True Love
Janis Joplin (†) und Leonard Cohen im Chelsea Hotel in New York, und schon zuvor, 1960, mit Marianne C.Stang, einer Norwegerin, auf Hydra, fuer ein Jahr, doch ein zeitloses Jahr.
Ein Arzt, der seinem verunfallten 8-jaehrigen Neffen Blut spendet, direkt neben dem Operationstisch. Die Schaedeldecke des Kindes ist offen. Er sieht, wie alle Hilfe nichts hilft und das Gehirn zum Stillstand kommt.
Ein blaues Baby im Brutkasten. Die Mutter geschockt. Eine fruchtbare Krankenschwester spendet loeffelweise ihre eigene Milch.
Ein katholisches Ehepaar auf Herbergsuche. Der Wiener Buergermeister persoenlich gibt ihnen Quartier im Karl-Marx-Hof.
Ein Bauer im Enns-Donau-Winkel, immer schon ein Hitler-Gegner, besteht auf der Verwendung des franzoesischen KZ-Haeftlings fuer die Feldarbeit, bis in die Zeit des Zusammenbruchs hinein. Der Franzose ueberlebt, wird nicht in Mauthausen ermordet.
Die Tochter des Bauern verliebt sich in den Franzosen, doch der kehrt danach von Frankreich nicht mehr zurueck. Therese wartet vergebens auf ihn bis zum letzten Moment, als sie bereits neben dem Grossbauern am Altar steht.
Der Grossbauer stirbt 10 Jahre spaeter in seinem Rosengarten. Weich liegt er im Rasen gebettet, die Rosenschere immer noch in Haenden, die offenen Augen zum Himmel.
Die Witwe in ihren letzten Tagen, nachdem man ihr bereits vergebens den linken Arm amputiert hat, laesst dem Neffen ausrichten, er moege sie doch besuchen. Er koenne ihr Trost spenden.
Der lachende Baecker, der sein Brot ausfaehrt, ein Fuchsgesicht, wie es im Buche steht. Seine Spur verliert sich im Staub der Schotterstrasse auf den Angerwiesen.
Der gottlose Grossvater, der in die Kirche geht und den Enkelsohn mit einem Blick der Ausweglosigkeit zum Weinen bringt.
Die Grossmutter, die dem Mann nachweint. "Er ist verloschen", sagt sie, traeumerisch in die Abendsonne blickend.
Das Waisenkind, ein Bub, acht Jahre jung, der seine Geschwister troestet. "Die Eltern sind im Himmel, Schwestern. Einmal werden wir sie wiedersehen." Der Bub wird Arzt. Er arbeitet in der Nervenheilanstalt. Er laesst die Verrueckten auf Pferde setzen und mit den Pferden reden. Er stirbt als letzter der Waisenkinder.
Eine seiner Schwestern baeckt gutes Brot. "Das ist ehrliches Brot", sagt sie zu ihrem Grossneffen. "Kau es bedaechtig!" Sie hat ihren Mann nie betrogen, so wie der sie auch nicht. Sie liegen zusammen in geweihter Erde. Der Mann war ihr innert eines halben Jahres nachgefolgt.
All die vielen Paare, die innert eines Jahres starben. Alles treue Eheleute. Alle verheiratet.
Der alte Tischler, Adolf Birckmann (†), der nach getaner Arbeit einen Meisterrettich auf den Tisch zaubert und dazu seinen 5-jaehrigen Assistenten, der in den Saegespaenen gewuehlt hat, einlaedt: "Den Radi muss man zum Plaerren bringen. Dann schmeckt er am besten. Schmeckst Du’s?"
All die hilfreichen Handwerker, alle im Nebenberuf Pfuscher. Der Bundesbahner, Fred Heigl (†), der ein selbstgelernter Wurster wurde. "Zum Wursten brauchst du Liebe und Geduld, und natuerlich eine gute Zunge. Die kommt im Alter von alleine." Der Elektriker Otto, der sich wie kein zweiter mit Waschmaschinen auskennt. "Heute schmeckt dir das Bier noch nicht, doch warte, bis Du erwachsen bist." Der VOEST-Arbeiter, Franz Moser, der sich das Haus baut. "Junge, das ist eine Richtschnur. Du musst sie in Farbe tauchen und dann richtig schnalzen lassen. Aber alleine geht das nicht." Und noch ein Bundesbahner, Karl Mayrhofer. "Holzboeden sind etwas Edles. Manchmal ueberleben sie einen."
Der Kaplan, Helmut Buchegger, der als Missionar nach Schwarzafrika geht und dort nur knapp dem Tod entrinnt. Krank holen sie ihn heim.
Der Nervenarzt aus Triest, der seine Patienten in der Stadt frei herummarschieren laesst. "Wir sind alle Brueder und Schwestern. Nur allzu frueh sterben wir alle. Gott macht keinen Unterschied, ob Narr oder Arzt." So redet er, zigarettenrauchend, zu naechtlicher Stunde, im Fernsehen, ein bekennender Kommunist. Und nur allzu frueh starb er. Der grosse Franco Basaglia. Ein zweiter, in London, Hampstead, lebt mit den Verrueckten. "In die Welt eines Leidenden einzutauchen ist eine Herausforderung. Das mindeste, was man fuer sie tun kann, ist, mit ihnen zu leben. Im uebrigen, sie wissen es ja bereits: Gandhi hat hier in unserem Haus bei seinem London-Besuch uebernachtet." So der grosse Ronald Dwight Laing, der sich seiner Traenen nicht schaemte.
Martin Luther King: "I had a dream!". Nur wenige Tage danach wird er beim Abendgebet auf dem Balkon erschossen.
Axel Corti, der so frueh gegangene Regisseur mit der samtenen Stimme, Schoepfer des "Schalldaempfers". "Franz Jaegerstaetter war ein christlicher Maertyrer. Sein Name wird alle Gespenster des Dritten Reichs ueberleben."
Pier Paolo Pasolini (†), der Napolitaner mit der Sonnebrille. "Liebe geht in den Tod und durch ihn hindurch."
George Moustaki. "Griechenland ist eine ewige Wiege. Selbst wenn unsere Welt eines Tages untergehen wird, die Wiege wird es ueberstehen. Die Goetter Hellas‘ halten ihre Hand ueber dieses Kleinod an den glitzernden Gestaden der Aegaeis."
Leonard Cohen. "Dance me to the end of love." "Ich habe Griechenland nie vergessen. Manchmal war die Nostalgie unertraeglich. Wir alle sterben. Es ist zum Weinen."
Maximilian Kolbe. "Am 29. Juli 1941 wurden Männer als Vergeltungsmaßnahme für die nur vermutete Flucht eines anderen Häftlings (dessen Leiche später gefunden wurde) zur Ermordung aussortiert. Als einer der Männer, Franciszek Gajowniczek, in lautes Wehklagen um sich und seine Familie ausbrach, bat Pater Kolbe den Kommandanten Karl Fritzsch darum, den Platz von Gajowniczek (der eine Frau und zwei Söhne hatte) einnehmen zu dürfen, und wurde am 31. Juli 1941 in den berüchtigten „Hungerbunker“ gesperrt. Dort betete er mit seinen Leidensgenossen und tröstete sie. Am 14. August wurden Pater Kolbe und drei andere Verurteilte, die noch nicht verhungert waren, durch Phenolspritzen umgebracht und im Krematorium verbrannt. Franciszek Gajowniczek überlebte das KZ und starb 1995." (Wikpedia)
Konrad Andert, ein unvergessener Kollege, 1997. "Nur selten gelingt es mir, Glaube, Hoffnung, Liebe einzuloesen. Doch die Liebe ist am hoechsten. Wahrlich. Und schon schaut der Nachmittag in der Firma anders aus."
Dr.Felix Koschitz (†), unvegeßlicher Kollege. Der geneigte Leser kennt ihn bereits. "Darf ich Ihnen diese Pfefferoni anbieten, aus meiner Kollektion? Sie kommen aus Ungarn. Klein, aber giftig. Wie ich Sie kenne, werden Sie sie zu schätzen wissen. Aber Vorsicht, nicht zuviel nehmen. Die hier verzeihen Gier nicht."
Pascal Hoffmann (†), kahlköpfiger Franzose mit sinnlicher Stimme und ebensolchen Lippen. Auch ihn kennt die großherzige Leserin bereits. "Ich komme aus Mali. Die Einheimischen haben mich dort zum Abschied eingekleidet. Sie sagten, aus Ehre, wegen meines Herzens. Ich verstehe gar nicht, wie ich zu dieser Ehre komme. Aber, um ehrlich zu sein, ich träume oft von Mali. Manchmal frage ich mich, warum habe ich keine Frau von dort genommen und bin dort geblieben?" Und er blickt kurz zum Fenster hinaus, es ist Frühling.
Erwin Schlechter, Tiroler aus Landeck. "Ich arbeite seit zwei Jahrzehnten für die Franzosen, als Tiroler. Wie ich Herrn Jouannic vorgestellt wurde, habe ich zu ihm gesagt: "Herr Jouannic, Schlechter mein Name. Es ist mir eine Ehre. An Ihren Augen sehe ich, Sie verstehen das Wort Gerechtigkeit. Und wissen Sie, was mir Herr Jouannic geantwortet hat? "Monsieur Schlechter, ich verstehe Sie. Ich bin Katholik. Ich gehe jeden Sonntag wie Sie zur Messe." Wir haben uns von Anfang an verstanden."
Wahre Menschen des Muehlviertels anlaesslich der "Muehlviertler Hasenjagd" im Februar 1945. "Es ist nur von elf sowjetischen Offizieren bekannt, dass sie die Menschenjagd und das Kriegsende überlebten. Einzelne Bauernfamilien und zivile ausländische Zwangsarbeiter versteckten trotz des extrem hohen Risikos Häftlinge oder versorgten die in den umliegenden Wäldern versteckten Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln. Drei Monate später ging der Krieg zu Ende und die Häftlinge waren in Sicherheit." (Wikipedia)
Quentin Tarantino. Sein Großvater kommt von der Ostfront heim, 1.Mai 45, desertiert. Die Uniform blutstarrend und zerfetzt. Auf der Ennsbrücke zu Enns sieht er ein letztes Rudel von SS-Werwölfen, wie sie verschreckte Buben des letzten Aufgebotes, die sich vor lauter Angst in die Hose gemacht haben, am Stahlgerüst aufknüpfen. Der Teufel, ein Deutscher, fährt ihn mit schmalen Lippen an: "Was suchst Du hier?" "Ich bin hier zuhause!", kommt es zur Antwort. "Der Russe steht 20 Kilometer von hier, mein Freund. Ich würd´mich an deiner Stelle nicht damit aufhalten, Buben, die deine Söhne sein könnten und noch dazu Österreicher sind, über den Jordan zu schicken. Was hätte der Führer dazu gesagt? Und im übrigen, wenn du es noch nicht weißt, der Führer ist tot. Selbstmord! Also putz dich schleunigst aus meinem Land." Dem SS-Hund verschlägt es die Sprache. Seine Hand tastet sich zum Halfter hinunter. Quentin Tarantinos Großvater knurrt ihn unbewegt an. "Versuch es. Du kannst mir eine Kugel in den Leib jagen, aber eins ist gewiß: mit meiner letzten Kraft werde ich dir mit diesem Gebiß die Gurgel durchbeißen und deine Frau zur Witwe machen." Der SS-Hund blickt sich um und gibt ihm mit einer Handbewegung den Weg frei: "Schau, daß du nach Hause kommst!"
Vater und Sohn gehen an einem strahlenden Sonntagnachmittag im Winter auf dem vereisten Stausee zu Rubring spazieren. Bei der Ennsausleitung bricht der Sohn ein. Ohne zu zögern springt der Vater ihm nach. Der Druck der austretenden Wassermassen preßt beide an die Staumauer. Sie ertrinken.
Unsere Kinder, die uns zu denken geben, jeden Tag aufs Neue.
Ein Mann im weißen Ornat (†) legt einem behinderten Kind die Hand auf den Kopf. Die Mutter weint. Ein Mann im rotbraunen Ornat legt einem Kind die Hand auf den Kopf. Die Mutter hängt dem Mann einen Blumenkranz um und küßt ihm unter Tränen die Hand.
Ein Geistlicher aus den Abruzzen (†) sitzt 10 Stunden im Beichtstuhl. Jeden dritten wirft er hinaus. "Komm in einem Jahr wieder, dann, wenn deine Reue echt ist!"
Thomas Bernhard (†). "Die Auslöschung ist das Ende von allem. So sehen sie es. Dann kommt die Reue zu spät. Und oft liegen sie dann für den Rest der Ewigkeit in falscher Gesellschaft."
Unsere Mütter. "Du wirst dich an mich erinnern!"
Die Organistin, Cäcilia Auer. Als sie 72 wird, wird ihr Mann, um einiges noch älter als sie, bettlägrig. Seit 13 Jahren pflegt sie ihn hingebungsvoll, bis an den Rand der Erschöpfung.
"Unsere Priester sind arm. Sie wissen nicht, wovon sie sprechen. Sie sind nicht fähig, die Spannweite des Lebens zu erfassen. Besser, für sie eine Kerze anzuzünden." Eine Hellsichtige.
"Mein Mann war jähzornig, aber nicht böse. Ich wußte immer, jetzt war es wieder soweit und der Rappel überkommt ihn. Er war an der Front. Dann brauchte ich ihm nur zu sagen, "Dad, du hast den Krieg überlebt. Du warst mutig. Deswegen habe ich dich geheiratet." Und schon war der Rappel vorbei." Maria Erhard, † 1975.
"Verschütte die Milch nicht, Bub! Sie ist so wertvoll, und man muß schon eine Zeitlang melken, um soviel von der Kuh zu bekommen, wie Du gerade verschüttet hast." Eine Großmutter, †.
"Merkt euch, Kinder: Wenn man sich beim Problem nicht auskennt, macht man eine Zeichnung. Da hab ich das und das und das. Dann wird die Lösung gleich einfacher." Anton Brigasky, Mathematiker, †.
"Meine Frau ist weinselig, aber man sieht es ihr nicht an, am wenigsten von all ihren Schwestern. Sie orgelt und singt dabei wie eine Lärche. Ihre Stimme steigt in eine Höhe, die unerreichbar ist für einen Mann. Sie will wohl schon zu Lebzeiten zum Lieben Gott. Am schönsten, daran besteht wohl kein Zweifel, und alle bestätigen es, ist ihr "Ave Maria". Das hat ihr der Liebe Gott schon in die Wiege gelegt. Da bleibt dann in der Kirche kein Auge trocken. Deshalb ist sie eine Frohnatur. Sie hat nie an Gott gezweifelt. Das muß man auch erst einmal zusammenbringen." Anton Auer, Albing, † 28.März 2013.
"Junge, das ist eine Mannlicher. Vorsicht, die ist giftig. Der Abzug geht leicht, damit du nicht verziehst. Hab ich so gefeilt. Der Schuß bellt, also daß du nicht erschrickst. Und sie hat einen Rückstoß. Also daß du dir nicht die Schulter verrenkst. Und das Ziel ist da vorn. Das sind 100 Meter. Wir halten das so beim Einschießen im Frühjahr." Karl Firmberger 1970, †. (Ein daneben stehender Waidmann: "Einen fahren lassen gilt auch nicht!")
"Sohn, dein Husten gefaellt mir nicht. Du koetzt herum, zum Erbarmen. Hier, trink das: Limonade konzentriert, Honig, paar Tropfen Speiseoel und paar Tropfen von meinem Urin. Wirst sehen, das hilft." Eine wohlmeinende Schwiegermutter. (Und natuerlich hat es geholfen).
Johann Stockinger †, Leichenbestatter. "Einer aus unserer Tarockrunde wird als erster gehen, und dann folgt ein zweiter. Wer weiß, ob jüngere nachrücken. Irgendwann hat es sich ausgespielt. Deshalb heißt es, herzhaft zulangen. Die Speckknödel der Anni mit ihrem Sauerkraut: Den Göttern muß das Wasser im Mund zusammelaufen!" "Was gibt es sonst Neues, Hans?", fragt ihn der Schuster Mader. "Nichts Nettes, Mader-Vater", erwidert ihm Stockinger. "Allein im letzten Monat mehr Kindersärge als mir lieb ist. Nicht zum Anschauen, die G´schrappen. Wenn ich ihnen die Hände über der Brust falten muß, rinnen mir immer noch die Pedln über die Wange. Zum Glück nur über eine. Der Herrgott hat von Anfang an gewußt, was er einem einäugigen Bestatter zumuten kann. Aber so ist es. Der Tod ist nicht wählerisch. Zum Glück wissen das unsere Kinder noch nicht." (Frühe 80er-Jahre. Und Johann Stockinger ging als erster, nicht lange nach beschriebenem Abend. Und der Schuster Mader folgte ihm als zweiter).
20.März 2013: Franziska Jägerstätter ist also vor wenigen Tagen gestorben. Der Allmächtige ließ sie noch den Hunderter erleben (am 3.März des heurigen Jahres), bevor er sie heimnahm zu ihrem Gatten, dem seligen Franz.
27.3.2013: Ein Elektrikermeister mit Schuhgröße 45 setzt seine Füsse beim Gehen immer in V-Form auf. Das fällt jedem aufmerksamen Knirps auf. Er liefert sich mit seiner Frau auf Schritt und Tritt Wortgefechte, bei denen er scheinbar stets den kürzeren zieht. Das verdrießt ihn jedoch nicht, obwohl ihm gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen ist. Er ist ein Gelehrter der Elektrik. Er studiert akribisch die Apparate, die man ihm, dem Filialleiter, zum Verkauf anliefert. Er kennt die Eingeweiden der Erfindungen, die bei ihm in der Auslage stehen. Er liebt es zu wandern. An einem Wochenende macht er mit seinen beiden Söhnen, die ihm sosehr am Herz liegen, einen Bergausflug in der Umgebung von Lunz am See, traditionell einer der kältesten Gegenden Österreichs. Der ältere der beiden ist schüchtern bis über beide Ohren. Das bleibt ihm ein Leben lang ein Pferdefuß. Der jüngere hingegen liebt heimlich die Freiheit und wird später ein Adria-Spezialist auf dem Segelboot. Er schläft augenblicklich auf der Wiese ein, kaum hat er sich seiner Bergschuhe entledigt. Das bringt den Vater zum herzhaftesten Lachen seines Lebens. Der Sekundenschlaf seines Sohnes Karl, gefolgt vom Zweisekundenschlaf seines Schwagers, ebenfalls ein Karl. "Was treiben die beiden Karls da?", fühlt sich der Elektromeister angespornt auszurufen. Und im Lachen kommentiert er: "Wenn ich es nicht selbst mit eigenen Augen gesehen hätte, niemand würde es mir glauben." Die beiden Schlafbären kümmern sich darum nicht und wachen nach einer Weile wie die gröbsten Scheinheiligen wieder auf. Derweilen ist heilige Ruhe auf der Bergwiese eingekehrt. Der Elektriker reicht ihnen Schwarzbrot, Dauerwurst und Käse, ja er hat sogar auf den scharfen Mauthner Markhof-Senf nicht vergessen.
Jahre später kommt das Verhängnis auf ihn zu. Er verkauft einem Notleidenden eine Waschmaschine zu nicht genehmigten Sonderkonditionen, wird denunziert und fristlos entlassen. Das bricht ihm das Genick. Er tritt niemals mehr öffentlich auf. Seine Gattin, die ein Lebtag lang mit ihm gehadert hatte, eröffnet eine Tabak-Trafik. Dann stirbt der Elektromeister an Leukämie, innert eines Monats, so wie alle anderen Leidensgenossen. Die Gattin bricht zusammen. Nach dem Begräbnis stellt sie den Denunzianten zur Rede: "Du hast ihn umgebracht. Du wirst dafür im Jenseits bezahlen!" Dann versagt ihr die Stimme. Sie tritt nicht mehr vor die Haustür. Zu Silvester spricht der Schwager in der abendlichen Altjahresandacht vor der Bibel: "Der Sepp war ein Heros. Was für ein Leid. Das hat er nicht verdient. Das macht mir das Herz wirklich schwer." Und er beginnt zu weinen. Der 70-jährige Landarzt in Pension. Ja, auch mir kommen die Tränen, wenn ich an den lachenden Elektrikermeister zurückdenke, Josef Schartlmüller †, den durch menschliche Niedertracht zu Tode Gekommenen. Der nicht verblassende Onkel Sepp aus Stadt Haag.
(Wird in diesem Jahr regelmaessig fortgesetzt. W.H.)
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True Love 2 or how i learnt to love life
Forrest Gump läuft in den Kugelhagel des Vietcong zurück, um seinen Freund Baba zu retten und kassiert dafür eine Kugel in den Allerwertesten. Erfunden oder nicht erfunden.
Der Pole Staniszlaw aus Krakau, der in der VÖEST-Alpine im Walzwerk 2 arbeitet. Die Blechplatten müssen gespritzt werden, damals noch ohne Maske. Er nimmt mir die Spritzpistole aus der Hand: "Du brauchst das nicht zu machen."
Ein weiterer Pole, ebendort, Branko. Er gehört zu meiner Schicht. Er ist mein Kumpel an der Schneidemaschine. In der Nachtschicht schlafe ich mitten auf den Platten für Minuten ein. Als ich aufwache, ersehe ich nach einer Weile eine Veränderung auf meinem Arbeitshandschuh. Stattt "Evolution" prangt mir jetzt "Revolution" entgegen.
Der alte, hinkende Bademeister Alfred Mayerhofer †, der im Schwimmbad nicht nur einmal einen abtrudelnden Badegast vor dem Ertrinken rettet. Er lebte in einer Dienstwohnung im Schwimmbad, eine paradiesische Vorstellung für das Kind. Und er starb im Schwimmbad, beim Morgendienst, allein, ohne Zeugen, Herzstillstand. Still lag er neben dem Schwimmbecken.
Jemand steht am U-Bahn-Gleis und starrt hinunter, es ist nahe Mitternacht. Ein anderer kommt hinzu und kommentiert: "Unappetitlicher Tod!" Ein Dritter hört das, grinst und starrt den Sprecher entgeistert an. Der reißt theatralisch die Augen auf, schenkt dem Zeugen einen kurzen Blick und zwinkert.
Der steinalte Jude Kohel † aus dem dörflichen Papier- und Schreibwarengeschäft, Westbahnstraße, er hat nur eine gebrauchsfertige Hand, die andere ist ihm gelähmt. Er hat ein Herz für die Jugend wie kaum einer sonst. Die Bahnschüler kommen nach Hause und kehren bei ihm für 5 Minuten ein, so wie Wim Wenders und Hanns Zischler, um "Sigurd-" und "Tibor-" und "Bessy-Hefte" zu lesen. Und irgendwann, wenn wir zu viele waren, grummelte er, "Das nächste Mal spart ihr euer Taschengeld zusammen und kauft euch euer eigenes Heft." Gesagt, getan. So starteten Superman und Batman, und später Jerry Cotton und Wyatt Earp. So etwas nenne ich konstruktive Jugenderziehung, und das wird immer so bleiben.
Die Kinobetreiber der 60er und 70er-Jahre, allüberall. Wahre Paradiese, unvergessene. Ihnen bin ich ein Lebtag lang Dank schuldig.
Das Rock Konzert auf der Isle of Wight, 1970.
Mein unvergessener Studienkollege Franz. Eines Tages, als ihm die Zustände auf Wiens Straßen reichen, bringt er einen echten Wiener "Sandler" mit in die Altbau-Wohnung. Der arme Mann findet sich mit den ungewohnten Verhältnissen gar nicht zurecht. Als erstes zieht Franz ihn aus und entsorgt dessen Wäsche, verpaßt ihm von der seinen eine neue Ausstattung. Dann zeigt er ihm die Waschstelle, damals noch ohne Warmwasser. Das stellt er am Ofen auf. Der arme "Einleger" jault auf, als Franz ihn mit einem Lappen wäscht. Der Arme bleibt 3 Nächte bei uns, dann schleicht er sich, aus schlechtem Gewissen, wie er sagt. Franz hat daraufhin noch 2 Tage mit Bettwäsche und Matratze zu tun, dann hatte dieses Geruchs- und sonstige Intermezzo ein Ende. Das war vor 36 Jahren. Unvergessen wie alles Andere auch.
All die verzweifelten arabischen Väter, die ihre durch kriegerische Willkür ums Leben gekommenen Kinder unter Tränen und Schreien der Verzweiflung durch die Gassen ihrer Dörfer und Städte hin zum Friedhof tragen müssen.
Die Frauen von Petrovaradín nahe Nóvi Sad, Vojvódina, Serbien. Seit 1945 pflegen sie die Gräber am deutschen Soldatenfriedhof, sodaß er nie verwahrloste. Davon haben die USA, die ausgerechnet die stolze Donau-Brücke von Nóvi Sad im "Krieg gegen Serbien" sprengen mußten (collateral damage völlig uninteressant), natürlich keine Ahnung.
All die vielen Pokerface-Menschen des Dorfes, die nach einem Kurzgespräch zwischen Tür und Angel einfach so entschwinden, für immer und ewig, scheinbar ohne jede Angst vor dem Fortgehen. Das imponiert mir nachhaltig und läßt mich gleichzeitig nicht los. Dieses coole Fortgehen, das den Nachsinnenden immer am falschen Fuß erwischt. Ihr letztes Wort vor dem Fortgehen ist Ironie und Witz. (So z.B. der einarmige Sägewerksbesitzer, der sein Sägewerk abbrennen und zu einem Versicherungsfall verkommen läßt. Nicht lange danach stirbt er, scheinbar aus einfachem Willensentschluß heraus).
Eine andere Deutschlehrerin, Maria Brandner, †, zu ihren "G´schrappen", den 9-Jährigen, unvergessen: "Deutsch ist nicht schwer. Wenn ihr etwas tut, das wichtig ist, dann schreibt man das "Tun-Wort" groß. Zum Beispiel: "Beim Spielen habe ich Spaß. Beim Duschen ist mir nicht kalt. Zum Nachdenken braucht man einen klaren Kopf. Beim Fußballspielen vergeht die Zeit wie im Flug. Schlafen ist die beste Arbeit. Brotschneiden ist nicht immer einfach."
(Wird fortgesetzt).
Srebrenica
Dieser Tage jähren sich zum 18.Mal die Geschehnisse in Srebrenica; jenes Morden, das den unüberbietbaren Tiefpunkt des Bürgerkrieges im zerfallenden Jugoslawien darstellen sollte. 50.000 Menschen gedenken dieser Tage ihrer verlorenen Männer, Burschen, Buben, Kinder, ihrer Onkel, Väter, Großväter, Cousins.
Es war ein beispielloses Morden, dem Europa nicht vorzubeugen vermochte. Das ist die eigentliche Sünde Europas in der jüngsten Geschichte. Eine zutiefst beschämende Sünde war es, als die holländischen UN-Truppen aus Srebrenica abzogen und die verzweifelten Moslems alleine ließen. Diejenigen, die die Order zum Abzug gaben, tragen mit Schuld an diesem lokalen Genozid, denn die Verantwortlichen in Brüssel mußten doch wissen, was da geschehen würde. Sie mußten doch den Haß in den Augen der Tschetniks rund um General Mladić gesehen haben. Oder waren sie dermaßen grenzenlos naiv, zu meinen, es würde eine Handreichung des Friedens geschehen? Ja, ich erinnere mich nur allzu schmerzlich, wie abfällig sie in den Konzernzentralen Deutschlands über den Bürgerkrieg sprachen. Ein gegenseitiges Massakrieren von Untermenschen.
Zu meinen, Srebrenica sei vorüber und die Massakrierten hätten nunmehr doch längst ihre letzte Ruhe gefunden, kann sich als ein fataler Irrtum herausstellen, so wie es verhängnisvoll sein kann, zu meinen, die 5.000 Feuerwehrmänner, die mit und nach der Sprengung der Twin-Towers ums Leben kamen, könnten nun endgültig symbolisch begraben werden, denn Leichen fand man keine einzige. Das ist bei Atomsprengungen so, und das ist bei Genozid so. Auschwitz geschah vor den Augen der Amerikaner und Engländer, doch die Fotos der Aufklärer blieben "Geheime Staatssache".
Niemand wird den Aufschrei der Kinder ungeschehen machen und verhallen lassen können, auch nicht den Zusammenbruch all der Witwen und Halbwaisen am Abend des 11.September.
Das grenzenlose Verhängnis des Menschen, gewissermaßen seine moralische Bankrotterklärung ist die Tatsache, zu meinen, der Tod könne instrumentalisiert werden. Wenn wir von einer Erbsünde im christlichen Sünde sprechen dürfen und vielleicht sogar sprechen werden müssen, dann ist es dies: Zu glauben und danach zu handeln, daß wir Herr über Leben und Tod unserer Mitmenschen sind. Der Tötungsakt, der nicht rückgängig und nicht wiedergutzumachen ist, er ist unsere Kardinalsünde; ein Vergehen, das in seiner Schwere nicht abzuschätzen ist.
Wir schwingen uns auf, das Töten zu persiflieren. Wir werden informiert, daß Osama bin Laden einen Cowboyhut trug, Momente, bevor er starb. Barack Obama und Hillary Clinton müssen es live gesehen haben. Hillary Clinton wird nicht die nächste Präsidentin der Vereinigten Staaten. Nicht, nachdem sie DAS mitansehen mußte. Minuten, die ihr Leben endgültig prägten. Alle breiten den Mantel der Diskretion über den Gesundheitszustand von Hillary Clinton aus.
Es ist existenzielles Verhängnis, kategorisch – und das noch dazu zynisch – zu raisonnieren, der Mantel des Schweigens (vulgo der Mantel des Todes) beseitige das Problem endgültig. Als hätten die Toten keine Stimme.
Wir selbst wissen es besser. Und dazu benötigen wir keine endlosen "Halloween"-Sequels mit Jamie Lee Curtis.
Die 3.000 Feuerwehrmänner verschwanden spurlos. Keiner wagt heute öffentlich nachzufragen, warum kein einziger Leichnam gefunden wurde. Wie denn, bei 50.000 Grad und mehr. Von all den nachfolgenden Knochenmarks- und Leukämieerkrankungen weiß keiner etwas.
Das Unrecht, wie der Volksmund zurecht sagt, schreit zum Himmel. Ja und Amen. "Tauet Himmel, den Gerechten, Wolken, regnet ihn herab. Also sprach´s in finstren Nächten, wo die Hoffnung ging ins Grab." Die Kinder von Srebrenica rauben mir die Stimme, ja beinahe den Verstand. Die Frauen liegen auf dem Boden, sie umarmen den Sarg.
Die erste Kampfdrohne landete ferngesteuert auf einem Flugzeugträger, so wurden wir heute informiert. Herr Präsident, in Gottes Namen, bitte, kommen Sie zur Besinnung! Wo ist Friede? Wo ist Hoffnung? Wo ist Liebe?
Herz Jesu, steh uns bei!
Ottilia Sandmaier, ein Waisenkind, 1910 – ca. 1980
Heute, am Tag des Herrn, moechte ich, wiederum aus Tradition, eine Rueckbesinnung vornehmen, und Ihnen, werte Leserinnen und Leser des Forums, von einem wertvollen Menschen berichten, der nahe an meinem Herzen ruht. Meine Grosstante Ottilia Sandmaier, die bereits seit etwa 33 Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Sie liegt, wie ich schon einmal geschrieben habe, an der Seite ihres Mannes, am Stadtfriedhof von St.Valentin. Sie hiess eigentlich Ottilia, wie mir mein Vater bereits in der Stube bei der Begruessung waehrend unseres ersten Besuches erklaerte – ich war gerade mal wohl acht -, "aber die Leute hier kennen einen solchen Namen nicht, weshalb wir sie alle immer schon "Dilli" genannt haben. Wie deine Eltern wohl auf diesen Namen gekommen sind, Dilli?" und er blickt sie direkt sinnierend an. "Ja, seltsam. Leider koennen wir sie nicht mehr fragen", kommt es ebenso sinnierend zur Antwort.
Sie war eines von sechs Geschwistern, die kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ihre Eltern innert einer Woche verloren. Die Mutter starb bei der Geburt des letzten Kindes (ob das Kind selbst ueberlebte, weiss ich nicht), der Vater aus Gram ueber den Tod der Gattin. Die Kinder wurden in der Nachbarschaft verschenkt. Ich weiss ueber die Kindheit der "Dilly" beinahe gar nichts. Nur einmal, ich erinnere mich, es war in den ersten Jahren, als wir als Kinder begannen, sie und ihren Mann auf ihrem romantischen alten Bauernhof zu besuchen, erzaehlte sie, ohne Traenen in den Augen, "Ja, die Kindheit war hart, aber das war damals in jeder Familie so, und mein Mann hat es auch nicht viel leichter gehabt. Zum Glueck haben wir zusammengefunden. Wir kennen beide das Leben. Das hat uns anspruchslos gemacht. Wir brauchen wenig zum Leben. Wichtig ist, dass man faehig ist, einander zu umarmen und ein Busserl zu geben." Ich erinnere mich praezise, wenn ich mich konzentriere. Ich war damals etwa 8 Jahre alt. Wir besuchten die Grosstante ungefaehr ein Jahr lang, dann rissen die Besuche im VW-Kaefer des Vaters aus welchem Grund auch immer ab. Vielleicht war es die eisige Schneelage des Ortsteils Endholz. Ich erinnere mich, wir blieben einmal trotz Spikereifen auf der Steigung haengen und mussten warten, bis uns ein Traktor mit Schneeketten abschleppte. Meine Mutter war beim Autofahren immer uebersensibel und spieb bei jeder Gelegenheit. Vielleicht vergellte ihr dieses Erlebnis die Lust, vielleicht war es auch nur die Erinnerung an das Schicksal ihrer melancholischen Schwiegermutter, der juengeren Schwester der "Dilli-Tant‘ ".
Die Dilli war klein – g’stockert, wie wir hierzulande sagen – und immer in Bauerstracht gekleidet. Sie humplte leicht. Sie hatte einen relativ grossen Kopf, ein sinnliches Gesicht. Sinnliche Lippen. Sie laechelte gerne, voller Liebe. Ich erinnere mich, sie fixierte beim ersten Mal unseren Vater und kommentierte: "Na, Karl, da hast du dich gut angestrengt. Habt ihr herzige G’schrappen geschenkt bekommen." Ich fasste das als Lob auf und schloss damit den heimlichen Freundschaftspakt mit ihr. Diese Tante hatte etwas zu sagen. Ihr Mann, der Rud’l, rauchte Bauern-Virginia. Das waren die langen Zigarillos mit einem Strohhalm an der Spitze. Ein Luxus eigentlich. Hoechstwahrscheinlich der einzige, den er sich leistete. Doch in meinen Augen war der Hof selbst das Paradies. Erstens wegen seiner halbverwegenen, abenteuerlichen Lage, doch im Grunde wegen des Essens, das es dort gab: Selbstgebackenes Bauernbrot, wie ich an zwei Gelegenheiten bestaunen durfte. Selbstgemachter Ziegenkaese und harte Rauch- und Dauerwuerste, wie sie mir schon immer koestlich mundeten. Dazu gab es selbstgemachten Most, von dem mich nur eine Zungenspitze bereits schwindlig machte. Der Vater und der Onkel kommentierten immer die Qualitaet des Mostes, und das auf andere Art als der Grossvater, der das immer in herrischer und, gegenueber seinem Sohn, in spannungsgeladener Manier, wie es seine Art war, tat. Der Rud’l-Onkel, der eher wie ein sensibler, stes freundlicher Kuenstler wirkte, kommentierte den Most liebevoll. Das nahm viel vom Druck auf den Schultern meines Vaters. Zur Bauernjause gabe es auch selbsteingelegte Sauergurken, noch eine Spezialitaet meiner Grosstante. Das kinderfreundliche Paradies wurde ergaenzt durch Nussbaeume.
Die Dilli hatte zwei Soehne, den Hans und den Sepp. Der Hans, der eindeutig vitalere, ein Schwarzer, heiratete auf einen anderen Hof nahe Stadt Haag. Der Sepp, der stille, weinerliche, der eindeutig zartere, wurde Bankbeamter und frueh Witwer (ich habe dazu schon schreiben muessen). Der Hans jedenfalls war ein Sanguiniker. Er stand voll im Saft und berserkerte. Im ersten Winter baute er uns einen Profi-Schneemann, mit Karotte und Kohleaugen samt Kohlemantelknoepfen. Und das war kein Mini-Schneemann, sondern ein Riegel. Der spannende Momente kam natuerlich, wie er den Torso, die zweite Kugel, auf die erste hinaufhievte. Da kam ihm der Sepp zu Hilfe. Und dann, weil noch nicht finster und der Schnee schoen patzig, baute er uns auch noch eine Schneeburg. Die erste zuenftige Schneeballschlacht meines Lebens. Den Hans habe ich nur ein einziges Mal wiedergesehen, auf einer meiner abwegigen Radtouren in der weiteren Umgebung, zu denen es mich ohne ersichtlichen Grund zog.
Die Dilli war etwas von einer Heiligen. Natuerlich hatte sie zuweilen Traenen in den Augen, doch bei ihr wirkten die Traenen wie der Ausdruck hoher Frommheit, wie Ehrfurcht vor dem Leben. Ihre Stimme gegenueber uns war voller Liebe. Dieses in Liebe zerflossene Gesicht, das gleichzeitig nicht aussprechbare Weisheit ausdrueckte, ohne dass je jemand es damals so gesehen haette. Dieser Ausdruck des Gesichts war ein Ausfluss der Ewigkeit, zu Lebzeiten. Als sie starb, war es dem Vater peinlich, denn natuerlich wusste er als Arzt um sie, und er wusste, der Rud’l-Onkel wuerde es ohne seine Dilli nicht lange aushalten. Und so war es auch.
Heute stand die Dilli urploetzlich vor mir, als Engel, so wie ich sie kannte, als ich acht war. Das Licht war anders. Ich habe sie geherzt und gekuesst. Die Bedl’n kommen mir erst jetzt. Pfiat eich, ia zwoa.
The Masters. Augusta, Tennessee.
Vorgestern also gewann Bubba Watson, der 35-jährige US-Amerikaner, zum zweiten Mal nach 2012 das Golf Masters in Augusta, dem anspruchsvollen Linkskurs. Ein prestigeträchtiges Turnier, eines von vier Majors des Jahres, neben den US Open, den PGA Championships und den British Open. Die Crême de la Crême wetteifert um einen Siegerscheck von etwa 1,5 Millionen Dollar. Golf hat schon immer zu den höchstdotierten Sportarten gehört. Tiger Woods, diesmal durch schulterbedingte Abwesenheit glänzend, war lange Zeit der bestverdienende Sportler weltweit überhaupt. Sein Vermögen wird – frauenbereinigt – auf über eine Milliarde Dollar geschätzt.
Bubba Watson – "ein Bub namens Bubba aus einer US-Kleinstadt", so er über sich selbst -, gewinnt also zum zweiten Mal das "Green Jacket" des Masters-Siegers, ihm übergezogen vom Gewinner des letztjährigen Turniers, dem Australier Adam Scott. Er locht den letzten Putt souverän zum Par auf dem 18.Green ein und starrt eine Sekunde auf den Ball, den er mit dem Zeigefinger anpeilt. Dann erhebt er sich und umarmt seinen Caddy. Ein Weinkrampf erschüttert seinen Körper. Die Spannung fällt von ihm ab. Er grüßt seinen Spielpartner, den 20-jährigen US-Rookie Jordan Spieth, der bis zum 9.Loch noch mit zwei Schlägen Vorsprung geführt hatte, und dessen Caddy, dann geht er durch das Spalier der jubelnden Zuschauer auf seine 2-jährigen Sohn zu, der ihm entgegenwatschelt. Er hebt ihn hoch und küßt ihn. Die Gattin, eine attraktive, durchtrainierte Vorzeigedame, gesellt sich mit einem Siegerkuß zu ihren beiden Männern. Bubba weint noch immer. Er nimmt den Weg zum Clubhaus, das Kind in der Linken, klatscht mit der Rechten 1.000 Zuschauerhände ab. Das Turnier ist zu Ende. Watson gehörte zu den Favoriten, doch diesmal gab es ein Favoritensterben. Nicht wenige der renommierten Stars schafften nicht einmal den Cut, vor allem nicht Publkumsliebling Phil Mickelson, er erst recht ein Familienmensch erster Güte, der traditionell mit seiner zweiten Gattin (die erste verstarb ihm an Krebs) und den drei Kindern auf offener Szene mit Küssen und Umarmungen feiert.
Golf ist ein Nobelsport und seine Prätendenten verhalten sich nobel. Es gibt den Golfkodex, den ungeschriebenen wie den geschriebenen. Die Spieler Gentlemen, nicht Gegner. Jeder spielt mit dem Kurs. Der Gegner, das ist man selbst, die eigene Schwäche, die eigene Unfertigkeit. Der Gegner, das ist nicht die Natur, nichts der Kurs, nicht die Launen des Wetters, der Wind oder der Regen. Nicht der Ball, der aus dem Loch mit einer Ehrenrunde auslippt oder einen Zentimer neben dem Loch zur Ruhe kommt. Die Nerven im Zaum zu behalten, das ist die hohe Kunst, so wie es Bernhard Langer, lange Zeit Deutschlands Nummer Eins, der mittlerweile über 50-Jährige (in Augusta geteilter Achter; Gratulation!), oder Míguel Angel Jiménez, der spanische Ferrari-Mechaniker mit Roßschwanz, soeben 50 geworden (sensationeller alleiniger Vierter, vier Schläge Rückstand auf Bubba. Mis saludos particulares, cavallero!), vorexerzieren. Die Nerven, das sind der Ärger über sich selbst, mehr aber noch der Ärger über das unsichtbare und doch so sehr sichtbare Schicksal; die vielen Details, die man doch hätte bedenken können, wie dieses Hügelchen hier, diese Wasserlache dort, das stumpfe Grün auf diesem Loch, das eisenharte Grün an jenem; der Ball kommt und kommt nicht zur Ruhe. Der Aufprall ausgerechnet an jener Welle, ausgerechnet einen Zentimenter zu kurz, – der Ball beginnt nach rückwärts zu rollen und wird immer schneller, unvermeidlich plumpst er in den gemein positionierten Wasserteich. Ein Raunen geht durch die Menge. Selten, daß ein Putter oder ein Eisen nach einem oder vieleicht sogar nach mehreren total mißlungenen Schlägen über dem Schenkel zerbrochen werden muß oder unkontrolliert, über des Caddies Kopf hinweg, durch die Luft segelt. Bubba Watson schlägt seine Par 5-Abschläge 360 Yards weit. John Daly war dafür bekannt, daß er den Ball noch weiter hinausdrosch, manches Mal in die Pampa. John Daly konnte ausrasten.
Golfer sind eine eigene Klasse. Profigolfer. Nicht jene, die es wegen des Status spielen. Profigolfer, die wenigstens jedes zweite Wochenende, beginnend ab Mittwoch, auf der PGA-Tour im Einsatz sind. Manchmal schaffen sie am zweiten von vier Tagen den Cut, manchmal nicht, und müssen unverrichteter Dinge wieder nach Hause reisen. Jene, die am Cut scheitern, gehen leer aus. Ein bitteres Los. Doch zumindest die Spesen werden ihnen erstattet – so vermeine ich -, denn sie sind per Namen eingeladen.
Golf ist ein Nervenspiel. Man sieht es den Mienen der Spieler an. Die Gefühle toben innerlich. Doch dann, wenn im entscheidenden Moment ein brillanter, ein kompliziert verlaufender Putt gelingt, dann tobt das Rund, die Hand wird zur Faust geballt und durch die Luft geschlagen. Vielleicht sogar ein Freudentanz. Der Sieger wirft seinen Ball in die Menge.
Nichts von all dem diesmal bei Bubba Watson. Besinnung. Kein Blick hinauf zum Himmel, nein, der rechte Zeigefinger ausgestreckt zum Ball im Loch. Ein sympathischer, nicht schlecht aussehender, sauberer Mann. Seine Frau kann sich glücklich preisen. Der zweijährige Sohn, adoptiert, weiß noch nicht, wie ihm passiert. Und die gut hunderttausend Zuschauer (Golf in den USA einer von mehreren Nationalsportarten) auf dem Augusta-Kurs selbst, sie gratulieren dem Sieger, fair. Er hat es verdient. Hinter ihm zwei Rookies in den Rängen, zwei blutjunge Kerle, mal 20 Jahre jung, die zum ersten Mal auf diesem brandgefährlichen Kurs von Augusta, auf dem keine Frauen zugelassen sind, ihre Eintrittskarte in bestmöglicher Manier einlösten, Jordan Spieth aus Texas und der Schwede Jonas Blixt. Junge Männer, die ihre Nerven im Zaum zu halten verstanden. Wirklich bemerkenswert. Allerfeinste Marke. Mit 20 mitspielen im Klub der professionellen Multimillionäre, die bereits seit 10, 20 oder 30 Jahren auf der Tour mittouren, USA, Kanada, Hawaii und gelegentlich Europa. Ein Mal im Jahr Südafrika, ein Mal im Jahr Australien. Der beste Freund der Caddy. Immer ein Mann. Nur bei Nick Faldo, dem Engländer, zweimaligem Gewinner des Green Jacket, war es eine Frau, wohl eine vertraute, der er es gestattete, ihm die Putterausrichtung zu korrigieren. Ja wirklich, sogar das. Das war bei Nick Faldo, dem englischen Sir, einzigartig. Undenkbar bei den spanischen Machistas, dem besagten Jiménez, José Maria Olázabal und erst recht dem unvergeßlichen Severiano Ballesteros, dem mehrmaligen Majors-Sieger, vorzeitig vor zwei Jahren verblichen.
Eins ist sicher: Beim nächsten Ryders-Cup, dem historischen Aufeinandertreffen der US-Golfer mit ihren europäischen Kollegen während vier Tagen, wird Bubba Watson, einer der Hoffnungsträger der Stars and Stripes, Bannerträger sein. Ein charismatischer, dem sie zujubeln werden, mehr als Tiger Woods, denn der hat sich als Womanizer entpuppt. Das ist, wie wir wissen, in den Staaten im allerhöchsten Maße skandalös, der Sündenbock muß sofort öffentlich in Tränen ausbrechen, darf dann aber weitermachen, denn sein Ruf ist bereits nachhaltig zerstört. Werden wir sehen, wohin Tiger Woods noch wandern wird. Manchen Golfern ist diese Attitüde trotz des vielen alleine Herumreisens fremd. Es ist nicht einfach, dieses ständige Leben in Hotelzimmern. Das viele Fliegen. Wie lange noch? Augusta, das ist Magnolia Lane. Ein Luxuspark. Doch die Stürme der Zeit, einer wilden Zeit, machen auch vor Augusta nicht halt. 600 historisch wertvolle Bäume mußten dem letzten Wintersturm ihren Tribut zollen, unter ihnen auch der für Augusta identitätsbildende Eisenhower Tree. Ja, der National Golf Course von Augusta war dieses Jahr zur großen Irritierung nicht weniger Stammgäste baumgelichtet. BAUMGELICHTET. Beinahe nackt. Ein Sakrileg geradezu, doch ein vorhersagbares. Zum Glück nicht von einer Feuerwalze niedergebrannt wie in Valparaiso, dem paradiesischen Tal an der Pazifikküste mit seinen romantischen Hügeln. So Vieles liegt in der Luft. Die Amerikaner wissen es, mehr als andere. Zurecht klatschen sie den diesjährigen Sieger ab, partizipieren an seinem Sieg. Es ist der Sieg der großen amerikanischen Nation, der sosehr leidgeprüften. Es ist der Sieg eines Heros für ein Wochenende. Wir freuen uns mit ihm und verneigen uns vor den Anstrengungen seiner Mitstreiter. Mögen sie alle lange leben.
Music is in the air
Robin Williams ist tot. Auftakt zu einem Fanal in einer US-Kleinstadt im Staate Missouri. Der junge Michael Brown ist tot. Er blickt auf das Fanal herab. Neben ihm beginnt Abraham, auf seinem Klavier göttliche Elysien zu spielen, elegisch. Im Klang der Saiten verändert das Licht seine Musik. Abrahams Stimme erklingt. "I’m so sorry."
Jorge Mario Bergoglio hat einen weiten Flug vor sich, zurück nach Westen. Er schläft ein. Über den Wolken ist man Gott näher, sagt das Volk. So ist es. Bruder Jorge träumt klar. Er fühlt sich auf Flügeln getragen. Er wacht auf und bittet die Journalisten zu sich. Es sind sechzig. Sie lauschen seinen Ausführungen: "Überall ist Krieg. Es herrscht generalisierter Krieg. Vielleicht bin ich in zwei Jahren tot. Der Herr kann einen schnell und unvermutet abberufen. Ab und zurück in des Vaters Haus."
Abrahams Vater ging verloren. Schon davor hatte er den Verstand verloren. Abraham wuchs bei seiner Mutter auf. Dann heiratete sie, und der Junge hatte ein neues Zuhause. Dann, Abraham war acht, begegnete er dem Herrn des Waldes. Nur ihm, dem Kind, zeigte sich der Herr des Waldes, als spielender Waldschrat. Den anderen war er unsichtbar. Abraham kehrte nach Hause zurück und entwickelte unmittelbar eine Ader für die Kunst. Er dichtet und spielt Musik, fünf Instrumente: Konzertgitarre, E-Gitarre, Baß-Gitarre, Klarinette und Klavier. Dazu singt er, melancholisch. Sein linker Ellbogen ist von einem Unfall in der Schule verunstaltet, das tut nicht viel zur Sache. Die Mädchen schwärmen für ihn. Abraham stellt profunde Fragen: "Woher kommt meine Wut, Papa?"
Ende Dezember beendete Leonard Cohen, der große Chansonnier, seine Welttournee in Auckland. Es wird seine letzte gewesen sein. Wenn nicht, umso besser. Sein Ensemble ist exquisit wie kein zweites, ohne Zweifel. Er singt mit den Webb-Sisters. "If it be your will." Harfe und Gitarre.
Wie will Ferguson zur Ruhe kommen? Stell dir vor, es ist Krieg, Nachts, und Musik erschallt vom Himmel. Ein himmlischer Chor. All jene Musiker, die heuer bereits gestorben sind, stimmen, sie selbst unsichtbar, ein Loblied an auf den Herrn, begleitet von Instrumenten. Die Instrumente dirigiert von Lorin Maazel. Die Menschen halten inne in ihrem Rasen und blicken hinauf in die Dunkelheit. Und dort erscheint ein Licht.
Keith Jarrett fährt nach New Orleans und improvisiert auf seinem Klavier. Im vollbesetzten Konzertsaal unterbricht er sein Spiel: "Um es nicht zu vergessen: dieses Konzert ist zu Ehren von John Lennon."
Elton John kehrt in die Saint Patricks Hall zurück. Er hat sie auf eigene Initiative gemietet. Sein Konzert wird nur kurzfristig zuvor angekündigt. Er improvisiert, seine Improvisation hat kein Ende. Dann, zum Finale, gleitet er über, "like a candle in the wind". Wieder bleibt kein Auge trocken. "Please, open the doors". Und sie öffnen die Tore. Draußen bläst der späte Septemberwind das Laub der Kastanienbäume über den nächtlichen Vorplatz. Es ist totenstill. Elton Johns Stimme hallt von den nackten Wänden wider.
Sir Artur Rubinstein tritt 1964 (18 Jahre vor seinem Tod) zum letzten Mal in Moskau auf, Tschaikowski-Konzerthaus, überfüllt, unter den Augen Nikita Chrustchow’s. Er spielt Chopin, Schumann, Débussy und Villa-Lobos. Er träumt. Er spielt mit geschlossenen Augen. Seine Hände fliegen über die Tasten. Es hat den Anschein, als fließe er in die Musik, als versinke er im Flügel, als löse er sich in ihr auf. Das Publikum atemlos gebannt. Dann ein Raunen. Stirbt Artur Rubinstein mitten im Konzert? Erleben wir eine Himmelfahrt, so wie im polnischen Łodz? Er kehrt zurück, zum Glück. Das Publikum erleichtert. Frenetischer Applaus.
Ein alter, bärtiger Nomade sitzt in der Wüste, vor seinem schwarzen Zelt. Das kleine Lagerfeuer brennt. Neben dem Alten sitzt sein Enkel. Der Alte zeigt zum Himmel hinauf. "Was sagen Dir die Sterne, Kind?" Und er schließt verträumt, mit sich und der Welt in Frieden, die Augen. "Und was sagen Dir die die Stimmen der Nacht." "Ich bin so froh, daß Du bei mir bist, Großvater. So muß ich nicht Angst haben", erwidert das Kind.
Licht der Hoffnung
Sie war neun, als sie im Winter 1939 an Gehirnentzündung erkrankte und in eine 14-tägige Bewußtlosigkeit fiel. Der Arzt kämpfte sich mit dem Pferdeschlitten zu dem fünf Kilometer entfernten Gehöft. Er sah das Kind und wußte, hier konnte er nichts tun. Nicht hier und zu dieser Zeit. Es war bitterer Winter. Er riet der Mutter zu Kartoffelumschlägen und … Beten. Nach 14 Tagen schlug das Kind die Augen wieder auf, in dem Moment, als der Vater es in den Händen hielt, es schaukelte, ein Lied summte und unter Tränen betete. In diesem Moment schlug das Kind die Augen wieder auf. Es war sprechfähig. Das erste, was es sagte, „Papa, es war so schrecklich. Ich war in der Hölle. Lauter Teufel.“
Dieses Erlebnis vergaß das Mädchen nie. Es begleitete es durchs ganze Leben. Es prägte sein Leben, zuvorderst seine Empfindsamkeit. Das Mädchen wurde zur Jungfrau, zur Frau und zur Mutter. Es war immer empfindsam. Es hatte ein weiches Herz, es weinte viel.
Als das Mädchen 15 war, kamen die Russen auf den Hof. Sie stellten den über alles geliebten Vater an die Wand. Das Mädchen war noch zart, ein Kind. Gemeinsam mit der gebrechlichen, alten Mutter fielen die beiden den Soldaten weinend ins Knie. Die Mutter jammerte: „Nehmt mich, aber laßt ihn am Leben!“ Die Russen hatten ein Einsehen. Die zwei Kinder ließen sie unberührt, die anderen drei Schwestern dagegen waren bereits in Todesangst in die Au geflohen.
Der Kommandant des Bataillons ritt einen schwarzen Araber. Den stellte er am Hof unter. Der naive Vater wollte den Araber zum Pflügen verwenden. Der Araber steigt hoch, bereit, seinen menschlichen Widersacher mit den Hufen zu erschlagen. Der Bauer kann noch rechtzeitig beiseitespringen. Er fällt hin, rappelt sich wieder hoch, die Knie schlottern ihm. Als der Kommandant davon erfährt, zieht er dem Bauern mit der Rute eins über. Und rührt ihm weiters kein Haar. Der Kommandant war verständig. Er hatte eiserne Disziplin.
Dann kamen stille Jahre, fröhliche Jahre. Die glücklichsten im Leben des Mädchens, so bekannte sie später selbst, ohne Harm. Mit 21 lernt sie ihren Gatten kennen, mit 26 heiratet sie ihn, als Jungfrau. Die beiden lebten einen tiefen katholischen Glauben.
Sie verbringt insgesamt fünf Jahre in der fremden Hauptstadt. Das Leben, die Menschen dort verstören sie sehr. Die uralte Angst brennt jäh wieder hoch. Zeitweise erbricht sie. Sie hat Angst vor den Menschen, den Frauen des Krankenhauses, vor deren Stimmen, deren Gesichtern. Sie lernt Hebamme. Der schönste Beruf, den sie sich vorstellen kann. Sie lebt im Schwesternheim. Dann, bereits fertig ausgebildete Hebamme und verehelicht, schwanger, bricht eines Morgens für die Frau die Welt zusammen. Der Primar des Krankenhauses in Wien 19., Gersthof, offeriert ihr, ihm, dem einzigen, der dieses Geschäft zu dieser Zeit in Wien betrieb, bei den Abtreibungen behilflich zu sein, denn er habe beobachtet, „wie geschickt sie sich anstelle.“ Die Frau bricht bewußtlos zusammen. Als sie wieder zu sich kommt, eilt sie auf die Toilette und erbricht. Dann geht sie auf ihr Zimmer. Am nächsten Tag, nach einem Gespräch mit dem Gatten – er selber Arzt – demissioniert sie. Sie kommt ihr Leben lang nie darüber hinweg. Sie erkennt, die Teufel leben neben ihr. Das verstört sie nachhaltig. Von dort weg zieht sie sich zurück und wird menschenscheu. Sie hatte als Jugendliche die Schornsteine von Mauthausen rauchen gesehen. Sie rechnet jederzeit mit einem Rückfall.
Anna hatte von dort weg einen durchdringenden Blick, so wie ihre Schwestern. Sie wußte sofort, ob der Mensch ihr gegenüber in Ordnung war. Die meisten waren es nicht. Es hatte immer den Anschein, als fördere ihre anmutige Anwesenheit im Gegenüber etwas Vulgäres zum Vorschein. Das weckte in Anna, die von Natur aus warmherzig war, eine leise, jedoch hartnäckige Verbitterung, gegen die sie Nacht für Nacht, wenn sie alleine im Bett lag, anzukämpfen versuchte. Die Verbitterung führte im Zusammenleben mit den Nächsten zu weiteren Verletzungen, Mißverständnissen und Zwietracht. Schlußendlich klopften Zwangsgedanken bei ihr an und schlimme Gewaltphantasien. Anna driftete still vom Gemeinwesen weg. Sie hatte das Vertrauen in die Gemeinschaft verloren und merkte allmählich, daß sie in Gefahr stand, auch das Vertrauen zu sich selbst zu verlieren. Sie fühlte sich hartnäckig mißverstanden. Aus Zorn weinte sie, zumeist im Bett. Der Mann war fort. Sie betete so laut, daß es die Kinder in ihren Zimmern, sofern sie nicht schliefen, hören konnten. Damit kehrte Verstörung ein ins Haus, bei Kindern und Gatte. Der Mutter Form, mit Gott zu reden, prägte die Religiosität der Kinder. Der Vater verstand zu spät, was hier vor sich ging, und er verstand auch nicht, dagegen zu halten. Zu sehr war er von seinem eigenen Vater, der von der Religiosität der Frauen und deren Frömmigkeit generell nichts hielt, geprägt. Und so driftete Anna fort, in eine Welt des Eigensinns. In eine Welt der Einsamkeit und des Schreckens. Sie fand nicht mehr den Trost der Kindheit und Jugend, den Trost der Geborgenheit. Sie wußte, sie lebte in einem goldenen Käfig. Draußen geht die Welt ihrem Untergang entgegen und sie kann nichts dagegen tun. Sie hatte nie etwas gegen den Untergang anstellen können. Nichts gegen den Grippetod des halbwüchsigen Bruders, nichts gegen den Leukämietod des älteren Bruders, dieser bereits 9-facher Vater. Der Bruder starb zu Heiligabend, 1963. Der Schnitter hielt direkt neben ihr Ernte. Manchmal hatte er ein Gesicht, manchmal nicht. Sie fühlte, sie war machtlos. Darum betete sie umso inniger. Sie rannte an gegen eine dunkle Wand. In vielen Nächten wich die Wand zurück und gab den Raum frei, eine Hölle. Dann half ihr nur mehr der Erzengel Michael, er, nach dem auch der Vater getauft war. „Michael, hilf!“ Ein Hilferuf aus Verzweiflung, in hoher Not.
Sie nannte die Welt einen Dreck. Nur ihr Garten war heil und heilig, so wie die Sonne. Alles Andere: Dreck. Fernsehen, Zeitungen, Radio. Alles, was Menschen tun. Was sie tun, aber erst recht, WIE sie es tun. Sie sagte einmal, der Mensch verrenne sich immer mehr und dann, weil so eng, könne er nicht mehr zurück. Er könne nicht mehr wenden. Das Horrorszenarion der Klaustrophobie. Sie münzte dies unter anderem auch auf den Ehebruch, der ihr nicht einmal in Ansätzen ein Gedanke war. Doch in ihrer Umgebung ging es drunter und drüber. Aber mehr noch als das profane Treiben war ihr das Treiben der Seelsorger ein Anliegen. Und derer hatte sie mehrere "an der Angel". Es gab so etwas wie ein massives Vorverständnis zwischen Anna und den Geistlichen, die zu ihr auf Hausbesuch kamen, um bei ihr ihr Herz auszuschütten. Anfangs war dies wohl wechselseitig, doch im Alter wurde es einseitig. Sie, die Matrone, als wäre sie eine Verkörperung Mariens. Schlußendlich faßte sie ihre Meinung zusammen: "All die Herren auf den Kanzeln wissen nicht, wovon sie reden. Und schlimmer noch: Sie wissen nicht, wie schlimm es um sie steht." Und in der Tat, schlußendlich hörte sie nur mehr „Radio Maria“. Sie ging auch nicht mehr in der Messe, Sonntags. In die Herz Jesu-Freitagabendmesse ja. (Was das ist, das wissen nur die allerwenigsten). Ansonsten spärlich.
Anna verinnerlichte. Und mit der Verinnerlichung, nach all den Krankheiten der Hüfte und den Knien, driftete sie wie ein gigangischer, schmelzender Eisblock, potentielle Dynamik, potentieller Widerstand, in eine Nebelzone. In dieser Nebelzone, nach Jahren, wurde sie epileptisch. Die Teufel und andere Mächte kehrten zurück. Es schüttelte sie. "Nehmt mich", rief sie am Frühstückstisch aus. Sie fiel nicht auf den Boden, doch es schüttelte sie, wie unter Stromstössen. Sie war in einem Kampf befangen, der dem, der dies mit ruhigem Blick betrachtete, Respekt abnötigte. Dieser Kampf schien übermenschlich. nicht unmenschlich. Annas Essenz kam zum Vorschein, wie ein zarter Glanz. Sie war die letzten drei Jahre hellsichtig.
Sie nahm von uns Abschied mit einem Gebet, einem Gebet, aus dem alle Vertrautheit mit dem Herrn, ihrem Beschützer, ihrer Hoffnung sprach. Ein langes, eingeübtes Gebet, spürbar geformt in nächtelangem Beten. Und sie driftete in dichten Nebel. Niemand vermochte ihr zu folgen, doch der Eisblock hatte einen Sender eingepflanzt, einen vom Himmel installierten Sender, und dieser piepste. Anna blieb sichtbar, bei Nebel und bei Nacht. Etwas sprach aus ihr. So formulierte sie einmal – es scheint mir, als wäre es vor langer Zeit gewesen – abends, in der Adventzeit, als sie bereits auf ihrem Wohnzimmersofa lag, ein vertrautes Bekenntnis. „Ja, der Glaube ist eine Gnade, ein Geschenk. Seien wir froh, daß wir es haben. Der Herrgott hat nie auf uns vergessen.“ Und dieses Bekenntnis, das sie im Bett neben ihrem Mann wiederholte, obwohl dieser es bereits kannte, dieses Bekenntnis brachte ihn zum Denken und ließ eine Entscheidung in ihm reifen, ob der er selbst verwundert war. Eine Entscheidung der Liebe, aus 58 Jahren Ehe. Wenn die Zeit, die "erfüllte Zeit", wie es im Neuen Testament heißt, übergeht in Ewigkeit. Oder, wie sie es auch einmal, im persönlichen Gespräch formulierte, "… wenn ich IHM mein Leben darbringen werde. Mein reiches Leben mit allen Gaben, die er mir mitgegeben hat. Mehr können wir nicht tun. Er hat mir die kinder gegeben und den Mann. Es scheint nur so, als wären wir Winzlinge. In Wahrheit sind wir seine Geschöpfe. Sein Sohn wurde Mensch. ER liebt uns wirklich. Wir können es nicht anders nennen." Anna, ein an Schätzen überreicher Exoplanet. Amen.
Die Erinnerung endet nie
Ein Bundesbahnbeamter, Fred Heigl. Er kauft seinem einzigen Sohn eine Märklin-Spielzeugeisenbahn, nagelt sie gemeinsam mit diesem auf eine Tischgroße Preßspannplatte. Der Sohn zeigt die fertige Anlage stolz und zugleich liebevoll seinem Nachbarknirps, der sprachlos mit großen Augen vor dem Wunderwerk verharrt. Eine Bahnanlage mit kleinem Dorf. Elegant drehen die Züge ihre Runden. Herbert spielt den Bahnhofslautsprecher. Der Schöpfer der Anlage, Fred Heigl, ein patenter Sanguiniker. Er liebt den Wein, ohne zu übertreiben. Ein patenter Nachbar. Seine Gattin lebenslustig wie er. Fred wird früh pensioniert, wie bei der Bundesbahn üblich. Er beginnt das Wursten, das ihm Spaß macht. Er fabriziert delikate Würste. Dann, eines Tages, seine Gattin kippt beim Fensterputzen von der Leiter, fällt unglücklich, bricht sich einen Wirbel. Querschnittlähmung. Rollstuhl. Sie hält es darin nicht aus. Früh stirbt sie. Fred gebrochen, doch nicht lebensmüde. Nach zwei Jahren Witwerschaft beginnt er erneut nach einer Frau zu suchen, doch keine will ihn. Er weiß nicht, warum. So dreht er alleine auf seinem Fahrrad die Runden im Dorf. Er verfließt den Keller seines alten Nachbarn. Dem ehemaligen Knirps erklärt er, worauf es beim Wursten ankommt. Dann entschwindet er, still, wie die meisten.
Sein Cousin aus der Nachbarschaft hatte exakt denselben Namen und war obendrein ebenfalls bei der Bahn, doch in einer anderen Stadt eingesetzt. Ein Kleinhäusler, bescheiden sein Leben lang. Er hat drei Töchter, Frauen mit starken Gefühlen, die es ihnen schwer fallen läßt, den richtigen zu finden. Der stämmige Cousin steht immer unter Volldampf. Er prägt sich den Kindern der Nachbarschaft ein durch sein ständiges Schwitzen und seinen roten Kopf. Ein Gutmütiger, der so wie seine Gattin Gesellschaft meidet. Es gibt etwas in ihm, das ihn und seine Gattin der Dorfgesellschaft entzieht. Man sieht ihn auch nie den Cousin besuchen. Die Kinder grüßt er immer liebevoll. Satte Baritonstimme. Er hat kein Auto. Seine Liebe gilt dem Hauskater. Abends ruft er ihn mit singender, schallender Stimme: "Murli! Muuurli!" Und Murli kommt immer, solange, bis er eines abends nicht mehr auftaucht. Das stimmt den armen Alfred tieftraurig, sosehr, daß er seinem Kater nachfolgt, nach einer Woche des Leidens an einem Herzinfarkt. Seine Gattin bleibt einsam im leeren Haus zurück. Ihre zweite Tochter, unbemannt, erbarmt sich ihrer und kehrt in das Haus zurück. Doch auch diese Mutter fällt beim Hausputz von der Leiter, und auch sie wird an den Rollstuhl gefesselt. Die Tochter, Ingrid, betreut die Leidende über Jahre hinweg, ohne je zu murren. Ein verschlossenes, ein verschwiegenes Haus in einer der ältesten Reihenhausssiedlungen des Dorfes, über dem immer der intensive Harzgeruch des für den Winter in der Gargage eingelagerten Kiefernfeuerholzes lag. Die alten Heigl fuhren nicht mit dem Auto – hatten auch gar kein Fahrzeug -, hatten jedoch eine Garage, die selbst die Tochter, sie, die Lehrerin, Autofahrerin, nie benutzte. Eine von vielen Seltsamkeiten, die dem Kind und dem verträumten Blick zurück hängenbleiben.
In dieser Siedlung ließen sich manche Nachbarn nur selten blicken. Ich erinnere mich, der erste, der starb, war der Polizist, ein Klarinettenspieler. Er übte fleißig. Er spielte bei der Polizeikapelle. Da er Polizist war, wie wir wußten, war ich immer vorbereitet, einem grimmig dreinblickenden Uniformierten mit der Waffe im Gürtelhalfter zu begegnen. Doch dem war nie der Fall. Nein, ich sah den Nachbar Rockenschaub nie in Uniform, weder in der Früh noch am Nachmittag, und nur ein oder zwei Mal privat, ein Charakterkopf. Ein wirklicher unvergeßlicher, fremdartig anmutender Charakterkopf mit ebensolcher Stimme. Ich sah ihn praktisch nie, doch wir hörten ihn. Er spielte immer bei offenem Fenster, vom Frühjahr bis in den Herbst. Er gab unser Siedlung Musik. Damals gab es noch Kindergeschrei auf den Strassen. Heute ist alles ausgestorben. Wie schade! Nachbar Rockenschaub starb über Nacht, für alle überraschend, selbst für meinen Vater, der alle Risikopatienten Tag und Nacht mit sich herumtrug. Rockenschaub ging und wurde mir, dem Kind, zum Geist. Bis heute sehe ich hinüber zu deren Haus und kann es nicht fassen, wie sich alles leert. All die Spielgefährten der Kindheit: Fort sind sie, und ich weiß nicht einmal, wohin.
Ja, in unserem Dorf gingen auch manche Junge früh, und wir alle waren fassungslos. Viele sogar aus dem Schwimmbad, die unsterblich geglaubten, mit denen wir allen unschuldigen Unfug getrieben hatten, jeder für sich ein Star. Der eine ein Star der verschmitzten Herzlichkeit. Der andere, Erwin Schmied, ein Star des Flirtens. Der andere, "Budding", ein schwergewichtiger Star des Trampolinfederns auf dem Drei-Meter-Brett.
Und selbst von Pommo habe ich nicht erfahren, ob er wirklich der Klaviervirtuose wurde, für den ihn seine Eltern vorgesehen hatten, ein Exzentriker mehr in unserer Riege. Er, der nach der einzigen Fußballpartie seines Lebens auf der versteckten Wehrinsel uns, den Verschworenen, der Clique aus dem Ortskern, aus heiterem Himmel mit fester Stimme bekannte: "Dies war das letzte Mal, daß mein Fuß einen Fußball berührte. Ich werde euch beweisen, daß ich es kann." Pommo mit seiner Schneckerlfrisur und den zartweißen Künstlerzügen im Gesicht, ein Duplikat von Christian Dauerböck, nur nicht auf der Orgel, sondern am Klavier. Ein Debussy-Kenner.
Wo sind sie nur hin, die Freunde, die unvergeßbaren? Der erblindete Hubert und Wickerl, der leider abgehauste Uhrmacher. Und auch der andere Uhrmacher, Hugo Höller, ging so schnell, mir scheint, als wäre es nur Monate nach dem letzten Knackwurstgrillen am sommerlichen Lagerfeuer gewesen. Hugo, der für mich jungen Spund immer nur ein Lächeln bereit hatte, nie eine finstere, besorgte Miene.
Der Ozean der Zeit, in den einzutauchen ich nie aufgeben werde. So wahr mir Gott helfe!
Abschied am Perron
1985. Ein Liebespaar nimmt am Flughafen unter Tränen Abschied. Sie fliegt zurück nach Norwegen, Oslo. Peter Patzak, der Regisseur, eilt an dem Paar vorbei. Es gibt ein Wiedersehen.
1990, Wien Westbahnhof, Samstag, 14.00 Uhr. Ein Herr betrachtet mit Genuß Savinelli-Pfeifen in der Auslage seines Lieblingspfeifengeschäftes in der Stadt. Ein auffällig attraktiver Mann, braungebrannt, geht an ihm vorbei, von weitem die großflächige Anzeigentafel musternd. Toni Sailer, die Skilegende.
Ein Herr hält in seinem Schlenderspaziergang durch seine Grätzelhauptstraße, Pozellangasse, Wien 9., Alsergrund, inne, als ihn kalter Hauch an einem verträumten Herbstvormittag anweht. Der Wind spielt mit dem braunen, frischgefallenen Laub. Es ist still wie in einem Traum. Nicht ein Auto fährt vorbei, und keine Straßenbahn der Linie "D". Ein offenkundig ortsfremder Herr schlendert im noblen Schweinsledermantel vom historischen Gebäude des ehemaligen K & K Polzeikommissariats der Rossauer-Lände hoch und kehrt in einer ebenso ortsfremd wirkenden Buschenschank am runden Hauseck ein, als hätte er alle Zeit der Welt, der Mann aus Sankt Anton am Arlberg, die lebendige Skilegende, der in der Kindheit angehimmelte Karl Schranz, der Erfinder der Schranz-Hocke, das staatsweite Opfer des Avery Brundage bei der Winterolympiade 1968 in Grenoble.
2009. Ein fünfjähriges Kind nimmt von seinem 78-jährigen Großvater am Perron des Eisenbahnknotenpunktes Anbschied, als ein Hochgeschwindigkeitszug – nur die Oberleitung flirrt in hohen Tönen – beinahe geräuschlos heranzischt und donnernd in 10 Metern Entfernung vorbeirast. Dem Kind stockt der Atem. In einer unreflektierten Geste der Reaktion streckt es die Unterarme in ungekannter Ekstase nach vor, als der Nachwind mit Macht über es hinwegrauscht. Das Kind lacht. Ein Foto für die Ewigkeit.
2012. Zwei Freunde nehmen Abschied von einem dritten. Sie rüsten für das Requiem. Der rotarische Freund, ein Tierarzt, ist gegangen. "War er euer Freund?", fragt ein Herr, der gerade die Kellerstiege hochkommt. "Ja, das war er", kommt es zurück, und sie gehen hinaus auf den Vorbau, denn draußen wartet bereits der Chauffeur der beiden alten Herren, jener selbst ebenso Mitglied des Nobelklubs.
Neben diesem Mann, Dr.Kurt Ferdiny, gab es noch eine Reihe weiterer Rotarier, die in unspektakulärer Weise das Zeitliche segneten und so scheinbar geräusch- und ankündigungslos entschwanden, wie Herbert Pfahnl, der Besitzer der Mühle im Aisttal, ein stattlicher "Riegel", scheinbar unverwüstlich, doch mit einem durch und durch weichen Gesicht. Kettenraucher. Lungenkrebs. "Vater, warum hat Pfahnl wie ein Verrückter geraucht, sodaß es ihm, was er doch wissen mußte, schlußendlich das Leben kostete?" "Er hielt den Lebenskampf nicht aus. Derer gibt es viele. Männer, denen man es, im Unterschied zu Herbert, nicht ansieht."
Franz Peterseil hatte den mächtigsten Schädel, den ich je gesehen haben. Der Steuerberater. Auch er rauchte und er trank Cognac. Eines Tages war er nicht mehr da. Und, um ihn nicht zu vergessen, der Architekt meines Elternhauses, an den ich in beinahe jeder Ayahuasca-Zeremonie denken muß, Othmar Slatkovsky, der Meister der geraden Striche. Er hatte stets einen Architektenstift und seinen Notizblock eingesteckt. Man konnte beobachten, wie sich vor seinem Auge im Nu Strukturen formten, die er in wenigen Zügen aufs Papier bannte. Die geraden Zeichenstriche des Othmar Slatkovsky, mittels derer er seine graphischen Inspirationen bannte.
Mögen sie ruhen in Frieden, sie alle.
Fernzüge, Lastzüge
Wir haben keine Ahnung, wieviele Engel uns im Leben begegnen. Engel, die uns, ohne daß wir es merken, das Leben retten, oder es in bessere Bahnen lenken. Manchmal prüfen sie uns, anhand von Lektionen, die uns ein Leben lang in Erinnerung bleiben. Manchmal bleiben sie lange Zeit unerkannt, solange, bis die Verrücktheit, der Hochmut nachlassen, solange, bis wir uns zu fragen beginnen, „Was ist da eigentlich in meinem Leben passiert?“. Wenn die Blasiertheit und der Größenwahn nachlassen und wir zu ahnen beginnen, daß unser Leben eines schönen Tages plötzlich enden könnte, ja sogar ohne Vorwarnung. Wenn uns ein Engel leise eine Frag stellt und diese unablässig wiederholt: „Willst Du nur dich selbst würdigen?“ Schon lange ahne ich, daß die sogenannten „kleinen Leute“ mir immer wieder, und so auch in der Vergangenheit, ein Geheimnis zutragen. Ich habe mich immer den kleinen Leuten zugetan gefühlt; dieses Bei-ihnen-am-Boden-schlafen-Können; diese einfachen Toiletten, die sie benutzen; diese einfachen Speisen; diese einfachen Küchentische; diese einfachen Berufe; diese einfache Gastfreundschaft. Diese einfache Lächeln.
Als ich klein war, hatten wir eine Hilfskraft, die die Ordination putzte. Wie meine Mutter sie aufgabeln konnte, war bereits ein kleines Wunder, denn Philomena Strasser wohnte direkt im ÖBB-Bau des Bahnhofes, und das ÖBB-Personal wählte ob all der Privilegien, die ihm die sozialistische Alleinregierung unter Bruno Kresiky zubilligte, natürlich „rot“, wohingegen meine Eltern als konservativ galten. Doch aus irgend einem Grund hatte Philomena ausgerechnet meinen Vater zu ihrem kranken Gatten bestellt, und die beiden blieben zeitlebens seine Patienten. Philomena ließ anfragen, ob sie eine Putzkraft benötigten, dem war so, und so kam „Meinerl“ putzen, eine dünne, nicht unfreundliche, leicht gebeugt gehende Frau, die sich bestens mit meiner Mutter verstand. Ich meine, sie verstand sich nie mehr mit einer Frau so gut wie mit „Meinerl“, wie sie sie salopp nannte, ohne daß ich eine Ahnung gewinnen hätte können, von welchem Namen dieser Name abstammen könnte. „Philomena“, jene, die die Stärke sucht. Philomena war charakterstark. Für sie war das Putzen eine Ehrensache. Meine Mutter vertraute sich ihr an. Stundenlang hörte ich sie nebenan tratschen, während ich über meinen Hausaufgaben hing, die mir zeitweise Kopfzerbrechen bescherten. Das Einvernehmen der beiden Frauen, das in den stillen Räumlichkeiten sein Echo fand, war beeindruckend. Es fand beim Abschiedskaffee mit Torte seine Fortsetzung. Eines Tages lud mich Meinerl zu sich ein. Sie hatte zwei Söhne, Alex, den älteren, und Wolfgang. Alex bescherte ihr Kopfzerbrechen, soviel hatte ich mitbekommen. Beide waren älter als ich, etwa um drei und fünf Jahre. Wolfgang hatte eine faszinierende Sammlung von funktionstüchtigen Miniaturlastwägen, sogar mit Türen und Laderampe, die mich in ihren Bann schlug. Er schien es zu genießen, der Besitzer eine dermaßen stattlichen Flotte zu sein, doch da kam Alex bei der Tür herein, ein Bursch von 14, schwergewichtig, untersetzt, der sich unverhohlen vor mir ein Zigarette anzündete. Er war offenkundig der Vorbesitzer der rollenden Landstraße, denn er offerierte mir generös einen Zug nach eigenem Geschmack. „Such dir einen aus, der dir gefällt“, meinte er heiser nuschelnd. Wolfgang, dem dieser Vorschlag nicht gefiel, fiel er, als dieser aufmucken wollte, grob ins Wort: „Halt’s Maul! Ich hab’s so gesagt!“ Mich fröstelte. Ich kam mir wegen meines Begehrens schuldig vor, weshalb ich den Zug, den ich bereits ausgesucht hatte, dem traurig deprimierten Wolfgang zurückgab, als der „Chef“ das Wohnzimmer bereits wieder verlassen hatte. Die Stimmung war gedrückt, denn Alex rügte in der Küche seine Mutter, es war unüberhörbar. Er war in der Abwesenheit seines Vaters derjenige, der das Sagen hatte. Meinerl weinte. Alex verläßt wütend die Wohnung, und ich suche nach einem Vorwand, mich ebenfalls empfehlen zu dürfen. Und im Abgang stecke ich den angerochenen Zug in die Jackentasche, ich erinnere mich genau. Der zweite Diebstahl meines Lebens. Noch immer erinnere ich mich des Kloßes in der Magengrube. Zuhause ließ ich ihn stehen. Nach zwei Tagen war das Schuldgefühl übergroß und ich gab ihn Meinerl zurück. Sie blickte mir kurz in die Augen und verstand alles. „Behalt ihn! Alex hat ihn dir zugesagt!“ „Nein, Meinerl, dem Wolfgang tut es weh, und ich hab ihm den Zug bereits zurückgegeben.“ Und schlußendlich machte sie mir den Gefallen und packte ihn wieder ein, den Lastzug, der unberührt zwei Tage in der Sandgrube gestanden hatte. Und ich ging auch nie mehr in diesen Block direkt am Bahnhof, dieser Bau, der bis heute steht, unverwüstlich. Die ÖBB besitzt viele Wohnbauten entlang ihres Streckennetzes, erst recht in den Bahnhöfen.
Der Strasser-Vater, ein Smart-Export-Raucher, starb bald. Er war immer ein Problempatient. Meinerl hatte allen Grund zum Bangen. Er starb am rauchbedingten Herzinfarkt, an einem dienstfreien, sonnigen Nachmittag, zuhause, ohne Vorwarnung. Von dort weg kam Meinerl nicht mehr putzen. Ich sah sie zwei Mal am Bahnhof, zufällig, gottgewollt, gerade, wie sie aus der Tür kommt. Das war etwa fünf Jahre später. Alex muß damals schon zwanzig gewesen sein, vielleicht 22. Ich sah die leidgeprüfte Frau, die einsam in ihrer Wohnung hauste. Beide Söhne waren fort. Von Alex kursierte das Wort, er „sandle“ in Linz herum, ein Trinker. Und dem war so. Eine unvergeßliche gespenstische Begegnung eines Nachmittags gegen halb Fünf im Spätherbst am rauch- und bierdunstgeschwängerten Linzer Bahnhof mit seiner matten orangenen Beleuchtung, an einem der Heizkörper neben der „Bahnhofsresti“, an den Fotoanzeigen des Phönix-Kinos, dort, wo alle Pennbrüder herumzulungern pflegten, ja, dort lehnte Alex. Die rote Nase lief ihm. Er erkannte mich sofort: „Ah, der Woifferl, scheen, daß i di do trief. Wos treibst de gaunze Zeit?“ Ich fühle mich düpiert, obwohl er ganz und gar nicht lallt. „Alex, magst nicht heimkommen zu deiner Mutter? Die Arme verzweifelt wegen dir!“ „Nein, das werd‘ ich nicht schaffen. Und außerdem, ich bin sowieso nicht mehr lange hier.“ „Sag‘ sowas nicht, Alex.“ „Doch, Woiffi, ich spür’s. Brauchst ka Angst haben um mich. Aber i werd‘ net alt.“ „Alex!“ „Brauchst ka Angst haben um mi, Woifferl. Woa scheen, di nu amol g‘sen z’hom.“ Aus dem Nichts treten mir Tränen in die Augen und ich flüchte von ihm. Ich spürte seinen traurigen Blick im Nacken. Noch im Zug hielt es mir die Kehle zugeschnürt und nur langsam wollten die Tränen trocknen. Ich gab mich der Hoffnung hin, er habe nur so geredet.
Ein Jahr später traf ich Meinerl wieder, sie kam zur Mutter zum Abschiedskaffee. „Meinerl, was ist mit Alex?“ Meinerl sieht mich traurig, doch gefaßt an, direkt. „Ja, Woiffi, mein Mann und der Alex waren eng verbunden. Der Alex hat nie verwunden, daß sein Papa so schnell weg war. Jetzt ist er ihm nachg’folgt. Hirnschlag, am Linzer Bahnhof. Ein Sekundentod. Hoffentlich tut es der Wolf seinem Bruder nicht nach."
Amen. Gott ist groß.
Music is in the air, music of devotion
Sie begegnet mir nächtens, in Ayahuasca, doch mehr noch in stillen Momenten, bei Tag, und es ist nicht selbstverständlich, eine Würdigung ihrer einfach ohne zu zaudern loszuschreiben. Sie steht so ziemlich am Anfang meines Lebens, in zweifacher Hinsicht. Sie gebar mich geistig, denn sie ist meine Taufpatin, aus einem Moment, als ich bereits in trockenen Windeln lag und mit dem Tod nicht mehr kämpfte. Ihr Gatte Anton war der Trauzeuge meiner Mutter. So war wohl der Gedanke nicht weit, das erste Kind dieser Verehelichung als Schwester zu taufen, denn diese Taufpatin, Cäcilia Auer, heute 85, hatte zeit ihres Lebens fürwahr ein großes Herz. Sie, die Geschwister, die Mädchen, waren ein Herz und eine Seele. Von den Brüdern überlebte keiner. Der letzte, Karl, starb zu Heiligabend 1963, Leukämie, und hinterließ neun Kinder. Die beiden anderen Brüder hatten bereits frühzeitig das Zeitliche gesegnet, der eine kurz nach der Geburt, im ersten Lebensjahr, der andere mit neun. So waren die Zeiten früher. Selbst die Kinder kamen und gingen.
Sie waren ihrer fünf. Fünf Schwestern, Töchter eines Bauern am Donauufer, im niederösterreichischen Enns-Donau-Winkel. Die Mädchen wuchsen am Strom auf, unter einfachsten, doch wohlgeordneten Verhältnissen. Das Wohlgeordnete war der Glaube, der Gerechtigkeitssinn, das Pflichtgefühl. Das Pflichtgefühl für die Arbeit, denn es war nur mehr ein Bruder da, Karl, er, der auch den Rußlandfeldzug überleben sollte. Und von Rußland wußte man damals nichts, außer, daß es den Tod bedeutete, so wie es für Napoleon den Tod bedeutet hatte. Die Mädchen arbeiteten auf den Feldern, tagein, tagaus, gleich nach der Schule. Zu Fuß gingen sie in die Kirche, zu Fuß in die Schule. Sie absolvierten die Pflichtschule und kehrten auf den Hof zurück. An mehr war nicht zu denken bei diesen ärmlichen Verhältnissen. Die Geschwister lebten ohne Ansprüche, ärmlich, doch nicht traurig. Sie lachten und sie sangen bei der Arbeit. So saßen sie beisammen. So zog das Jahr seinen Lauf. So kamen die Jahreszeiten und wechselten einander ab.
Cäcilia war die dritte im Bunde, geboren 1929. Sie hatte eine Glockenstimme und war die musikalischste. Der Pfarrer bot ihr das Orgellernen an, und sie willigte ohne Zögern ein, obgleich es eine zusätzliche Aufgabe bedeutete. Cäcilia lebte immer wohlgeordnet. Immer. So erlernte sie das Orgeln und spielte lange Zeit auf der Dorforgel. Jahrzehnte. Und dazu sang sie, glockenhell. Ich erinnere mich, bei meiner Erstkommunion in unserer Pfarre, ihrer Nachbarspfarre, wurde sie auf Betreiben meines Vaters eingeladen, zu orgeln. Es gab einen stillen Moment, eben jenen der Kommunion, da hob sie mit dem "Ave Maria" an, solo, eine stille Tastenbegleitung. Es hallte im Kirchenschiff. Ich blickte mich um: die meisten Frauen weinten. Es war das einzige Mal, daß sie bei uns in Langenhart auftrat. Wie ein Engel, der eine Kirche weiht. Ja, so war es. Von oben, von der Empore, hallte es durch das gesamte Schiff, ein reines, makelloses Timbre, ohne die geringste Verunreinigung.
Sie hatte vier Töchter, Cäcilia, Lisbeth, Veronika und Anna. Das jüngste Kind benannt nach ihrer jüngeren Schwester. Das Kind starb an Keuchhusten im ersten Jahr und hätte mich, den Säugling, um ein Haar mitgerissen. Nur ein Besuch genügte, um von diesem Feld des Todes berührt zu werden. Ich war immer gern unten, in Albing an der Donau, auf dieser weiten Ebene, die den Blick öffnete. Ein gelbes Haus allein auf weiter Flur, nur nebenan, im deutlichen Abstand, der von Nußbäumen umgebene Hof ihrer ältesten Schwester Theresia, Theresa, die leidenschaftliche, die dem Großbauern und kinderlos gebliebenen Witwer Huemer zur Gattin gegeben worden war. Cilli hingegen hatte ihr Ja-Wort einem Abkömmling des Dorfschmiedes Auer geschenkt, Anton, dem kritischen Geist, der als deklarierter Katholik im tiefroten Steyr als Maschineur arbeitete und den sie wegen seines Gerechtigkeitssinnes und seiner nicht zu überbietenden Zivilcourage sogar zum Vertrauensobmann vorschlugen. Ich erinnere mich gern an den Toni, der jetzt, vor zwei Jahren, nach langer Bettlägrigkeit mit 90 verblich. Bis zuletzt war er klar im Geiste. Der Toni lebte zeitlebens einfach, er fuhr einen Steyr-Puch zu Sonderkonditionen, ein kleines Auto, und es blieb zeitlebens sein einziges. Sie hatten ein niedliches Giebelhaus, gelb gestrichen, mit einem Rosenvorgarten. Hinten ein Mostäpfelbaumgarten, ein Heustadel und ein Ziegenstall. Ja, die Auers hielten sich Ziegen, maximal vier, und für die Ziegen hatten sie Futter eingelagert. Und im Heu brüteten die Hühner. So hatte sie Eier und Ziegenmilch zur Hand. Bei unseren Besuchen gab es immer Speck, und ansonsten das Bestaunen der Ziegen und des abgründig dunklen, geruchsgeschwängerten Aborts neben dem Ziegenstall, der einzige Original-Abort meines Lebens, auf den ich dann, nach Jahrzehnten, auf einem anderen Kontinent, in anderer Umgebung, wieder zurückkommen sollte.
In dem niedlichen Haus war alles wohlgeordnet. Es gab eine Besonderheit: Ich war nie oben in den Mädchenzimmern. Nie. Bis heute könnte ich nicht sagen, wie es oben ausgesehen hat. Neben dem Wohnzimmerchen war das Schlafzimmer, unbeheizt. Im ganzen Haus gab es nur zwei Feuerstellen: den Küchenherd und einen Kanonenofen im Bad. Der Küchenherd befeuerte das Wohnzimmer und die Zimmer oben unter dem Giebel. Das Schlafzimmer war heilig. Ein breites, in Dunkelblau gehaltenes Gemälde, Christus am Ölberg. Ein stattliches Gemälde, das sie all die Jahre über nie auswechselten. Ich glaube, die Cilli schläft noch heute unter ihm, im leeren Ehebett.
Sie verabschiedete sich heute im Mai von mir, ohne viel Worte, sozusagen vorbeugend. "Auch ich kann jeden Tag gehen, wir beide wissen es. Dann folge ich dem Toni nach. Jetzt, wo wir hier im Haus meiner zweiten Schwester Maria, die als erste von uns gegangen ist, weil sie herzkrank war, zusammenstehen, Du weißt es und ich weiß es." Und ich verstand die Cilli, als spräche sie in Gedanken mit mir, so wie es immer war. Und der Vater, ihr Schwager, der hochbetagte, hatte diesen Moment mitbekommen und durfte ihn kommentieren: "Kein mitfühlenderer Mensch ist mir bekannt als die Cilli. Keiner, der mehr am Leben eines anderen Anteil nimmt. So war sie immer."
Rosina, die Wiederauferstandene
Was macht einen Menschen schwierig, wie wir uns ausdrücken? Was heißt das, ein „schwieriger“ Mensch zu sein? Es ist Zeit, Rosina zu würdigen, heute. Eine bemerkenswerte Person. Was sprach sie, zeit ihres Lebens?
„Von mir hat man nie gesprochen. Erst als alle erkannten, ich würde zuhause sitzen bleiben, begannen sie, mit mir zu sprechen, oder besser, von mir zu sprechen. Kein Mann, der auf mich spitzte, hielt es länger bei mir aus. Ich habe nämlich Haare auf den Zähnen (lächelt). Ich habe bei einem Mann nichts verloren und er nicht bei mir. Und heute? Wer will mich denn schon heute, mich altes Schrapnell? Ich habe braune Zähne, auch wenn ich nie geraucht habe. Was Blöderes käme mir nicht in den Sinn. Keiner von uns hat geraucht. Das kam uns nicht einmal in den Sinn. Der Vater nicht einmal Virginia. Aber Wein und Most getrunken hat er, mit Appetit. Ich bin am Haus sitzen geblieben und hab‘ so die Mutter pflegen dürfen. Sie kam nicht mehr hoch und hat mich nicht mehr wiedererkannt. Gekratzt und bespuckt hat sie mich in ihren letzten Wochen. Heute liege ich im Elternschlafzimmer, direkt neben der Stube. Den Vater haben drei Herzinfarkte hinweggerafft, acht Jahre vor ihr. Der Speck und der Most.
Meiner Mutter habe ich nichts recht machen können, aber ihr über den Mund fahren wollte ich auch nicht. Der Vater hätte es auch nicht verkraftet. Ich habe Kräfte. Willst du meine Muskeln sehen? Der Vater weiß, ich habe es ihm nie verziehen, daß er eine andere hatte und, frech wie er ist, sogar zu ihr stand. Aber er hat keine Kinder mit ihr, Gott bewahre! Er war ein solcher Lackel, daß ihm die Vorhaltungen und Tränen der Mutter nichts ausmachten, aber mir ging es gegen den Strich. Einmal bin ich ihm mit dem Fahrrad nachgefahren, nach St.Valentin. Ich wußte, er sitzt beim Bahnhof. Grad‘ wie er wieder wegfahren wollte, kam ich an. Ich mußte ihn schimpfen, mitten auf der Straße. Das hat ihm weh getan, ich hab’s ihm angesehen, aber es mußte sein. Was glaubt er denn? Die Mannsbilder, wenn sie Ruhm erlangen, glauben, sich alles erlauben zu dürfen. Er als Bürgermeister! Ist es nicht eine Schande? Er hat es mir nicht verziehen, aber trotzdem hat er es auch eingesehen. Und außerdem war er mir dankbar, daß ich den Hof nicht verlottern habe lassen, denn er wußte, er würde vor der Mutter sterben. Und was dann? Was mit der armen Mutter? Es verstand sich von selbst, daß ich sie betreuen würde, auch wenn sie mir gram war. Sie hat mir immer nachgesagt, ich wäre bissig, aber sie hat sich nie selbst gehört. Sie hat ihren Biß hinter ihrem Gram versteckt. Alle haben sie bemitleidet, weil sie ein Waisenkind war, doch ich, die ich mit ihr lebte, habe sie auch anders erlebt, und wie anders!
Ich war die Taufpatin von drei Kindern meiner jüngsten Schwester. Bei der Poldl hab ich es immer ausgehalten, solange, bis ich einmal im Schlafzimmer etwas entdeckt habe, was nicht sein durfte. Da bin ich stante pede ausgeburrt. Dann haben mich keine zehn Pferde mehr hinüber gebracht nach Grein. Ich hab mir den Hansl geholt, ihren ältesten, den, der nie Eltern hatte. Er lebt bis heute bei mir und wir vertragen uns friedlich. Er kutschiert mich überall hin, wo ich hin muß, wenn er aus der Schicht ist.
Ich war in der Irrenanstalt, in Mauer-Öhling. Nie, mein Lebtag lang, hätte ich geglaubt, daß ich einmal dort landen würde. Ich weiß nicht, warum sie mich dorthin eingeliefert haben. Sie haben mich schlecht behandelt und mir weh getan. Sie haben mir eine Kappe auf den Kopf gestülpt und den Strom eingeschaltet. Jaromir, ich sage dir, hat nicht viel gefehlt, und ich wär abgekratzt, oder schlimmer, ich wäre wirklich verrückt geworden. Zum Glück hab ich dem Karl leid getan und er hat mich rausgeholt. Die Ärzte, diese Hundlinge, diese Unmenschen, haben mich gefragt, geht es Ihnen jetzt wieder besser, Frau Rosina? Natürlich habe ich genickt und „Ja“ gesagt. Ich wußte, wenn ich nicht pariere, behalten sie mich noch länger dort. Wer weiß, für wie lange.
Ich habe den Führerschein geschafft, ich habe für ihn gespart. Jetzt, wo der Vater tot ist und sein Auto leer herum steht. Beim fünften Mal. Ich habe das Bußgeld bezahlt, wie es sich gehört. Der Amtsarzt hat mir ein Zeugnis ausgestellt: Ich bin nicht blöd. Ich habe mit meinem Neffen gelernt. Zum Glück ist genau das gekommen, was wir grade vorher noch glernt hatten. Alle Kreuzungen. Wie’s der Teufel so will. Und jetzt fahre ich hin, wo ich hinfahren will, bis heute ohne Unfall. Bitte, wer kann von sich behaupten, daß er sein Lebtag lang unfallfrei gefahren ist? Auch die Studierten bauen Unfälle, ist es nicht so? (Durchdringender Blick).
Heute bin ich 81, klar im Kopf und rüstig auf den Beinen. Alles funktioniert. Ich steige immer noch die Leiter hoch zu den paar Hühnernestern. Ich kenn‘ den Hof von A bis Z. Ich habe mit der Sense das Moos aus dem Mostbach geholt, und ich hab‘ die Katzenjungen an der Wand erschlagen. Keiner wollte es machen, auch nicht der Vater und nicht die Brüder. Die Rosl soll’s machen, haben sie alle gesagt, die ist hart genug.
Ich geh seit meiner Jugend auf jedes Begräbnis. Ich weiß, wo alle liegen. Daß ich einmal bei meinen Eltern liegen werde, ist mir piepegal, daß ich sie aber drüben wiedersehen werde, das nicht. Ich habe nicht den geringsten Zweifel. Dann sind wir wieder beisammen und das Leiden hat ein End‘."
Nachtrag 17.10., aufgehende Erinnerung:
"Ich war immer zuhause, habe auf den Wiesen gearbeitet, zu allen Jahreszeiten, außer im Winter. Da sitzst du hinterm Ofen und tust Wollsachen stopfen. Ich habe alle möglichen Tiere bei mir gehabt: Der Igel hat meine Milch getrunken und hat sich von den Katzen nicht stören lassen. Die Rehe haben die Mostäpfel gefressen direkt vor der Haustüre. Störche habe ich gehabt, einer hat sogar einmal bei uns gebrütet. Der Fuchs, der freche, ging immer an der Angerschnur, oben am Kamm. Mit ihm hab‘ ich mir viele Kämpfe geliefert. Ich wußte, wie sehr die Mutter der Verlust einer einzigen Henne schmerzt. G’wehr haben wir nie gehabt, so bin ich mit der Sense Wache gestanden. Schlangen haben wir auch genug gehabt, die haben im Winter im Heu überwintert. Schlangen tun dir nichts. Nicht die bei uns. Eine Krot hast du in jedem Winkel gefunden, klar, bei der Nähe zum Mostbach. Aber der seltsamste war der Kaulquapp, der ausgewachsene, der, der keine Krot werden wollte. Ich lüg‘ dich nicht an, Jaromir, dieser Quapp sitzt unter der Milchpitsche, auf dem Stein, im Wasser. Und keiner konnte mir je erklären, wie er dort hinkommt. Ich hab‘ gewußt, ich heb die Milchkann‘ hoch, drunter wird er sitzen. Und er saß immer drunter. Als wenn er die Milch durch die Kann hindurch trinken könnte. Aber zu was braucht ein Kopp eine Milch? Oder willst du mir sagen, jede Kreatur braucht Milch?"
Fischreiher hatten wir zuletzt auch, und nicht nur einen. Der Iltis geht auch auf Eier und Buserl, der Marder sowieso. Falk und Sperber auch, und einmal war’s ein Adler, Jaromir, ich schwör’s dir. Der Karl hat mir nicht geglaubt, eingebildet wie er ist. Aber ich hab‘ ihm gesagt, Karl, so ein großes Vieh, das kann nur ein Steinadler sein, und was ein Geier ist, das braucht er mir nicht verzählen. Der Greif war’s, natürlich. Er hat mir halt einen Besuch abstatten wollen, wußte er doch, daß ich ledig bin."(Lächelt kokett verschmitzt).