Ein Außerirdischer: Vasyl‘ Mychajlovyč Ivančuk, genannt „Chucky“
Wenn es einen personifizierten Hoffnungsschimmer erst mal für 2017 gibt, so in Gestalt unseres Herumstreuners Wassyl Iwantschuk, unseres Ziehsohnes aus L’vov, seines Zeichens seit gestern frischgebackener Schnellschachweltmeister, und das mit 47 Jahren. Was für ein Herz gehört dazu, der reißenden Meute der Jungwölfe nach 15 hartumkämpften Runden um eine Nasenlänge, sprich: im Tiebreak, voranzusein, voran vor dem immer mit 4- oder 5-Tages-Bart herumgrummelnden Alexander Grischuk, seines Zeichens erfolgreicher Pokerspieler, und voran vor Weltmeister Magnus Carlsen (24), dem Wikinger, der sich mit Bronze so wohl ganz und gar nicht zufriedengeben konnte. Werden wir sehen, wie er seine Wut heute in den 24 Runden des Blitzdurchganges aus dem Bauch läßt. Carlsen und sein WM-Herausforder Sergey Karjakin (das Match spielten sie bereits vor zwei Monaten in Manhattan; die 12 Partien mit regulärer Bedenkzeit endeten unentschieden 6:6) führen das Feld mit 10 Zählern um eineinhalb Punkte an. Chucky hat 8. Die Bedenkzeit im Blitz ist wahnsinnig kurz: Drei Minuten für die gesamte Partie, zwei Sekunden pro Zug Gutschrift für die Bewegungen der Hand. Und das mit 47, so wie der Ausnahmekönner und mehrmalige Weltmeister Anand, der vornehme Inder aus Chennay.
In diesem Feld von Ausnahmekönnern wird das Energieniveau der Menschheit mittels der neuronalen Anstrengung der Spieler in einem Feld von gut 120 Ausnahmekönnern des königlichen Spiels binnen weniger Tage signifikant hinaufgeschraubt. Diesmal ist Quatars Hauptstadt Doha der Austragungsort. In dieser Retortenumgebung des schwarzen Goldes, dem unbezweifelten Schicksalsstoff der Menschheit, leisten diese Damen und Herren der 64 Felder Abbitte für die zum Himmel schreiende Dummheit der Menschen. Auf den 64 Feldern wird Versöhnungsarbeit geleistet, mit Gott, dem Intentator des Spiel, und der Welt, die in jeder Sekunde den Tod des Lebens auskostet. Die 64 Felder symbolisieren das bewußte Sterben. Das Spiel auf ihnen ist somit ein sakraler Akt, nicht unähnlich dem Fußballspiel, doch im Geschmack, in der Ästhetik verfeinert.
Vasyl Iwantschuks Leidenschaft gilt der Welt hinter Figuren und Feldern, hinter dem definierten Zugsmodus und der vereinbarten Zeiteinteilung. Chucky stirbt auf Raten, willentlich, wie ein Heiliger, oder, sagen wir es einmal plakativ, obwohl mir dieses Wort in den Mund zu nehmen widerstrebt, wie ein Schamane. Er entäußert sich. Wie schon bekannt, die Niederlage ist für Chucky Lebensverlust. Die reinste Verzweiflung. Doch dem Weltmeister, dem Wikinger, ist dieses niederschmetternde Gefühl ebenfalls nicht unbekannt. Er reckt sein Unterkiefer wie ein waidwund getroffener Boxer nach vor, er bläht seine ohnehin bereits signifikant gebauten Nüstern noch weiter auf, seine schmalstehenden Augen lancieren Blitze, und so fetzt er (auch schon mal vorgekommen) seinen Kuli in die Ecke, schnappt sein Sakko und zieht von dannen, das Kamerateam bis zur Lifttür im Schlepptau. Dort endlich dreht er sich zu den Aasgeiern um und fährt sie an: „Was wollt ihr denn noch, ihr Schweinebacken?“ Als hochgesponserter Weltmeister kann er sich nicht mehr erlauben. Er kann nicht wie Denzel Washington als „Equalizer“ den Fersehmafiosis mal das Genick brechen, schon gar nicht vor laufender Kamera, nur halt mal so aus Wut über eine Niederlage, die an seinem Nimbus kratzt. Aber, das wird er verstehen, Tränen hin, Tränen her, Niederlagen gehören zum Geschäft, Niederlagen gehören zum Wettkampf, Niederlagen gehören zur Reifung und damit zum Lernen. Sie enden nur mit dem symbolischen Tod, nie mit dem realen, so wie, im Unterschied, früher das Ballspiel bei den Azteken. Es fließt kein Blut, das ist immerhin schon etwas. Herzblut, das ja. Und die Zerstörung des Allmachtswahns, die erst recht, und gerade rechtzeitig, bevor ich mich zu sehr aufblase und dem endgültigen Wahn verfalle, wie Wilhelm Steinitz, ein Österreicher, bereits im 19.Jahrhundert ausgewandert in die Staaten. Er wollte gegen Gott spielen. Aljechin war nahe dran am Wahn, deshalb kollaborierte er mit den Nazis. Er starb in der Schweiz an einem Bissen Fleisch, den er zu gierig hinunterschlang. Wie so etwas gehen kann, das weiß nur Gott. Danach gab es menschlich tipptopp funktionierende Weltmeister: Capablance war ein Beau, ein Genie, ein Frauenheld. Lasker deutscher Philosoph. Er starb arm. Euwe, der Holländer, war Mathematiker. Botwinnik war ein führender Physiker der Sowjetunion. Smyslow war Opernsänger, man glaubt es kaum. Bronstein war ein exzentrischer Jude (seinen Beruf habe ich gerade nicht präsent). Tal kam aus Riga. Sein Beruf war Kettenraucher. Er hatte eine verkrüppelte Hand, eine Kralle. Petrosjan war Armenier, von Beruf Ränkeschmied. Spasskij gab wiederum den Frauenhelden und Bonvivant. Bobby Fischer war der nächste Kandidat für die Psychiatrie, zum Glück war er nicht gemeingefährlich. Er war nur ein neurotischer Frauenhasser und Halbparanoiker. Er starb auf Island, seiner eigentlichen Heimat. Karpow, Fischers Nachfolger, ist bis heute der maßgeschneiderte Opportunist, ein Multimillionär, der in der russischen Duma sitzt und ansonsten dubiose Geschäfte mit dem FIDE-Präsidenten (der Dachorganisation des Schachspiels) unterhält. Vom Beruf ist er Briefmarkensammler. Karpow, so wird gemunkelt, ist der Philatelie mit Haut und Haaren verfallen. Sein Vermögen in Briefmarken wiegt wohl mehrere Millionen, Währung beliebig. Dann kam Kasparow, der Mann aus Baku, heute US-Staatsbürger und ebenso Ehrenstaatsbürger Kroatiens. die russische hat er aus Protest zurückgelegt. Kasparow gilt als prononciertester Gegner Putins, als einer, der hinter die Maske des KGB-Oberst zu blicken und dessen Pläne kristallklar vorauszusagen versteht. Mit dieser Meinung geht Kaparow von Fernsehsender zu Fernsehsender. Dann veröffentlicht er mal ein politisches Buch oder ist Gastredner in vornehmen Foren. Kasparow ist wohl mit Abstand der reichste Schachspieler. Er lebt mit seiner Frau Dascha in Manhattan. Einer seiner besten Freund ist der Multimilliardär Peter Theil, der Mann, der über Bluttransfusionen die Unsterblickeit und daneben so mal wie Kapitän Nemo einen unabhängigen Floßstaat im Pazifik anstrebt. Nach Kasparow kam Wladimir Kramnik, der größte Schlaks unter den Weltmeistern. Dessen Verdeinst war es, den als unbesiegbar geltenden Schachgott aus Baku in London vom Thron zu stürzen. Dazu entkorkte er ein Arsenal von Neuerungen in der sogenannten Berliner Verteidigung der Spanischen Partie, auf die Kasparow ganz und gar nicht vorbereitet war. Den Thronsturz verzieh ihm Kasparow nie, was nur die unerträgliche Arroganz von Garri Kimovich erhellt. So ging es ins 21.Jahrhundert, wo es dann kompliziert wurde. Hier mache ich mit der Historie der Schachkönige einen Punkt, um die werte Leserschaft nicht zu langweilen.
Zurückkommend auf Chucky, meinem Aufsatzthema, muß man einmal sagen, Chucky guckt drein wie ein Außerirdischer. Unbestritten ist er eine Sonderausgabe, und was für eine. Nicht mal die schrägsten Autisten reichen an ihn heran. Bei Iwantschuk wird eines am klarsten sinnenfällig: Für ihn gilt wahrlich das Wort: Schach ist mein Leben. Seine Beziehungen zum anderen Geschlecht sind gefährdet. Chucky liebt die Frauen, doch er ist der ungehobeltste Stier überhaupt. Er spricht mehrere Sprachen, doch was er spricht, schrammt immer knapp an einem genial-nihilistischen Statement, das die Allgemeinheit – und erst recht den Interviewer – vor den Kopf stoßen würde, vorbei. Frauen wahren ihm gegenüber einen Sicherheitsabstand, denn es ist von weitem sichtbar, hier steht, mitten im Spielsaal oder im Foyer eines 5-Sterne-Hotels, wie zum Beispiel in Nizza oder im spanischen Linares, ein Außeriridischer ohne Maskierung. Bitte, betrachten Sie diese Augenbrauen. Beachten Sie diesen irren, unsteten Blick, beachten Sie die komplett schlecht sitzende, geschmacklose Krawatte. Haben Sie seine Schuhe gesehen? Billigsdorfer. Doch, Achtung, was trägt er da am Handgelenk? Mich laust der Affe, eine goldene Hublot mit blauem Krokoband! Bitte helfen Sie mir, ich wüßte nicht, was ich überhaupt zu ihm sagen sollte! Sind Sie sicher, daß er mich nicht standrechtlich erwürgt, weil ich ihm auf die Nerven falle? Bitte befreien Sie mich von diesem Ungeheuer! Doch seltsam, ich fühle mich irgendwie zu ihm hingezogen. Und ich weiß auch, warum! Dieser Typ kann offenbar nicht lügen. Wahrscheinlich läuft er rot an wie eine Tomate und fällt in Ohnmacht, wenn ich ihm sage, ich finde ihn unglaublich männlich. Das ist doch ein ungezähmter Stier mit allen Attributen, findest du nicht auch, Schätzchen?
Judith Polgar, von Wladimir Kramnik nüchtern als die einzige Schachspielerin mit genialer Anlage eingeschätzt, merkte ihrerseits einmal auf die diesbezügliche Frage ohne Unsicherheit an: „Genies? Nicht schwer. Carlsen, Anand und Iwantschuk. Was wollen Sie noch wissen?“
Ja, ich wüßte nur allzu gern noch ein paar Dinge. Wie kriege ich Chucky dazu, mit mir Ayahuasca zu trinken? Werde ich Chucky noch die nächsten 50 Jahr erleben? Heuer starb Viktor Kortschnoj, hochbetagt, so wie der 90-jährige Mark Taimanow. Kortschnoj war ein zäher Kämpfer. Er überlebte als Kind die Belagerung Leningrads. Das prägte ihn für ein Leben. Taimanow war anerkannter Pianist und wiederum ein Frauenliebhaber. Er heiratete eine bildhübsche junge Frau im weit fortgeschrittenen Alter und zeugte Zwillinge mit ihr. Er kostete das Leben aus. Nicht so Kortschnoj. Kortschnoj hatte Petra Leeuwerik, die Holländerin, die für ihn alles regelte, und der er treu ergeben war in seinem trauten Heim im schweizerischen Wohlen. Ich glaube, er fuhr nicht einmal Auto, und er hatte keine Golduhr, aber seine Frau stattete ihn für öffentliche Veranstaltungen, speziell für Simultanveranstaltungen in noblen Hotels, mit Maßanzügen aus. Kortschnoj machte darin gute Figur. Er war bescheiden, doch er war leicht zu verunsichern. Ein traumatisiertes Kind. Den politischen und halbkriminellen Machenschaften des KGB-bewaffneten Karpow war er hilflos unterlegen.
Der einzige, der gegen die Karpow-Mafia gekonnt zu kämpfen verstand, war Kasparow. Der verstand etwas vom großen Bogen. Vielleicht war ihm Botwinnik als KPdSU-Parteimitglied darin ähnlich. Iwantschuk hatte damit nichts im Sinn. Chucky wurde zu Zeiten des Kommunismus von höheren Mächten beschützt. In einem Interview erzählte er einmal, er ginge gerne in leere Kirchen, um dort zu weinen. Ich habe das, rot unterstrichen, vermerkt, irgendwo. Wenn er Spannung suche, ginge er ins Casino. Dort fasziniert ihn Roulette. Sieh‘ an! Nun, weshalb auch immer. Vielleicht, so stelle ich es mir vor, stiert er in den Kessel, um den Lauf der Kugel zu verfolgen. Wer weiß? Ich bin mir sicher, Chucky zockt nicht. Aber von Millionengewinnen war er, der Liebhaber und Ehrenbürger Kubas, immer schon weit entfernt. Lichtjahre entfernt.
Weitere Chronikberichte zu unserem Ziehkind folgen.
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Besinnung
Eine Mutter folgt ihrer Tochter nach. Carrie Fisher, im Filmgeschäft prädestiniert für Prinzessinnenrollen, stirbt, und ihre Mutter, die noch berühmtere Debbie Reynolds, folgt ihr im 84.Lebensjahr nur einen Tag später – kaum einen Tag später – nach. Gehirnblutung aus Gram. Das kommt gewöhnlich unter Ehepartnern vor, doch hier, in dieser, wenn ich so sagen darf, Familie, folgte die Mutter aus weiblicher Solidarität. Beide Frauen hatten kein Glück mit Männern. Carrie Fisher nicht, weil sie im Herzen zierlich blieb (dafür sei ihr gedankt), und ihre Mutter, weil sie ein Leben lang kein Glück bei der Auswahl ihrer Partner hatte. Der erste, der Vater von Carrie, wechselte schnell zu Elisabeth Taylor über, denn die hatte andere, apartere Waffen für den Kampf gegen Rivalinnen im Gepäck. Die femme fatale gegen das naiv glückliche Regen-Stepdance–Kind. Und die späteren Gockelhähne waren einfach Tunichtguts, der eine ein notorischer Spieler. Was fängt man mit einem notorischen Spieler an, der bereits kurz nach der Hochzeitsnacht Haus und Hof verspielt? Mit einem Wisch gingen somit Tochter und Mutter. Das läßt uns nachdenklich zurück.
Bei Leonard Cohen war es ähnlich, obwohl er, der notorische Frauenheld, nie verheiratet war. Cohen war sicherlich ein unverbesserlicher Casanova, aber immerhin ein charmanter. Ihm sehe ich es ob seiner unvergeßlichen Musik und seinen Konzertauftritten nach. Er unterhielt eine lebenslange romantische Verbindung mit Marianne Ihlen, der Norwegerin, die er auch musikalisch verewigt hat. Wenige Tage vor deren Tod nahm er brieflich Abschied von ihr, nicht ohne ihr sein baldiges Ihr-Nachfolgen anzukündigen. Und so war es dann auch. Cohen starb in seinem Arbeits-Zuhause in Los Angeles, das er, wohl auch wegen des Wetters und seiner Nähe zum Mount Baldy, wo er angestrengte Zen-Jahre bei Rōshi Kyozan Joshu Sasaki verbracht hatte, einen Gnadentod, im Schlaf. Er erhielt ein Geschenk, sich den Zeitpunkt des Fortgehen wünschen zu dürfen. Alles deutet darauf hin. Die gesungenen Gebete an den jüdischen Gott, das letzte Interview in Los Angeles. Er folge nach, all den Frauen, die er geliebt hatte und die bereits gegangen, ihm vorausgegangen waren. Und Leonard Cohen war heuer nur einer unter Unzähligen. Und warum ihn als einen der bekannteren Toten herausgreifen? Er gehörte nicht einmal zu meinem Lebenskreis. Ich bin ihm nie begegnet. Irgendwo trauert doch immer jemand um einen anderen. Am schlimmsten, wenn es ein gemordetes Kind ist. Dieser Anblick, der den meisten von uns, die sich der Medien bedienen, nicht erspart bleibt, bleibt unvergeßlich. Es ist und bleibt ein Verbrechen. Und keiner dieser sogenannten Präsidenten in Anzug und Krawatte bittet um Vergebung. Keiner noch hat sich je zu einer Aussage wie „Es war unvermeidlich“, aufgeschwungen. Keiner nimmt zu den Verbrechen, die er begeht, Stellung, außer den unverhohlenen Teufeln, welche gelungene Attentate aus der Ferne anonym bejubeln.
Dieses Jahr wiegt schwer. Das Grauen in Frankreich. Das Grauen in Deutschland. Wohin soll das alles führen? Vielleicht sollte ich mich doch für das Kommende adjustieren. Doch, es gibt Vieles zu verbessern. Meine Geistesgegenwart ist eindeutig noch zu sehr schlampig. Zu oft holt mich die Gewalt ein, oder nennen wir es besser: die zügellose Dummheit.
Als ich noch Kind war, begleitete ich den Vater regelmäßig auf seinen Visiten. So lernte ich die Umgebung meines Heimatortes kennen. Ich erinnere mich an einen Abend. Es muß im Sommer oder an einem Wochenende gewesen sein, denn ich hatte keine Schulsorgen. Es war nicht Winter, soviel erinnere ich mich, denn ich fror beim Warten nicht. Er wurde zu einem Haus gerufen, das komplett eingefließt war. Es lag neben einer Tischlerei am Ortsausgang. In dem Haus hatte, so erklärte er mir, zeitlebens ein Ehepaar gewohnt, das wegen Unfruchtbarkeit kinderlos blieb. Ich kannte das Haus. Die alten Leute waren Stammpatienten. Ihre Namen erinnere ich jetzt nicht mehr. Die Gattin war also vor wenigen Tagen verschieden und lag bereits unter der Erde. Das des Vaters kurzgemurmelte Mitteilung, als wir Halt machten. Es war gegen 21:00 Uhr. Es war finster. Ich blickte durch die Windschutzscheibe zum Himmel empor. Das Firmament war sternenklar. Die Sternen blinkten. Es war ein traumhafter Moment. Ich dankte innerlich dem Schöpfer für dieses Erleben. Es war ein magischer Moment, dieser Blick durch das Frontfenster hinauf in die Dunkelheit. Dann kam der Vater zurück. Der Mann hatte Kreislaufprobleme, erklärte er. „Das kann sich schnell komplizieren. Die beiden waren eng verbunden.“ Er sollte recht behalten. Der Witwer starb drei Tage später, genau eine Woche nach seiner Frau. Ich war noch zuhause. Es war irgendwo und irgendwie rund um des Vaters Diensttelefon, als er mir die Nachricht zuschubste, ohne Pathos, ohne Trauer, ohne Unsicherheit, aber schon gar nicht mit zynischer Besserwisserei. Er hatte immer diesen versunkenen, stillen, völlig unaufgeregten Ton, wenn es um den Tod ging. Bereits als Knirps verstand ich, was „TB“ in seinem Kalender bedeutete. Totenbeschau. Immer in Rot eingetragen. Pro Woche mindestens zwei. Wir hatten da unsere Konversation, da ich manchmal Anrufe, die ich entgegen genommen hatte, eintragen mußte. Seltsamerweise machte ich mir nie Vorstellungen, wie es für ihn sein mußte, jede Woche mit Leichnamen zu tun zu haben. Von Selbstmorden wußte ich damals noch nichts, und auch zu tödlichen Unfällen war ich nie gekommen. Der Tod war der tote Rehbock, nicht der Mensch. Die Menschen lagen bereits im Sarg. Das Requiem war wegen des erbärmlich schnulzig singenden Kirchenchors und des allgemeinen Schwarz nur abstoßend. Dabei zu ministrieren, war wegen eben diesem Schwarz der Ministrantenkleidung eine Qual, und das bisweilen mitten im Sommer, wo ich doch nur allzugerne im Bad spielen hätte wollen. Die Trauer war mir fremd, und das schon immer. Doch der Tod ließ nicht locker. Tragische Todesfälle in der Verwandtschaft. Aufschreiende Frauen, denen die Nachricht überbracht wird. Schluchzende Frauen, die nochmals in der Silvesternacht, in der der Toten des Jahres gedacht wird, in Tränen zerfließen. Ich meinte, wahre Liebe stürbe nie, nicht leiblich und nicht geistig. Erst viel später revidierte ich diese Schutzmauer.
Der massive Schnürlregen, der da für vielleicht 17 Stunden herabfiel, ist jetzt fort, die Sonne scheint wieder wie eh und je. Die Glocke läutete heute drei Mal, just, als ich am Klo saß. Requiem für Don Cecilio. Es war gut so. Eine körperliche Erleichterung. Am Klo mläßt sich vieles leichter ertragen. Wir wissen das aus der Medizin. Abschied, so sagen die Schwarzafrikaner, nimmt man nicht von einem Leichnam. Manche küssen den Leichnam. Sei’s d’rum. Der Abschied ist eine Sache der Zeit, finde ich. Tage, Wochen, Monate, und Nächte. Von meinem Großvater träumte ich zum ersten Mal etwa 22 Jahre nach seinem Tod. Eine Woche später gleich nochmal. Ich wachte mit Tränen in den Augen auf. Er hatte mir zugelächelt, versöhnt. Ich wußte, was er mir damit sagen wollte. Das überwältigte mich schlichtweg. So bleibt mir nur eins, und ich meine, das ist die rechte Erziehung: Den Toten gerecht zu werden.
La China
Ich hatte heute Nacht Besuch, unerwarteten Besuch. Zumindest heute war sein Besuch unerwartet. Sein Fortgehen liegt mittlerweile bereits wieder knappe drei Jahre zurück. Er war Tamshiyaceño. Ein Zugezogener, doch er gehörte zu uns. Er verkörperte die markante Identität unseres Dorfes, dessen Lebensart, dessen Lebensfreude. Wir nannten ihn „La China“, denn er hatte chinesisches Aussehen, das er durch das Zupfen der Augenbrauen noch weiter unterstrich. Doch er mußte bereits chinesisches Blut in den Adern gehabt haben. „La China“ war Transvestit. Ich wußte nichts über sein Vorleben. Er war also Transvestit. Einer von mehreren im Dorf, aber deren ältester und damit deren Chef, aber nicht nur des Alters wegen. Er hatte eine stille Autorität, die mir bereits imponierte. Er war Meistercoiffeur, naturellement, was sonst. Seinen Laden unterhielt er an der Einmündung der Alaiza Paz Soldan in den Hauptplatz, dort, wo heute ein Eissalon untergeschlüpft ist. La China’s Coiffeurladen maß, wenn ich es einmal abschätze, von der Eingangsstufe bis zum Spiegel drei Meter mal drei. Hinter der Wand war ein Verschlag mit seinem Bett, also etwa drei mal zweieinhalb, vielleicht nochmal drei mal drei. So wohnte er. Die beiden Räume waren durch einen Perlenvorhang ohne Tür abgetrennt. Der Coiffeurladen war mit Modellkopfbildern ausstaffiert. Das ist Standard bei uns, d.h. bei allen von Transvestiten betriebenen Coiffeurläden.
Amazonien ist so wie Barcelona wegen seiner sexuellen Toleranz kontinentweit Rückzugsgebiet für Männer, die sich als Frauen ausgeben. Nicht wenige werden mit dieser Anlage bereits so geboren. Mit 14 bricht die Anlage mit Wucht und unaufhaltbar durch. Ein in der Regel kurzes Leben flackert hoch, pure Sinnlichkeit. La China war der unbestrittene Chef unserer Minipopulation, weil er bedächtig und so ganz und gar nicht exzentrisch oder outriert war. Er lebte wie ein stiller Haarschneider. Er nahm an keinen Volleyballveranstaltungen und keinen Trinkgelagen teil. Er tanzte nicht in der Öffentlichkeit. Sein Alter war eher unbestimmbar. Er war praktisch unsichtbar. Das war eine Qualität, die mich eines Tages, als ich es nicht mehr bestreiten konnte, zum Staunen und offenen Fragen gegenüber meiner Gattin brachte: „Wo verbringt La China seinen Tag, wenn er nicht Haare schneidet?“ „Du wirst es nicht wissen, aber La China ist die sozialste Person in unserem Dorf“, kam es zur Antwort. „Sie kümmert sich um Kinder von der Straße. Du glaubst es vielleicht nicht, aber selbst in unserem kleinen Dorf gibt es Kinder, die auf der Straße leben, weil sich die Eltern nicht mehr um sie kümmern oder verschwunden sind. Richtiggehende Dramen. Manchmal haben die Kinder Angst, nach Hause zu gehen, weil sie dort geschlagen werden. Sie alle schlafen wie Welpen im Laden bei La China. Er kocht ihnen zu essen. Er macht das alles dermaßen diskret, daß es beinahe keiner mitbekommt, und er selbst ist noch nie öffentlich damit aufgetreten. Ich unterstütze ihn. Deshalb habe ich alle Homosexuellen des Distrikt auf meiner Wählerseite.“ Da staunte ich nicht schlecht.
Wie alle Coiffeure meines Lebens hatte er sinnliche Hände und eine sinnliche Stimme. Ich bin jetzt seit 100 Jahren nicht mehr zu einem Professionellen gegangen, weil ich unter der Knute meiner Gattin stehe, die die ganze Familie mit ihrem Phillips-Rasierer ruckizucki wie beim Militär abfertigt, ohne Frage: „Wie hätten Sie’s denn gerne?“ Nun gut, bei den Buben entwickelt sich Widerstreben und somit eine Diskussion. Zum Glück. Das wird sich auch nie ändern. Jüngst verkündete mein Ältester: „Ich werde mir die gesamten Ferien nicht die Haare schneiden!“ Ich zollte ihm Aufmunterung. Half alles nichts. Zwei Wochen später war das eiserne Rasierkommando am Werk. Aber immerhin weinte er nicht. Gut. Mit 18 wird er seine Wege gehen, dann werden wir sehen, ob aus ihm ein Beatle wird oder nicht.
Bei La China kreuzten jedenfalls alle Fünfe ganz locker auf, auch mal ganz spontan. Dann sprach mich der Meister irgendwann an und bat um drei oder fünf Mal Anzahl der Köpfe peruanische Soles. Wenn er Haargel und Parfum applizieren durfte, einen oder Anzahl der Extrawünsche mal Extrasol mehr. Ich ließ ihn eine übersichtliche Anzahl von Malen über meinen Kopf, wohl wissend, daß sich die Mühe ja eigentlich gar nicht lohnte, da es mit der Kahlschnittlänge ohne Schere, nur dem Rasierer, innerhalb von zwei Minuten oder weniger getan war. Die einzige Spannung, wie schon seit 50 Jahren, kam immer auf, wenn er mit dem Rasiermesser die Koteletten waagrecht schabte. Auch das empfand ich irgendwie immer als erotisch, nicht nur bei ihm. La China fand also sein Auslangen. Er pumpte mich nie um Geld an. Das zeugte von seinem Stolz. Diese Möchtegernfrau hatte Charakter. Sie hinterging nie jemanden. Es gab Geschlechtsgenossen, die waren verrückt. Sie baggerten bevorzugt die Gringos an, labten sich an deren Unsicherheit. Manche tranken. La China brachte sie auf eine Weise zur Raison, die ich schlichtweg nur als meisterhaft qualifizieren konnte. Er war die Diskretion schlechthin. Meine Gattin unterhielt einen intensiven Draht zu ihr. Die beiden hätten ein erstklassiges Paar als Sexualtherapeuten abgegeben. Es war stupend. Hier wurde flächendeckend Sexualtherapie auf höchst effiziente, informelle Weise durchgeführt, immer mit positiven Ergebnissen.
Im Grunde habe ich diesen Mann wegen seiner Geradlinigkeit bewundert. Stete ruhige Stimme. Hin und wieder am Markt Einkaufen. Ansonsten Zurückgezogenheit, professionelles Arbeiten, Hilfestellungen. Komplette Anspruchslosigkeit, wie ein Zen-Mönch. Völlige Befreiung. La China war ein freier Mensch, vielleicht der befreiteste, der mir je untergekommen ist. So spontan gesagt.
Dann steckte er sich an. Wann und von wem auch immer. Es schien ihm egal zu sein. Es nahm schnell ein Ende. Betzabe bat mich um Unterstützung. Bootsfahrten, Nothilfsmaßnahmen. Was ich gab, erschien mir im Vergleich zu dem, was dieser Mann geleistet und geholfen hatte, beschämend läppisch. Der Kommentar meiner Gattin auf dem Vorbau, abends, im üblichen Schaukelstuhl: „Wahrscheinlich ist er morgen oder übermorgen tot. Es ging ganz schnell. Zum Glück ohne Schmerzen. Es wird niemanden geben, der um ihn trauert, außer ein paar Frauen hier im Dorf, die wissen, was er geleistet hat.“ Es verschlug mir die Sprache und ich hielt den Atem an, um nicht erschlagen zu werden. Ich wußte, hier konnte ich nichts ermessen. Dieser Mensch hatte für das Reich Gottes gearbeitet. Er war mir riesenhaft überlegen. Und selbst diese Überlegenheit ließ er mich post mortem auf unnachahmlich elegante Weise spüren, eben heute Nacht, in der vorletzten Nacht eines sogenannten Kalenderjahres.