“ (im Gegensatz zum „SOS-Kinderdorf e. V.“, der nur für den Bau und Unterhalt der deutschen Kinderdörfer zuständig war) oder in der Schweiz die „Schweizer Freunde der SOS-Kinderdörfer“. Die Spenden an diese Fördervereine werden ausschließlich für den Aufbau von Kinderdörfern in den Entwicklungsländern verwendet. In diesem Zusammenhang wurde auch ein neues Finanzierungsprogramm geboren, die Patenschaft. Hier hatte jeder die Möglichkeit, die Patenschaft für ein SOS-Kinderdorfkind irgendwo auf der Welt zu übernehmen und auch mit diesem in direkten

    Kontakt zu treten.

    Tod und Nachruf

    Hermann Gmeiner selbst fühlte sich im Kinderdorf Imst zuhause. Dorthin kehrte er, vor allem nach seinen zahlreichen Auslandsreisen, immer wieder zurück. Das Kinderdorf Imst war auch seine Familie, da er aus Zeitmangel nie heiratete und keine eigenen Kinder hatte. Nach 37 Jahren Arbeit im Dienste benachteiligter Kinder starb Gmeiner im 66. Lebensjahr am 26. April 1986 in Innsbruck an Krebs. Seinem Wunsch entsprechend, wurde er im Kinderdorf Imst begraben, wo auch eine kleine Gedenkstätte an ihn erinnert. Bereits 1985 hat Gmeiner seinen Nachfolger bestellt: Helmut Kutin leitete seit dem Tod Gmeiners das weltweite Sozialwerk von 1986 bis 2012. Nachfolger Kutins wurde im Juli 2012 Siddhartha Kaul.

    Im Jahr 2006 bestanden „1.715 Einrichtungen und Hilfsprogramme in 132 Ländern und Territorien“, in denen über 60.000 Kinder und Jugendliche basierend auf der Idee und dem Idealismus von Hermann Gmeiner betreut werden. Eine kaum noch überschaubare Zahl von Schulen, Kindergärten, Straßen und Parks tragen heute seinen Namen. 1994 widmete ihm die Österreichische Post eine Briefmarke. Albert Schweitzer bezeichnete die Kinderdörfer als „freundlichstes Wunder der Nachkriegszeit“.

    Im süddeutschen Ehingen (Donau) ist eine Förderschule nach Hermann Gmeiner benannt. Im westdeutschen Dormagen ist eine Hauptschule nach ihm benannt.

    Hermann Gmeiner. Ein treuer, durch und durch bescheidener Wegbegleiter seit meiner Jugend. Vielleicht der größte Österreicher von allen. Ein Apostel des Herrn. Ein Engel der Kinder. Ein Lebensretter. Ein Retter nicht nur der Waisenkinder. Ein Sinngeber. Ein Unvergessener. Ein friedliches Gesicht. Ein Heiliger. Ja, warum nicht?

  5. Erziehen zur Freiheit

    Marian Heitger zum Gedenken

    Der geheimnisvollste von allen Lehrern, die mir wahrlich etwas zu sagen hatten, war ein Herr aus Hamm, Deutschland. Ein Herr, 1927 geboren. Großgewachsen, mit dicken Gläsern bewehrt, und einer wehenden Haarmähne, die seine Künstlermarke ausmachte. Marian Heitger war Pädagoge, über Jahrzehnte hinweg, hier in Wien. Er war in meinen Augen die Referenz schlechthin. Er hatte mehr Atouts als jeder andere im Ärmel. Heitger war Pädagoge aus Liebe zum Menschen. Nie hätte ich mir erträumt, dass ich diesen Mann in meinen Studienlabyrinthen treffen würde. Doch jetzt träume ich von ihm, und die Erinnerung an ihn rührt mich zu Tränen.

    "Heitger vertrat im Anschluss an seinen akademischen Lehrer Alfred Petzelt sowie dessen Doktorvater Richard Hönigswald den Standpunkt einer prinzipienwissenschaftlichen Pädagogik und verschaffte dieser durch zahlreiche Aktivitäten (unter anderem Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Universität Klagenfurt, Vizepräsident der Wiener Katholischen Akademie, Mitglied des Direktoriums der Salzburger Hochschulwochen) und Publikationen starke Resonanz. Unter Prinzipien verstand er allgemeingültige und notwendige Voraussetzungen, die man annehmen muss, wenn man von und vor allem über Pädagogik sprechen möchte. Eines dieser Prinzipien ist die „Selbstbestimmung“ des Menschen. Ohne den Menschen als das Vermögen vorauszusetzen, sich selbst bestimmen zu können und auch zu sollen, könne keine wissenschaftliche Pädagogik beginnen. Sein pädagogisches Werk trägt daher wohl notwendig normative Züge, die von einem unbedingten Sollen ausgehen, doch ist es keineswegs normierend. Heitger war der Ansicht, dass der Mensch vielmehr dazu aufgefordert sei, sich zu bilden und das bedeute, pädagogisch tätig zu werden, was de facto nur per Dialog möglich sei. Die prinzipienwissenschaftliche Pädagogik Marian Heitgers ist deshalb vor allem auch eine „Pädagogik des Dialogs“."(Eintragung Wikipedia)

    Heitgers Zugang zur Pädagogik war durchdacht und, bedenkt man die wissenschaftliche Ideologie des Positivismus, die wie eine Krankheit ab den 70er Jahren die wissenschaftlichen Fakultäten – und so auch die Wiener – rigoros und geradezu inquisitorisch heimsuchte, mutig. Das Wien der 70er Jahre war auf Seiten der Humanwissenschaften faschistisch geprägt. Der Einzelne, und so auch der Student, zählte nichts. Was zählte, war die statistische Verteilung und statistische Signifikanz. Das Sowjetsystem hätte es nicht besser formulieren können. Die Lehre der Masse kam natürlich wie das meiste, das mit dem teuflischen Gedanken der Auslese zu tun hatte, von westlich des Atlantiks, von jenem gelobten Land, in dessen humanwissenschaftlichen Instituten – man glaubt es heute kaum – mit Ratten und Elektroschocks experimentiert wurde. Jene Forschungsergebnisse wurden dann klammheimlich auf den Menschen übertragen. Der Mensch, das war das Credo jener Zeit, war nichts anderes als ein Wesen gebündelter Konditionierung. Bewusstsein, Selbstbewusstsein und erst der Gedanke der Freiheit, das alles war im höchsten Maße suspekt.

    Ich habe diese ekelhafte Ideologie aus nächster Naehe miterlebt, und wahrscheinlich hat sie sich heute nicht viel geändert. Der Faschismus will den Einzelnen nicht. Er will das Prinzip Person abschaffen. Für ihn existieren Freiheit und Würde des Menschen nicht. Begriffe des Humansimus sind ihm ein Gräuel. Nur so kann der Faschismus von Menschen als "Ungeziefer" sprechen. Er entwürdigt systematisch den Glauben an den Menschen als göttliches Geschöpf. Der Faschismus nimmt das, was ist, selbst in die Hand und manipuliert es. Der Faschismus greift ein und sieht keine Grenzen. Es gibt für ihn keinen Halt. Sechs Millionen Juden, sechzig Millionen Sowjetbürger: Weder Hitler noch Stalin hegten die geringsten Skrupel, Menschen in gigantischer Zahl auszulöschen. Und andere Mörder folgten ihnen nach.

    Diese Haltlosigkeit hatte immer schon System: Das unausgesprochene Bekenntnis eines Potentaten, nur ein Gesetz anzuerkennen, nämlich die persönliche Willkür. Ich will töten, und so töte ich. Keiner hindert mich. Dieses Bekenntnis ist geradezu geschichtstragend, bis zum heutigen Tag.

    Und die Wissenschaft zieht mit. Sie unterbaut diesen Wahn geradezu durch einen den Geist zerreissenden und negierenden Ansatz. Sie anerkennt die Naturgesetze, doch sie sieht den Kosmos, in welchem diese Gesetze regieren, als unpersönliches Gegebenheit. Der Kosmos existiert auch ohne den Menschen. Der Mensch ist vernachlässigbar. Er ist ein Produkt des Zufalls. Das, was der Mensch glaubt, ist purer Unsinn, "Schmarren".

    Die Naturwissenschafter seit 90 Jahren sind Vorreiter des Nihilismus, der dabei ist, die gesamte Menschheit aufzufressen und ins sprichwörtliche Nichts zu stürzen. Der letzte Physiker mit Anstand war Einstein. Natürlich gab es auch nach ihm noch Ausnahmen. Doch auf breiter Basis regiert der kalt lächelnde Zynismus. Eine Forscherhaltung, die es nur auf Manipulation abgesehen hat. Auf Atomzertrümmerung und Genmanipulation. Alles ist erlaubt. Jedes Staatsgesetz ist nur Ausdruck der Willkür, weil eben politisch opportun. Doch es hat kein Fundament. Wo sollte es ein Fundament geben, wenn "alles ein Produkt blinden Zufalls ist"?

    Das ist pure Geistesspaltung der allergröbsten Art. Ihre Konsequenz wird der Massenselbstmord sein. Die Menschheit wird sich selbst auslöschen. Das Vermoegen dazu hat sie. In jeder Gestalt.

    Der Gegenentwurf zu diesem Irrsinn war Marian Heitger. Heitger war Katholik. Bekennender Katholik. Ein großgewachsener Mann. In seiner Erscheinung geradezu wie Lehrer Lembke aus Wilhelm Busch. Er wirkte wie eine sympathische Karikatur. Die starken Brillen, der erhobene Zeigefinger, die löwenhafte Haarmähne. Sein Markenzeichen, wie gesagt. Seine Stimme war geradezu erotisch. Die Gutturalitaet schlechthin. Eine Stimme, bei deren Anhub es einem geradezu ueber den Rücken hinunterrieselte. Auch Heitger trat im Audimax auf, immer am Nachmittag. Ich hörte ihn über Jahre, immer am Freitag, um 14 Uhr. Das Audimax war beileibe nicht gefüllt. Ganz und gar nicht. Aber keiner nahm ihm deswegen den grossen Saal weg. Ich genoß ihn geradezu. Dieser deutsche Akzent, diese gutturale Stimme, als würde er näseln. Das alles wurde geradezu gefeiert. Heitger warf sich in Positur. Er verschränkte zeitweise die Hände vor der Brust, aus Konzentration, dann warf er einen Arm in die Höhe und versenkte sich in den Gedanken. Es ging um wahrlich Fundamentales. Kein anderer der Lehrstuhlinhaber nahm sich dermaßen ausführlich Zeit, um einen Gedanken zu entwickeln. Er stand rechts drüben am Podium, nicht wie die Philosophen (Mader, Heintel, Ulmer) links.

    Heitger fragte sich grundsätzlich, wie sollen wir eigentlich mit einander umgehen? Wie sollen wir mit einander sprechen? Wie sollen wir vor allem mit den Kindern sprechen? Sprechen! Das waren grundsätzliche Fragen. Heitger war kein Schleimscheisser, wie die meisten anderen Humanwissenschafter. Er fragte intelligent, ohne Vorurteile. Er fragte im tiefen Glauben. Er fragte in tiefem Respekt. Er fragte in Liebe. Das gestand ich mir erst mit der Zeit ein, und es entschleierte sich, als ich ihm schlußendlich beim Rigorosum in seinem dunkeln Büro in der Schwarzspanierstrasse gegenuebersass.

    Heitger glaubte an die Seele. Das war sein Ansatz. Er war nicht wie diese Halsabschneider ein plumper Behaviorist. Er schrieb niemals an der Tafel. Undenkbar. Er philosophierte mit verschränkten Armen. Er sprach langsam. Man konnte in Ruhe mitschreiben oder mithören. Ich hatte schnell den Mittelweg zwischen beidem gefunden. Wenn er redete, lief mir immer das Wasser im Mund zusammen, sosehr gefielen mir seine Gedanken. Sein Reden war eine Abrechnung mit den Faschisten der psychologisch behavioristischen Lerntheorie. Diese Typen schrieben auf der Tafel einen Namen auf, gingen eine Runde und wischten sie beim Zurückkehren mit dem nassen Schwamm wieder weg. Das war ihre Methode der Dressierung. Damit hatten sie einen stillen Saal gewährleistet. Keiner wagte diese Typen zu befragen. Das verstand man unter Humanwissenschaft. Wagte man zu Semesterbeginn eine prinzipielle Frage, warum denn eine auf Mathematik basierende Statistik ein derartiges Gewicht in der Psychologie in Wien innehätte, verließ der zuständige Fachmann, der sich durch einen tolldreisten Studenten unangenehm befragt fühlte, protestierend den Saal. Ein Hampelmann. Ein Hampelmannfaschist.

    Das alles machte es dem Mitdenkenden von Anfang an klar, Wissenschaft war nichts anderes als Krieg und das Studium harsche Auslese. Die einen befürworteten Atombomben, die anderen Abrüstung. Die einen befürworteten Elektroschocks und Gitterbetten, die anderen offene Türen, Gespräche und Arbeitstherapie.

    Früh wurden die Weichen gestellt. Heitger war der Lichtritter. Ich konnte es nie glauben. Sein Auftritt war der reinste Seelenbalsam. Ich wußte, er hatte ein Spezialseminar mit Wucherer Huldenfeld in petto. Man musste damals schon ziemlich selbstvoreingenommen eingestellt gewesen sein, um diese Kostbarkeit vorsätzlich vorbeiziehen zu lassen. Das war unter anderem meiner damaligen Schachmanie zu danken. Wie auch immer. Der Strang war gelegt.

    Heitger war ein Fan von Sokrates. Das ergab sich prima, denn Sokrates war der erste, der mir wirklich gefallen hatte. Ich las ihn bereits als Ferialschüler in den Nachtschichten im Stahlwerk. Sokrates, der Häßliche, dem jedes Wort Anlaß zu weiterem Denken war. Einer, der in Athen umherschlenderte und Jugendliche ansprach. Ein "Kinderverzahrer", wie man solche Typen in Wien nennt. Einer, der jeden zum Denken brachte. Ich finde, das ist ein Idealberuf. Heitger liebte Sokrates. Dort setzte er an. Dort setzte sein "dialogisches Prinzip" an. Der Dialog. Erst nach gegebener Zeit begriff ich, wie gesagt, die Tragweite des Heitgerschen Vortrags. Heitger wollte seine Zuhörer in ihrer Lernpenibilität stoppen. Er wollte, dass sie mitdachten und das Verstandene auf sich selbst umwendeten. Ja, mitten im Vortrag auf sich selbst umwendeten. Dazu gab er uns Zeit durch das langsame Beleuchten des Gesagten. Er blickte uns an, er dachte mit uns. Er zeigte uns, wie Denken geht. Er war einzigartig. Alle anderen, die unter Zeitdruck dahinhaspelten, auch, weil sie vielleicht krankheitsbedingt eine Vorlesung ausfallen hatten lassen müssen, diese Herren mit ihren Skripten, von denen sie runterlasen, was für enttäuschende Phantasielosigkeit. Selbst bei den Theologen. All diese Herren, geschmückt mit Titeln und Eigendünkel, waren unterdimensioniert. Heitger stand wahrlich und verdientermaßen ganz oben. Einer, der uns nie vergaß.

    Ich bewunderte ihn. Ja, ich bewunderte ihn. Zeitweise hatte ich den Eindruck, er wäre wie der Nazaräner unter den Pharisäern. Das war dasselbe wie bei Wucherer, von dem ich wußte, daß die anderen Schwarzkittler ihm nur allzu gern ans Bein pissen haetten wollen. Allein, sie konnten ihm nicht das Wasser reichen, denn Wucherer Huldenfeld war im Himalaya zuhause. Heitger ähnlich, schon wegen seiner Statur. Sein einziger Schutz: Die dicken Brillen. Ich wusste, er hatte es nicht einfach. Er lebte in einem durch und durch dunklen Büro in der Schwarzspanierstrasse, praktisch direkt neben dem Anatomischen Institut. Was mir auffiel, sie sparten dort mit dem Licht. Heitger und seine Assistenten waren gevifte Stromsparer. Doch das Licht ging einem nicht ab. Wenn ich dort war (immer am Nachmittag) schien die Sonne immer zum passenden Zeitpunkt und auf geniale Weise im richtigen Winkel. Dieser Umstand trug wesentlich zu meinem Eindruck bei, ich kennte Marian Heitger schon ein Leben lang. Und sogar noch heute fühle ich mich direkt in sein Büro versetzt, wo wir uns nur ein einziges Mal, zum würdigen Abschluß, gegenüber saßen. Ich weiß jetzt, daß mich Marian Heitger bis heute in meinen Träumen begleitet. Heute morgen erinnerte ich mich plötzlich, daß auch er Ferdinand Ebner, den laut Wucherer Huldenfeld tiefsinnigsten Philosophen Österreichs, gelesen hatte. Er tat dies in Form eines Exkurses, mitten in einem mitreissenden Gedanken, gewissermassen auf dem Höhepunkt einer pädagogischen Verpflichtungserklärung. Heute morgen erst, nach knapp 40 Jahren, realisierte ich, daß Heitger damals aus Ebners "Nachwort 1931", das dieser nur wenige Monate vor seinem Tod niedergeschrieben hatte, zitierte. Heitgers verschleiertes Bekenntnis: "Alles Denken kommt vom Wort her und soll zum Wort zurück. Es kommt aus dem Wort, in dem das Leben begriffen ist, und soll zurück zu dem Wort, in dem das Leben gerettet ist…. Man könnte auch sagen: alles Denken hat darin seinen Ursprung, daß das Leben des Menschen einen "Sinn" hat. Und darum dächte er ueberhaupt nicht, wenn es keinen Sinn hätte, und denkend setzt der Mensch diesen Sinn voraus – oder sucht ihn." Das die Worte Ebners aus dem Munde Marian Heitgers. Eine Atomexplosion, mitten im Auditorium Maximum der Universitaet in Wien 1., etwa im Jahre 1980.

    Als ich ihm dann, ein paar ungezählte Jahre später, gegenübersaß, war er pure Freundlichkeit. Das Rigorosum war eine Art Teegespräch. Sehr intim. Ich fühlte, er hegte echtes Interesse an mir. Es war mir ein Anliegen, eine gut bedachte Bemerkung zu seiner Argumentationslinie, die ja eine Lebenslinie darstellte, anzubringen. Er gab mir recht. "Ja, die letzte Referenz ist der Glaube, doch die Kunst besteht darin, damit die Argumentationslinie, die auf menschlicher Zuwendung beruht, nicht zu präjudizieren." Es war späterer Nachmittag. Er schaltete keine Tischlampe ein. Er trank englischen Tee. Er schlürfte ihn genüßlich. Ich atmete tief durch. Alles kam an ein Ende. Ich hätte bei ihm sitzen bleiben können. Das machte mich traurig. Ja, ich hätte bei ihm bleiben können, zeitlos, raumlos. Hier verwirklichte sich eine Mission von höherem Gesetz.

    Vorgestern trat er mir gegenüber, diskret, liebevoll. Es schnürt mir die Kehle zu. Ich weiß heute, dieser Mann lebte die Liebe. Er lebte sie unaufdringlich. ("Den Anderen freigeben zu eigenem Sein", nannte es Wucherer Huldenfeld).

    Marian Heitger starb am 7.März 2012. Es sind also schon vier Jahre her. Das alles ist ziemlich ernst.

    "Wir freuen uns immer, wenn wenn wir von der Existenz und Wirksamkeit eines wahrhaft gütigen Menschen erfahren. Das ist nicht wie der Stolz auf das "Genie", in dem es die Menschheit so und so weit gebracht hat. Das ist etwas ganz anderes und hat seinen tieferen Grund. Selbstverständlich findet er sich im Evangelium: Matthäus 5,16. ["So leuchte euer Licht vor den Menmschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater verherrlichen, der in den Himmeln ist."] Vergessen wir aber auch nicht, in unserem Herzen den Vater im Himmel zu preisen. Denn wahrlich, in jenem gütigen Menschen ist er zu uns gekommen." (Ferdinand Ebner, Aphorismen 1931; wenige Wochen vor seinem Tod)

  6. Höhen und Tiefen. Ein Kinderleben.

    Was gibt es Neues aus Katalonien? Uhuhu, das sieht nicht besonders rosig aus. Salomon Karli mußte in den letzten Wochen ordentlich leiden. Sein FC Barcelona riß keine Welten aus. Niederlagen in der spanischen Liga, zuerst gegen den Erzrivalen, das "Weiße Ballett" aus Madrid (schmähliche 1:2 Heimniederlage), dann auswärts 0:1 gegen San Sebastián, und dann, zu allem Überfluß, nochmals 0:1 gegen Valencia, noch dazu vor heimischem Publikum, dem auf solche Weise Unzumutbares – nämlich eine Demütigung der "Azúlgranos"- zugemutet wurde. Und dann das Aus gegen die "Colchoneros" aus Madrid, Atlético, in der Champions League, mit einem vorenthaltenen Elfmeter zwei Minuten vor Schluß.

    Alles sehr bittere Pillen, die ein Junge erst mal verdauen muß, mit traurigem, beinahe tränenverhangenem Gesicht. Als treu ergebener Anhänger der Katalanen, der jede Bewegung der Nummern 9, 10, und 11 – in Summe der sogenannte "weltbeste Traumsturm MSN"- auf das genaueste verfolgt, sucht man vergeblich nach Erklärungen für dieses Desaster, diese Durststrecke an niederschmetternden Niederlagen. Aus ist es mit dem 9-Punkte-Vorsprung vor Atlético in "La Líga", und endgültig aus ist es in der "Champions", so wie gestern für den ruhmreichen FC Bayern München unter seinem Trainer Pep Guardiola, dem vormaligen Ausbildner der "Azúlgranes", seines Zeichens der bestbezahlte Trainer dieser Fußball-Welt. Zum dritten Mal in Folge das Aus im Semifinale der Chamions League, zum dritten Mal gegen einen spanischen Gegner, eben den drei "Punteros" der spanischen Liga. Das ist alles sehr bitter, für den Sohn zuerst, ein wenig auch für den Vater, aber, und da hat Salomon Karli, der, soweit man den Gerüchten trauen darf, angehende Priesterstudent, recht, es ist bitterer für den Anhänger als für den Spieler, denn das Verhalten von Neymar in letzter Zeit, der im Abgang gegnerische Spieler beleidigt, ist unentschuldbar, Messi spielt zeitweise Schlafwagenfußball und Suarez verhaut 100%-Chancen am laufenden Band. Grad daß er nicht in einer Wutreaktion mit seinem Fuß gegen den Aluminiumpfosten donnert. Das gäbe ein Aufjaulen! Was also tun? Nun, in der ersten Wutreaktion wurde Getafe 8:0 vom Platz gefegt, Gijón eine Woche später 6:0, aber das ändert nichts am hartnäckigen Verfolgtwerden durch diese beiden Rivalen aus Madrid, die 1:0-Resultate arbeitsmäßig abliefern und unserer heißgeliebten Equipe wie Zecken im Nacken kleben. Wie lange noch diese Spannung ertragen?

    Ja, es wird Zeit für einen gerechten Blick, sagt sogar ein 12-Jähriger. Was verdienen diese Herren? Kann man sich das vorstellen? Und wie gebärden sie sich? Wer bezahlt denn mein Leiden? Ein Leiden, das ich mir durch die Lauffaulheit dieser "Superestrellas" einhandle. Was ist denn in sie gefahren? Seit sie von der Weltmeisterschaftsausscheidung in Südamerika zurückgekehrt sind, sind sie nicht mehr wiederzuerkennen. "Jetlag", erklärt ein gewisser Besserwisser. "Gut", sagt Salomon Karli, "aber was hilft mir das?"

    Wir haben also ein Leidensproblem. Die Vorzeigemultimillionäre, die man angeblich mit kleinen störenden Steuerproblemen nicht in Ruhe läßt, verlassen wie geschlagene Hunde gesenkten Hauptes ihre Arbeitsstätte, grad daß sie nicht nobel-dramatisch eine feuchte Träne weinen wie Pep Guardiola, der auch alles gab und gibt, bis hin zu einem Riß in der maßgeschneiderten Hose und bis zum Maß-Bier-in-Lederhose-trinken-Lernen, und auf der anderen Seite jubelt der Gegner außer Rand und Band. Wie ungerecht ist doch die Welt, denkt manch einer, grade erst recht das Kind. "Ein Schmierentheater, Sohn", sagt der Besserwisser. "Ja, stimmt, Papa", sagt der Sohn, "ich fange morgen zum Schachspielen an. Da kann ich mir keine Verletzungen holen und muß mich nur über mich ärgern, wenn ich verliere, nicht über die Kameraden, denn das ist doch unfair. Und außerdem, Papa, kannst Du dir vorstellen, sogar Claudio Pizarro verdient 10.000,- Euro am Tag, oder sind es nicht gar 20.000,-? Kannst Du dir das vorstellen? Er ist 37! Das ist sein letztes Jahr. Er hat ein Nobelrestaurant an der Küste in Lima. Und er hat im Estadio Nacional einen Elfmeter gegen Brasilien wie ein Kind verschossen, ohne jede Kraft in den Beinen. Das ist doch alles ungerecht. Und kannst Du dir das vorstellen: Messi, 50 Millionen pro Jahr! ("100 Millionen, híjo!") Was soll man mit so viel Geld machen? Und hoffentlich endet Neymar nicht so wie Ronaldinho!" ("Oder Maradoña!").

    "Sohn", sagt ein betrübter Vater, "mir wurden heute 500,- Soles gestohlen, als ich unter der Dusche stand." "Sei nicht traurig, Papa! Ist nur Geld! Wie kann das etwas bedeuten?"

    "Was bedeutet etwas für dich, Sohn?"

    "Meine Baptistengemeinde, Papi. Wir haben vor zwei Wochen, am Sonntag, das 50-jährige Bestehen gefeiert, und die Schlußfeier war ausgerechnet für 20 Uhr angesetzt, jene Stunde, für die die Ausstrahlung der ersten Folge der sechsten Staffel von "Game of Thrones" vorgesehen war. Ich habe mich nicht entscheiden können, was tun. Der schlimmste Moment in meinem Leben! Ich lüge nicht! Entweder schauen, ob John Snow von den "Caminantes Blancos" wieder zum Leben erweckt wird, oder Jesus in der Messfeier dienen. Ich hatte bereits meinen Anzug an, bin aber geblieben. Es gab wieder Mord. Das nächste Mal gehe ich in die Kirche und schaue mir die Wiederholung später an."

    "Ja, wirklich besser so, Sohn. Du hattest Albträume in derselben Nacht! Doch eins verspreche ich Dir: Ich werde mich nie mehr in deine Entscheidungen einmischen! Ich hab‘ selbst in der Ayahuasca-Zeremonie genug gelitten, daß ich dich für "Game of Thrones" beeinflußt habe. Manchmal glaube ich, ich bin auch ein Teufel."

    Und wie sprach der Pastor gestern, als ich ihm von der ganzen Miserie berichtete? "Ja, die Liebe zu Gott kommt als erstes. Alles andere ist nebensächlich. Und ein Vater kann Gott danken, daß er einen Sohn hat, der spürt, wie Gott ihn in seiner Liebe zu sich zieht."

  7. Der Meßner

    Meßner Eckstein war bereits in den späten 60ern, als ich junger Knirps, ich war damals acht, zu ministrieren begann. Eckstein sah dem unvergessenen Schul- und Papierwarenhändler Kohel an der Bahnübersetz entfernt ähnlich, mit dem gravierenden Unterschied, daß Meßner Eckstein über zwei funktionierende Hände verfügte. Die beiden Hände funktionierten wirklich erstaunlich flink. Die vier Glocken des Geläutes der Pfarrkirche von Langenhart, die natürlich mechanisch betrieben wurden, brachte er am Steuerpult, das über große, grün blinkende Anzeigelichter verfügte, tatsächlich schnippend mit immer der gleichen lässigen, ja tatsächlich lässigen Aufwärtsbewegung zum Schwingen. Eckstein trug immer Anzug mit Krawatte, wochentags wie feiertags. Er war die rechte Hand von Pfarrer Dangl. Die beiden bildeten ein eingespieltes Team. Dangl war mit Eckstein hoch zufrieden, das merkte jeder. Dangl gab präzise Anweisungen, mit vornehmer Miene. Dangl duzte in der Öffentlichkeit nie jemanden, so auch nicht seinen jahrzehntelangen Adlatus. Und Eckstein blickte nur stumm auf. Das war ein Markenzeichen des Meßners. Dieser Mann ging gebeugt wie Alfred Kohel, doch er war weder verbittert noch verhärmt noch hatte er Ischias. Er ging gebeugt und blickt vor sich hin. Er sah selten jemandem in die Augen. Der einzige, dem er, nicht unterwürfig, aber auch nie mit einem Anflug von Auflehnung, in die Augen sah, war Pfarrer Dangl. Er hörte zu, verstand und signalisierte sein Verstehen mit einem Grummeln. Es gab zwischen ihm und den Ministranten keine Dialoge. Eckstein war der Kammerherr des Pfarrers während der Minuten der Meßvorbereitung. Alles verlief stumm, wie am Schnürchen. Das Meßgewand lag bereits vorbereitet auf der Anrichte. Es gab nie, nein, soweit ich mich erinnere, bei der Gewandauswahl nie eine Korrektur. Die wurde, soweit läßt sich heute, 50 Jahre später, erschließen, in einem persönlichen Gespräch geregelt, zu dem die Ministranten keinen Zutritt hatten.

    Eckstein hatte alles über: Die Meßbücher auf die Kanzel und auf den Altar legen, die Hostien, Kelch, Wasser, Wein, die Kerzen anzünden, die händischen Wandlungsglocken kontrollieren. Die Kerzen anzünden, das war ein Ritual. Der Anzünder war ein langer Stecken mit einer schwarzen Kegel-Blechhaube und einem längeren Wachsdocht auf einer Spule, die in einer eigenen Gußform unter der Haube steckte. Die Kegelhaube diente zum Ausdämpfen der Kerzen nach der Messe, denn die Kerzen standen auf dem Hochaltar in zweieinhalb Metern Höhe, unerreichbar für einen verschrumpelten Herren wie Eckstein so wie für jedermann. Denn man konnte ja nicht mit einer Leiter da hochsteigen oder gar hinaufklettern. Kinderphantasie. Das Anzünden erfoderte Augenmaß, und das war die einzige Schwachstelle im Repertoire des Meßners. Sein Augenmaß war zittrig. Das fiel dem aus der Distanz Zuschauenden beim Anzünden klar auf. Dem unten stehenden Meßner war der Blick auf den Großkerzendoch (wir sprechen hier von dicken Kerzen mit bis zu einem Meter Höhe) verwehrt. Er mußte auf gut Glück versuchen. Bisweilen dauerte das länger. Dann begann die Hand zu zittern, denn Eckstein mußte den Arm frei ausstrecken. Es war somit ein Kraftakt. Ich spürte das Zittern seiner Arme in meinem. "Nach links, nach rechts!", rief ich ihm in Gedanken zu. Es war eine Qual. Zeitweise. Nicht immer. Zeitweise brauchte er nicht einmal drei Sekunden, und schon brannte die erste Kerze. Und die anderen (am Hochaltar waren es insgesamt acht, vier links vom Tabernakel, vier rechts) gelangen ihm ebenso perfekt. Ein gelungener Tag.

    Eckstein war nicht für den Blumenschmuck an den Altären zuständig und auch nicht fürs Rasenmähen. Die Blumen, das war selbstredend Angelegenheit der Frauen, und das Rasenmähen besorgte Pfarrer Dangl selbst, im Ruderleibchen und in der Kurzen, so wie sich der Pfarrer auch nicht zu schade war, sich direkt in die schwarze, feuchte Erde der Blumenbeete direkt neben der Langenharter Hauptstraße zu werfen und dort die Stiefmütterchen liebevoll einzugraben, vor allem aber, um dort das Unkraut zu jäten. (Dangl liebte es, sich auf der Erde herumzuwälzen. Er war ein Urvieh). Die Langenharter Pfarrkirche war ein Unternehmen, das über alle Jahre hinweg geschmiert lief.

    Ich bewunderte Eckstein um seine Pünktlichkeit und um seine Zuverlässigkeit. Er war in all den Jahren nur wenige Male krank. Dann durften wir die Glocken anwerfen. Ein spektakulärer Gunstbeweis des Pfarrers. Doch die Zuverlässigkeit des Meßners gab mir eines Tages, als ich ihn von der Seite musterte, zu denken. Es geschah in meinem Moment, wo mir klar wurde, daß Eckstein keinen Urlaub kannte. In Langenhart gab es an 365 Tagen im Jahr zumindest eine, und an Sonntagen gleich drei Messen. Eckstein wohnte nicht weit von der Kirche. Es waren vielleicht 170 Meter. Der Gedanke, der aufstieg, lautete: "Dieser Mann hat eine gut funktionierende Uhr. Er hat sein Leben ganz nach der Kirchenuhr ausgerichtet. Dieser Mann opfert sich für seinen Meßnerdienst auf." Das waren die Gedanken. Natürlich bezahlte ihm Dangl die Dienste. Selbstverständlich. Aber es war freiwillig. Es war ein Zubrot zur Pension. Das ging, wenn ich es richtig abschätze, ungefähr sechs Jahre so. Und dann war Meßner Eckstein eines Tages weg. Der Mutter tat das Mitteilen der Todesnachricht weh, und ich verspürte zum ersten Mal einen Stich in der Brust, als würde jemand kommentieren: "Undank ist der Welt Lohn." Denn niemand sprach mehr von Eckstein, auch nicht Pfarrer Dangl. Warum wohl, frage ich mich heute, und sehe mit dieser Frage plötzlich manches unter neuem Licht. Der Meßner war verschwunden und blieb verschwunden, und es herrschte Totenstille, als hätte er nie existiert. Von da an begannen die Meßnerexperimente mit allen möglichen Freiwilligen, aber es gab lange Zeit niemand Fixen mehr, bis sich schlußendlich die treue Frau Steininger aufraffte und ihr jahrzehntelanges Kirchen-Regime neben ihren Rot-Kreuz-Aktivitäten antrat.

    Meßner Eckstein jedoch war einfach weg und blieb unwiederbringlich verschwunden. Schlußkommentar der Mutter auf meine Letztanspielungsrede aus purer Sentimentalität: "Ja, der Eckstein. Der Eckstein unserer Langenharter Kirche. Ohne ihn hätten wir nicht so feiern können, wie wir gefeiert haben. Wer hat es ihm gedankt? Es ist unwichtig. So gehen tiefgläubige Menschen. Sie brauchen keinen Dank. Er war Witwer. Er hat alles akzeptiert. Er hat das Evangelium gelebt. Vielleicht war er uns allen voran."

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