Juengst besuchte mich ein Freund aus alten Tagen, postalisch, ein Freund, dessen Auftreten in Art, Ort und Zeit immer schon ominoes war. Ein guter Mensch, ein alter Kampfgefaehrte. Er lebt und unterrichtet jetzt in Schweden. Zur damaligen, unvergesslichen Zeit hatte er ein gewisses Faible fuer Latein und darueber hinaus fuer unverstandene Leidenschaften. Dass er mir an einem grauen Wintertag an der Pestsaeule am Wiener Graben ueber den Weg lief, war bezeichnend, doch noch bedeutungsschwangerer war die Frau, die damals an meiner Seite ging, kraftdurchtraenkt, und die ihn spaeter alleine wieder traf, wieder am Graben, wieder ohne Vorwarnung.

Der gute Freund also schrieb mir eine inhaltsreiche Karte und wir tauschten kurz Reminiszenzen aus. Und so fuegte er den besagten Spruch an, den lateinischen, den wir gegen Ende hin von unserem leibhaftigen Herausforderer, dem, dem das Leben das Knie zerschossen hatte und der sich zeitweise in Schmerzen wand, zu hoeren bekamen. "De mortuis nil nisi bene". Heute ist es ein Vermaechtnis. Aber der Mann war schon zum Vermaechtnis geworden, als er aus dem Staatsdienst ausschied und in Pension ging, eine Lichtgestalt, die erstrahlte, als die Faust, die ihr zeitlebens im Nacken gesessen hatte, von ihr wich. Der Mann strahlte auf wie ein Heiliger. Damals hatte er die 70 uerberschritten und lebte dann nochmal 10 Jahre. Er sagte es so zwischendurch, denn er hatte das bemerkenswerte Geschick, uns, den Schlotterhasen, zwischen mathematischen Lektionen auch sein Verstaendnis vom Leben beizubringen. Er hatte noch andere Atouts im Aermel, beispielsweise, Physik ohne jedes Experiment zu unterrichten, obwohl er im Apparatesaal der Physik gewissermassen hauste. Damit nahm er sich wohl ein Beispiel an seinem Kollegen, dem nie ein Experiment gelingen sollte. Deshalb war es theoretische Physik, was aus seinem Munde kam, aber es war durchaus gedankenanregend. Er haette es sich niemals einfallen lassen, einem jungen Spund wie Gerhard Utri, einem 12-Jaehrigen, fuer den Licht schon damals elektromagnetische Wellen waren, zu antworten: "Nein, was Licht ist, wissen wir nicht, schreibt also: Licht … Fragezeichen." Nein, Theodor Preu war es vorbehalten, zur Lichtgestalt zu werden, und ich danke ihm nachtraeglich fuer alles.

Aber das Thema ist der Satz, denn ueber einen solchen Spruch des Ovid kann man sich nicht einfach hinwegsetzen. Ein Satz, den auch unsere europaeische Gesellschaft diskutiert, jede Familie. Wie gehen wir mit dem Gedaechtnis an unsere Toten um? Das ist eine zentrale Frage, denn sie beruehrt wunde Punkte. Bei dieser Frage spueren wir unweigerlich einen kalten Windhauch, selbst mitten im Hochsommer im Wald, und erst recht an einem nebeligen Jaennernachmittag. Denn wir wissen, wie wir ueber die Menschen reden, zu Lebzeiten, und wie dieses suendhafte Spiel dann ein Ende nimmt. Dieses Spiel des "Ausrichtens" – und es ist, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, ein gegenseitiges Ausrichten – hat einmal ein Ende. Einer scheidet aus, als erster. Die Ehehoelle hat ein Ende, die Folter hat ein Ende, das Martyrium. Was macht der Zurueckbleibende mit dem blutigen Skalpell in den Haenden? Mit welchem Gesichtsausdruck waescht er es? Meist werfen sie die blutigen Kuechenmesser weg. Sie zu waschen, unter dem Hahn, uebersteigt ihre Kraefte. Und in der folgenden Nacht beginnt der Tote zu reden. So beginnt der Wahnsinn sich einzugraben.

Irgendwann sterben auch wir. Haben wir Interesse an einer guten Nachrede? Die Verwandten haben es zumeist. "Verunglimpft uns nicht unseren Toten! Er war ein guter Mensch, ihr habt es nur nicht gesehen!" Doch schlechte Nachrede an einem Toten wird nicht geahndet. Es koennte makaber werden, triebe man die Dinge vor Gericht zu weit. Doch die oeffentliche schlechte Nachrede, die verfolgen manche Politiker, die um die Wahrheit, vor allem die christliche, einen Bogen machen, dafuer systematisch mittels angeheuerter Bluthunde bis zur Existenzbedrohung. Zu Lebzeiten. Spaeter dann, eines Tages, hat das Volk sie aus dem Gedaechtnis getilgt, und sie werden zu Geschichte, zur Zeitgeschichte. Aber die Zeitgeschichte hat de facto schon laengst aufgehoert. Ein absurdes Schulfach: Geschichte, Geschichte anstelle von moderner Zeitgeschichte. Denn moderne Zeitgeschichte waere alles: Soziologie, Anthropologie, Oekonomie, Philosophie, Religion, alles. Moderne Zeitgeschichte muesste zu einem unweigerlichen Schuldbekenntnis geraten. Doch das ist den Schuelern, so sagt es das Politcredo pragmatisch, nicht zumutbar. Deshalb lehrten nicht wenige Staatsbeamten der alten Garde der naechsten Generation Zeitgeschichte mittels des eigenen Lebens. Mittels Schreien, Geifer und strafendem Blick. Aber einmal hat alles ein Ende und fuer viele wird es absurd, ob eingestanden oder nur erlitten. Eine Absurditaet, die den Griff zum Revolver erlaubt oder, noch absurder, die Knotung des Strickes und das Hinaufklettern zum Dachboden.

Ist es nicht zum Staunen, sich zu fragen, wie Stalin vom Theologiestudenten zum paranoiden Massenmoerder werden konnte,- ein Mann, der die halbe Sowjetunion ausrottete?

Ist es nicht zum Staunen, sich zu fragen, wie ein verschreckter, getretener und ausgestossener Knabe aus einem Koehlergehoeft, einer, der Kunstmaler werden wollte, dermassen Rache nehmen und ganze Voelker systematisch in den Untergang fuehren und dabei auch noch eine neutestamentliche Rundumrache bis zum letzten moeglichen Augenblick vom Zaum treten konnte? Einer, der sich in der Reichskanzlei unter die ueber ihm stehenden Berliner Schauspielerinnen legte und sich von ihnen besudeln liess? Einer, der die Filmvorfuehrung der an Schlachterhaken baumelnden, zuckenden, roechelnden und ihr Leben aushauchenden Konspiratoren des 14.Juli geniessen wollte, aus einer inneren Furie sondergleichen? Freilich, heute sagen sie, ihr muesst auch die guten Seiten an ihm sehen. Er hat uns Arbeit gebracht und schliesslich auch die Autobahn gebaut. Das sagen sie eine Zeit lang, dann ist auch der letzte Zeitzeuge gestorben, bis 2035. Aber was habe ich mit ihm, dem Braunauer? Der Daemon, der damals in ihm war, er ist fort. Aber sein Beispiel lebt. Wohl das ist es, was wir, die Veraengstigten, nach und nach realisieren. Das Monstrum ist tot. Pinochet ist tot. Aber zum Katafalk des aufgebahrten Stalin stroemten Millionen, es kam zu einer Panik und Tausende wurden zertreten. Dann, wenn er unter der Erde liegt, dauert der Schrecken immer noch an. Wird er nicht wieder auferstehen? Er hat es uns doch versprochen! Er wird Rache nehmen, grummelte er noch, alle offenen Rechnungen begleichen. Freut euch nicht, dass ich unter der Erde liege, so sagte er doch, noch am Totenbett, ich werde wiederkommen. Ihr werdet von mir keine Ruhe haben!

Die Unrast der Toten. Darum das systematische Verbrennen in Indien. Das den-Geiern-zum-Frass-Vorsetzen in Tibet. Dieses kleine Restrisiko wollen wir minimieren. Ja, die Untoten sind ein Thema, denn die Masse der unschuldig und ahnungslos in den Tod Befoerderten nimmt mit jedem Tag zu. Das ist mit ein Grund fuer die Rundum-Paranoia der USA. Die "Tunshis" aus dem Irak koennten in den USA einfallen, und gegen die gibt es keinen Schutz. Diese Geister wird keiner so schnell los. Der Geist der unschuldig Getoeteten.

Es gibt noch andere Tote. Die Foeten. Der Gedanke ist quaelend. Denn das Bewusstsein ist nicht zerstoerbar. Es geht nur wieder fort. Aber beobachtet es uns nicht von ferne? Zieht es uns nicht an? Wie sich befreien von dieser Schuld, wenn nicht durch die Beichte und Reue auf Knien?

Wie mit einem Toten reden? Wohl ist es nicht noetig. Nur auf ihn hoeren! Was kann ich dem Toten schon sagen? Nichts ausser Dank. Mehr nicht. Aber auf ihn hoeren, das ja! Wir sind Glieder des Leibes Christi und somit befaehigt, die Tuer zum Reich der Toten offen zu halten. Das Licht des Jenseits taucht hinunter in die bodenlosen Gebeinkammern der unerloesten Seelen, es zieht sie hoch. Wir sprechen mit Christus, ja, wir sprechen mit ihm, und durch ihn, den Herrn, sprechen wir mit unseren Toten, den unsrigen, denn sie waren Menschen. Gottes Gedanke.

Gruess mir Schweden, Reini.

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  1. Der Mann, der das Antiserum bei sich trug

    Er war Jurist und als solcher Chronist. Penibler Chronist, der im Fluß der Zeit badete und der nichts vergaß. Dr.Felix Koschitz aus Perchtoldsdorf, Niederösterreich. Er arbeitete mit Fakten, mit Dokumenten, doch im Inneren war er ein Träumer. Ein Romantiker, der es sich nicht sosehr anmerken ließ, vielleicht auch, weil er wußte, daß ihn dieses Gefühl angreifbar machte. Doch von seiner Sorte gibt es mehr in unserem Land, zum Glück, möchte ich sagen. Jene, die am Wochenende und in den Ferien gerne in der Krachledernen die Berge der Alpenrepublik besteigen.

    Er war ein loyaler Arbeiter, ein Mann, den es, wie viele Juristen, in einen Bereich verschlug, den er sich partout während seiner Studienjahre nicht erdacht hatte. Er diente den gewöhnungsbedürftigen, aber nicht unsympathischen Franzosen, deren Sprache er genoß, und baute für sie von Wien aus Osteuropa auf. Ich fragte ihn einmal an einem ruhigen Nachmittag in seinem Büro, „Herr Doktor Koschitz, wie sind denn Sie auf das Französische gekommen?“ „Durch eine gewisse Faszination für die Grande Nation, Algerien, das französische Theater und, obwohl ich bei Gott darin nicht besonders bewandert bin, die französische Philosophie. Bei Ihnen, Herr H., nehme ich im Gegenzug an, es war die Faszination für das Theater des Absurden. Antonin Artaud.“

    Er hatte eine gute Hand mit seinen Mitarbeitern. In der Firma pißte ihm keiner ans Bein. Anfangs versuchte es einer, einer, der meinte, die Mitarbeiter hätten in der werkseigenen Kantine zu essen und nicht auswärts, im Friedhofsrestaurant um die Ecke. Großer Irrtum! Sie waren ihrer drei, drei Freunde. Der eine gab mir die definitive Erklärung, als ich eines Tages mit ihnen speiste, im Friedhofsbeisel. „Die Nähe der Toten gibt uns Ruhe. Hier wird keiner ausfällig. Beim Essen soll man schweigen, sonst verschluckt man sich. Die Arbeit kann warten. Wer die Toten nicht ehrt, ist das Leben nicht wert.“ So sprach der Freund von Dr.Felix Koschitz, der ehrenwerte Herr Gerhard Dworschak, 1993. Und in der Tat. Es brauchte nur fünf Jahre, und eine Mitarbeiterin der Buchhaltung lag von heute auf morgen tot in ihrem Bett, ein Jahr vor der ersehnten Pensionierung, und in ihrem Testament, das die Angehörigen kannten, hatte sie festgeschrieben, sie wolle justament auf jenem Friedhof begraben werden, an dessen Rand die „Friedhofsrunde“ zu Mittag zu speisen pflegte. Und plötzlich stand die Maschinerie mitten an einem Werktagvormittag still, und alle, bis auf den französischen Direktor, dachten, in gemessener Trauerkleidung am Friedhof versammelt, dasselbe.

    Und ein Jahr später wiederholte es sich. Ein weiterer Freund der Friedhofsrunde, Adolf Deutschbauer, der Unvergessene, er hatte nur mehr vier Jahre bis zur Pension, starb während eines Bergradausfluges in die Kärntner Karawanken an einem seltenen Virus, für dessen Erforschung kein Pharmakonzerne wegen dessen Seltenheit Mittel aufwenden möchte, von heute auf morgen. Kärnten. Das Land der frühen Tode. Und Dr.Koschitz sandte einen Totenkranz, so wie zum Begräbnis von Paul Lindenbauer, der mich, schon Pensionist, in der Firma besuchen kam, an einem sonnigen Nachmittag, im Freizeitjanker, nachdem er zuvor bei Dr.Koschitz vorbeigeschaut hatte. „Wie geht´s, Herr H.? Sie haben hier einen stillen Fleck. Ist unsere Agence nicht friedlich? Die Südbahn fährt gelegentlich vorbei, kein Verkehr. Die Vogerl zwitschern. Ich freu mich, wenn ich hier immer hereinschneien kann, wenn´s Wetter paßt. Ich habe einen Tumor an der Innenseite des Schulterblattes. Inoperabel. Schauen wir mal, was wird. Wenn der Herrgott befiehlt, kann ihm sowieso keiner widersprechen.“

    Ja, so sprachen die Freunde von Dr.Felix Koschitz.

    Er selber, das war von Anbeginn ersichtlich, war in seiner hemdsärmeligen Vornehmheit eines Landadeligen in keinster Weise streitsüchtig, ja nicht einmal polemisch. Sein großes Atout war diese seine, den meisten unbekannte, noble Herkunft, die ihm im Blut lag, und die ihn dadurch erst recht zwang, das Leben eines Biedermanns in fremdgewordenen Zeiten zu führen. Er war Patriot und hielt auf Tradition. Das würdigten alle, die ihm begegneten, unmittelbar. Sogar der ehemalige Offizier der Fremdenlegion, Direktor für Europa, sagte mir einmal vor Weihnachten: „Monsieur H., wir dürfen Monsieur Koschitz nicht vernachlässigen, er ist immer zuverlässig, auch wenn er eher pünktlich nach Hause geht. Er hat eben Familie.“

    Dr.Koschitz baute die Agence des Reifenkonzerns in Wien 23 auf, hub sie gewissermaßen architektonisch aus der Taufe, und mußte am Ende erleben, wie sie, so wie alle Mitarbeiter, unter dem Rationalisierungsdruck nach knapp 30 Jahren wieder geopfert wurde. Er kannte dieses armselige, rettungslos verlogene Spiel des Geldes, das er sich nie gewünscht hatte. Diese Gier von Großaktionären, die eine Rendite von 15% einfordern. Monsieur Koschitz war Kommilitone, ein Kampfgefährte.

    Er mißte kein Begräbnis. Er hätte auch Priester werden können, aber er liebte seine Kinder über alles. Es ging ihm um wahre Werte, – und um die Würde der Person. Er hatte einen Sinn für Folklore und Feste, für die Gemeinschaft der Arbeitenden. Ich erinnere mich, wie er mich an einem Winterabend einmal zum Eisstockschießen in seiner Heimatgemeinde verdonnerte. Wir kamen zahlreich, trotz beißender Kälte. Er berührte mich bei zwei Gelegenheiten tiefer als sonst. Das erste Mal, als ich im Sommer meinte, wir könnten das Gelände mit der Sense mähen. Er blickte aus seinem Büro im Erdgeschoß: „Die Idee ist löblich, doch wir sind hier in der Stadt, und vergessen Sie nicht, Monsieur H., die Autofahrer hier haben Angst vor dem Sensenmann.“ Und die zweite Gelegenheit war bei meinem Abschied. Er schenkte mir, hellsichtig wohl wissend, wohin es mich verschlagen werde, ein Antiserum-Set samt einem Safari-Bus en miniature. „Niemand kann sicher sein, nicht eines Tages auf eine Klapperschlange zu treten. Für den Moment der Wahrheit sollte unser lieber Herr H. gerüstet sein. Er doch wohl schon.“

    Dr.Felix Koschitz, ein vitaler, stämmiger Naturliebhaber, von dem man meinte, er habe eine eiserne Natur geschenkt bekommen, starb am 3.September 2011 in seiner Wahlheimat Friesach in Kärnten, im 65.Lebensjahr, unerwartet, wie die Stadtchronik schreibt. Heute, nachdem er mir im Traum erschienen war, erfuhr ich beim Nachforschen im Netz von seinem Tod. Zwei Jahre vor seinem Ableben schrieb er dem Friesacher Burgenchor, der ihm das letzte Geleit entbieten sollte, ins Stammbuch: „Die Friesacher Hymne höre ich mir trotzdem immer wieder mit feuchtem Auge an.“ So spricht nur ein Heimatverbundener. Einer, der zeitlebens die wahre Heimat suchte.

    Er hat sie gefunden, soviel ist unumstößlich sicher.

    Sie haben viel für uns alle getan, Monsieur Koschitz. Viel. Mehr als wir ahnen. Mir kommen die Tränen. Pfiat Ihna!

     

    Perchtoldsdorfer Marktplatz: links die Martinskapelle, mittig die Pfarrkirche, rechts der Wehrturm und im Vordergrund die Dreifaltigkeits-(Pest-)säule

  2. Marianne Kirchmaier

    Sie war die Gattin des ältesten der beiden Söhne meiner Großtante Dilly, jener Bäurin, die in den 60er Jahren noch echte Brotlaibe zu backen verstand und die auf einen Hof in einer waldreichen Siedlung am langgezogenen Berg geheiratet hatte, wo immer der Wind blies und wo dann auch in den Jahren des Wiederaufbaus die Autobahn in Hörweite vorbeiführen sollte. Die Frau, von der zu sprechen mir hier und jetzt ein Herzensanliegen ist, hieß Marianne. Ein Vorbild an Freundlichkeit und nobler Gesetztheit. Eine Schönheit. Sie war Chefkassierin im ortsbeherrschenden Mode- und Schuhgeschäft. Ich empfand immer eine gewisse Scheu vor ihr. Ich konnte es nicht fassen, daß ein Engel auf Erden arbeiten und sich derart in die Gewöhnlichkeit menschlicher Unzukömmlichkeiten eingliedern mußte. Ein oder zweimal sah ich sie nach der Messe auf dem Vorplatz der 900 Jahre alten Ortskirche, die nie die meine werden sollte, da wir jenseits der Bahn im anderen Stadtteil wohnten. An Sonn- und Feiertagen trug sie Dirndl. Ich erinnere mich, sie als Knips bei der Hochzeit ihres Schwagers Hans, der Bauer auf einem fremden Hof werden sollte, gesehen und bestaunt zu haben. Damals sah ich sie, die ich sie nur von Erzählungen und ihrem Hochzeitsfoto kannte, zum ersten Mal leibhaftig. Diese vornehme Zurückhaltung, die aufrechte Haltung, dieses In-Sich-Ruhen betörte mich in Maßen. Und ich erinnere mich, wie die Mutter sagte, der Sepp wird dem Herrgott bis ans Ende seiner Tage für die Marianne danken. Sepp war der ältere der beiden Söhne meiner Großtante Dilly. Die Dilly-Tant war Vollwaisin. Die Eltern starben ihr innert einer Woche weg, als sie erst acht war. Ihr und fünf Geschwistern. Doch die Dilly-Tant war nicht umzubringen. Sie fand einen guten Mann, den Sandmaier-Onkel. Ein Bauer, der Virginias rauchte. Die beiden fanden, bescheiden wie sie waren, ihr Lebtag das Auslangen. Sie verkauften ihre Produkte direkt vom Hof: Most, Speck, Brot, Wurst. Die beiden Bauersleut waren bescheiden durch und durch. Ich erinnere mich, sie hatten nie ein Auto. Sie gingen zu Fuß in die Kirche, knappe drei Kilometer, den Berg hinab und wieder hinauf. Bei Winter im Eis. Die Dilly-Tant fiel zweimal hin und hatte es ab da mit der Hüfte. Die Bauersleut, in Liebe verbunden wie sie waren, starben innerhalb eines knappen Jahres, die Dilly-Tant zuerst.

    Der Sepp arbeitete auf der Volksbank. Ein Vorbild an Zuverlässigkeit. Doch er kränkelte. Er blieb immer hager, aber was mich an ihm besorgte, war seine Verletzbarkeit. Sein Kopf zuckte, wenn er sprach. Alles ging ihm nah. Seine Nerven lagen blank. Er hatte bisweilen sogar leichte Tränen in den Augen, wenn er sprach. Eine Art Weltschmerz, die sich beim Sprechen bemerkbar machte. Und es war spürbar, es war ihm ein wenig peinlich, doch er war wehrlos dagegen. Sein Herz lag offen. An einem Vormittag bringen sie ihn von der Ordination ins Wohnzimmer. Kreislaufzusammenbruch. Auf der Bank verliert er das Bewußtsein. Sein Gesicht weiß wie ein Bettlaken. Sie rufen die Rettung. Im Krankenhaus die Diagnose: Spontane akute Magenverknotung. Der Magen hat sich um 180° verdreht. Der Vater fragt seinen Cousin im Krankenhaus, Sepp, was macht dir denn so zu schaffen? Karl, sagt dieser, schau dir doch bitte die Marianne an. Und dann verliert er die Fassung, und der erfahrene Arzt leitet die erforderlichen Maßnahmen ein, die Frau wird begutachtet. Es ist die Brust, und innert einem Jahr, nichts hat geholfen, wird sie zu Grabe getragen. Und die einzige Tochter folgt ihr zehn Jahre später nach, wieder die Brust. Und ich sehe den Sepp nach 20 Jahren wieder, in der Stadtkirche, er sitzt vorne direkt neben dem Altar, die Messe hat noch nicht angefangen, und er erblickt mich, und er bricht vor meinen Augen nieder, das Gesicht tränennaß, und er hebt sein Gesicht wieder und versucht zu lächeln, und ich verliere die Fassung, denn ich höre ihn, wie er mir zuredet, in Gedanken, aber es ist laut, Wolfgang, ich habe beide verloren, beide Frauen, Gott hat sie mir genommen, dieses Leiden wird niemand verstehen, irgendwann wird es ein Ende haben, irgendwann muß es enden, schön, dich nochmal gesehen zu haben, hier mitten in der Kirche, am Altar. Amen.

     

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  3. Josef und Max Breiteneder

    Der eine war mir zuerst bekannt. Einer aus der Nachbarschaft, der sogenannten Siedlerstrasse, die in der Kindheit noch nicht geteert war. Er hieß Max Breiteneder. Ein interessanter Mensch, weil auch er einer war, der immer leise lächelte und immer ein schalkhaftes Grinsen, mehr noch ein Augenleuchten, für das Kind aufsetzen konnte. Er wohnte mit seiner Gattin, einer stattlichen, nicht unhübschen, doch weinerlichen Frau in einem Kleinfamilienhaus. Die Frau hatte immer sorgfältig gelegtes Haar. Sie hatten eine Tochter, die dieselbe Affinität zum Weinen wie die Mutter besaß. Es waren mehr die feuchten Augen. Vielleicht war es eine Augenkrankheit, eine vererbte, die die beiden Frauen dem Kindesauge gegenüber so auffällig machte. Der Mann war, wenn ich mich recht entsinne, Bundesbahner. Bundesbahner auch er. Das hieß, mit 52 in die Pension. Wenn ich mich recht erinnere. Max Breiteneder war jedoch kein sozialistischer Spiesser. Er war der bescheidene Freund. Er war Jäger, im Revier ein sogenannter „Ausgeher“. Er war nicht der Hauptpächter des Reviers. Das war sein Freund Karl, der Bauer und Meisterschütze. Er und der zweite Karl, ebenso enger Freund, kümmerten sich um die Wildfütterung im Winter. Der Pächter um das Zimmern und Aufstellen der Jagdkanzeln. Max Breiteneder war unscheinbar und doch auffällig. Er hatte einen leichten Buckel, wie ein Schelm. Dieses dezente Grinsen, diese leuchtenden Augen verlor er nie. In dieser Haltung blickter er in die Welt. Man sah ihn und dachte sich, ein Unbedarfter durch und durch. Und dabei hatte er unverbrüchliche Qualitäten. Er hielt Wort wie kein zweiter. Auf ihn war immer Verlaß. Er lernte zusammen mit Philipp von Spanien das Jagdhornblasen, ohne sich jemals in Positur zu werfen. Er spielte eine Saison lang sogar Tarock mit anderen Waidmännern. Seine Frau, so meine ich, trieb es ihm aus Hysterie aus, wegen des abendlichen Wegbleibens. Sie hatten einen Goldfischteich hinter dem Zaun, mit einer Miniaturlandschaft aus Stein. Dem kindlichen Blick ein idyllisches Paradies. Das Ganze war ergänzt durch drei Gartenzwerge. Das war die Welt. Bescheidenheit durch und durch. Einfachheit. Keine Existenzangst. Dann ziehen finstere Wolken auf. Der Jagdfreund, ein krankhafter Trinker, krank vor paranoider Eifersucht, bringt sich an einem Sonntagvormittag im Heizhaus seines Hofes um, durch Genickschuß, mit einer unscheinbaren Luftdruckpistole. Die Gattin mit den zwei Kindern in der Morgenmesse. Der andere Jagdfreund derweilen bei der Geburtstagsfeier des Vaters. Max Breiteneder setzt seinem Freund ein gußeisernes Denkmal, im Revier. Dann der nächste Schlag: Die Tochter, bereits verheiratet, erkrankt an Epilepsie. Das verkraftet die Mutter nicht, sie legt sich hin und stirbt. Max stellt seine Gewehre endgültig in den Schrank und zieht sich zurück. Niemand sieht ihn mehr. Sein Jagdfreund besucht ihn ab und zu, solange, bis ihn Max bittet, nicht mehr zu kommen. Er verabschiedet sich von ihm, ohne Schmerzen, ohne nichts. Der Freund, Arzt, kann es nicht glauben. Nur Tage später, verständigt die verwirrte Tochter den Freund. Der Vater liegt tot im Bett. Der Freund formuliert den Nachruf: „Der Max hat zeitlebens still gelebt, und still ist er gegangen.“ Und dem Arzt treten Tränen in die Augenwinkel. Der geschiedene Schwiegersohn kümmert sich unter Schwierigkeiten um die Verlassenschaft, ein verlassenes Haus. Seine Exgattin, die Epileptikerin, entmündigt und verwirrt.

    Der Jäger hatte einen Namensvetter. Er war mein Nachbar in Wien. Josef Breiteneder war Witwer. Ein kleiner, zierlicher Mann mit Hakennase. Er zog als fortgeschrittenener Pensionist in eine Gemeindewohnung ein, eine Wohnung von 45 m². Eine Wohnung in Wien 13.. Einfach durch und durch, doch mit Klo, Bad, Heizung und Fließwasser. Kongreßsiedlung, Kalmanstraße. Ein von Bäumen und Büschen aufgelockerter Wohnkomplex in Steinwurfweite zum Lainzer Tierpark. Das Paradies für Pensionisten und vom Leben Vergessene. Sozialhilfeempfänger. Deformierte Personen. Josef Breiteneder bezog die Wohnung eines Witwers, der ein halbes Jahr nach seiner Frau weggestorben war. All diese Menschen lebten in ihren Wohnungen wie auf Katzenfüssen. Es gab nie ein Kindergeschrei. Wir wußten zuerst nicht, daß die Wohnung nebenan bereits einen Nachmieter gefunden hatte. Josef Breiteneder zieht nach einem Jahr, als der Winter naht, ein. Er lebte über zehn Jahre lang in seinem Haus in der Schrebergartensiedlung, kaum 300 Meter von seiner neuen Wohnung entfernt. Das Schrebergartenhaus war sein Haupthaus. Doch da kommt eines Tages das Magistrat und erklärt dem kleinen Mann, das ist kein Wohnhaus, auch wenn Sie es zu einem solchen ausgebaut haben. Sie sind hier in einer Schrebergartensiedlung. Und Josef Breiteneder muß sich schweren Herzen von der geliebten Sommerfrische verabschieden. Seine Frau verkraftet das nicht und stirbt am Schlag. Der kleine Mann zieht als Witwer ein, und so schließen wir nachbarliche Freundschaft. Delia Rosenkranz, eine Heilige, nimmt sich seiner an. Sie geht für ihn einkaufen, sie kocht für ihn, wäscht für ihn, bügelt für ihn, reinigt die Wohnung für ihn. Er lädt uns beide einmal zum Nachmittags-Kaffee. Er erzählt in drei Sätzen sein Leben. „Nach dem Krieg gab es kein Leben mehr. Über den Krieg, lieber Herr Nachbar, kann man nicht viel sagen. Das ist unmöglich. Sie wissen das. Zum Glück habe ich eine Frau gefunden, die mir die Albträume erleichtert hat. Die Arbeit war unwichtig. Hauptsache, ich hatte eine. Industrieklempner.“

    Dann wird Josef Breiteneder krank. Er wird bettlägrig, inkontinent. Tagsüber säubern wir ihn. „Ich geniere mich, aber wir sind unter Männern und Sie sind Arzt, Herr Nachbar.“ Wir liefern ihn nach Lainz ein, besuchen ihn zwei Mal. „Wie geht es Ihnen, Herr Breiteneder?“ „Schon wieder besser. Unkraut vergeht nicht, wie Sie sehen.“ Er sitzt auf der Bettkante und rasiert sich mit dem Elektrorasierer akribisch. „Ist alles glatt?“, fragt er mich und nimmt meine Hand, um sie über die Wange streichen zu lassen. „Alles superfein glatt, Herr Breiteneder.“ „So muß es sein, nicht?“ Am nächsten Morgen, in aller Herrgottsfrüh, wandert Delia hinüber zu ihm, um mit ihm zu frühstücken. Die Krankenschwester klärt sie auf. „Er ist in der vergangenen Nacht sanft entschlafen.“ Wir werden zu seinem Begräbnis auf dem Penzinger Friedhof eingeladen. Man öffnet uns den Sarg ein letztes Mal. Vor mir eine unbekannte, bleiche Hülle mit offenem Mund, die Hände gefaltet, ein einfaches Holzkreuz umschließend. So sind die Wiener Leichenbestatter. Wir fahren nach Hause. Delia hat alle Schlüssel für die unbekannten Erben vorbereit. Zurück bei uns, nebenan, öffnet sie eine Schatulle. „Das sind die Golddukaten. Er hat sie mir als Dank gegeben. Er sagte, dort, die Schatulle im Klappschrank, die gehört Ihnen. Die Geier müssen nicht alles haben.“

    Amen. Vergelt’s Gott, ihr guten Männer.

     

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