Juengst besuchte mich ein Freund aus alten Tagen, postalisch, ein Freund, dessen Auftreten in Art, Ort und Zeit immer schon ominoes war. Ein guter Mensch, ein alter Kampfgefaehrte. Er lebt und unterrichtet jetzt in Schweden. Zur damaligen, unvergesslichen Zeit hatte er ein gewisses Faible fuer Latein und darueber hinaus fuer unverstandene Leidenschaften. Dass er mir an einem grauen Wintertag an der Pestsaeule am Wiener Graben ueber den Weg lief, war bezeichnend, doch noch bedeutungsschwangerer war die Frau, die damals an meiner Seite ging, kraftdurchtraenkt, und die ihn spaeter alleine wieder traf, wieder am Graben, wieder ohne Vorwarnung.
Der gute Freund also schrieb mir eine inhaltsreiche Karte und wir tauschten kurz Reminiszenzen aus. Und so fuegte er den besagten Spruch an, den lateinischen, den wir gegen Ende hin von unserem leibhaftigen Herausforderer, dem, dem das Leben das Knie zerschossen hatte und der sich zeitweise in Schmerzen wand, zu hoeren bekamen. "De mortuis nil nisi bene". Heute ist es ein Vermaechtnis. Aber der Mann war schon zum Vermaechtnis geworden, als er aus dem Staatsdienst ausschied und in Pension ging, eine Lichtgestalt, die erstrahlte, als die Faust, die ihr zeitlebens im Nacken gesessen hatte, von ihr wich. Der Mann strahlte auf wie ein Heiliger. Damals hatte er die 70 uerberschritten und lebte dann nochmal 10 Jahre. Er sagte es so zwischendurch, denn er hatte das bemerkenswerte Geschick, uns, den Schlotterhasen, zwischen mathematischen Lektionen auch sein Verstaendnis vom Leben beizubringen. Er hatte noch andere Atouts im Aermel, beispielsweise, Physik ohne jedes Experiment zu unterrichten, obwohl er im Apparatesaal der Physik gewissermassen hauste. Damit nahm er sich wohl ein Beispiel an seinem Kollegen, dem nie ein Experiment gelingen sollte. Deshalb war es theoretische Physik, was aus seinem Munde kam, aber es war durchaus gedankenanregend. Er haette es sich niemals einfallen lassen, einem jungen Spund wie Gerhard Utri, einem 12-Jaehrigen, fuer den Licht schon damals elektromagnetische Wellen waren, zu antworten: "Nein, was Licht ist, wissen wir nicht, schreibt also: Licht … Fragezeichen." Nein, Theodor Preu war es vorbehalten, zur Lichtgestalt zu werden, und ich danke ihm nachtraeglich fuer alles.
Aber das Thema ist der Satz, denn ueber einen solchen Spruch des Ovid kann man sich nicht einfach hinwegsetzen. Ein Satz, den auch unsere europaeische Gesellschaft diskutiert, jede Familie. Wie gehen wir mit dem Gedaechtnis an unsere Toten um? Das ist eine zentrale Frage, denn sie beruehrt wunde Punkte. Bei dieser Frage spueren wir unweigerlich einen kalten Windhauch, selbst mitten im Hochsommer im Wald, und erst recht an einem nebeligen Jaennernachmittag. Denn wir wissen, wie wir ueber die Menschen reden, zu Lebzeiten, und wie dieses suendhafte Spiel dann ein Ende nimmt. Dieses Spiel des "Ausrichtens" – und es ist, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, ein gegenseitiges Ausrichten – hat einmal ein Ende. Einer scheidet aus, als erster. Die Ehehoelle hat ein Ende, die Folter hat ein Ende, das Martyrium. Was macht der Zurueckbleibende mit dem blutigen Skalpell in den Haenden? Mit welchem Gesichtsausdruck waescht er es? Meist werfen sie die blutigen Kuechenmesser weg. Sie zu waschen, unter dem Hahn, uebersteigt ihre Kraefte. Und in der folgenden Nacht beginnt der Tote zu reden. So beginnt der Wahnsinn sich einzugraben.
Irgendwann sterben auch wir. Haben wir Interesse an einer guten Nachrede? Die Verwandten haben es zumeist. "Verunglimpft uns nicht unseren Toten! Er war ein guter Mensch, ihr habt es nur nicht gesehen!" Doch schlechte Nachrede an einem Toten wird nicht geahndet. Es koennte makaber werden, triebe man die Dinge vor Gericht zu weit. Doch die oeffentliche schlechte Nachrede, die verfolgen manche Politiker, die um die Wahrheit, vor allem die christliche, einen Bogen machen, dafuer systematisch mittels angeheuerter Bluthunde bis zur Existenzbedrohung. Zu Lebzeiten. Spaeter dann, eines Tages, hat das Volk sie aus dem Gedaechtnis getilgt, und sie werden zu Geschichte, zur Zeitgeschichte. Aber die Zeitgeschichte hat de facto schon laengst aufgehoert. Ein absurdes Schulfach: Geschichte, Geschichte anstelle von moderner Zeitgeschichte. Denn moderne Zeitgeschichte waere alles: Soziologie, Anthropologie, Oekonomie, Philosophie, Religion, alles. Moderne Zeitgeschichte muesste zu einem unweigerlichen Schuldbekenntnis geraten. Doch das ist den Schuelern, so sagt es das Politcredo pragmatisch, nicht zumutbar. Deshalb lehrten nicht wenige Staatsbeamten der alten Garde der naechsten Generation Zeitgeschichte mittels des eigenen Lebens. Mittels Schreien, Geifer und strafendem Blick. Aber einmal hat alles ein Ende und fuer viele wird es absurd, ob eingestanden oder nur erlitten. Eine Absurditaet, die den Griff zum Revolver erlaubt oder, noch absurder, die Knotung des Strickes und das Hinaufklettern zum Dachboden.
Ist es nicht zum Staunen, sich zu fragen, wie Stalin vom Theologiestudenten zum paranoiden Massenmoerder werden konnte,- ein Mann, der die halbe Sowjetunion ausrottete?
Ist es nicht zum Staunen, sich zu fragen, wie ein verschreckter, getretener und ausgestossener Knabe aus einem Koehlergehoeft, einer, der Kunstmaler werden wollte, dermassen Rache nehmen und ganze Voelker systematisch in den Untergang fuehren und dabei auch noch eine neutestamentliche Rundumrache bis zum letzten moeglichen Augenblick vom Zaum treten konnte? Einer, der sich in der Reichskanzlei unter die ueber ihm stehenden Berliner Schauspielerinnen legte und sich von ihnen besudeln liess? Einer, der die Filmvorfuehrung der an Schlachterhaken baumelnden, zuckenden, roechelnden und ihr Leben aushauchenden Konspiratoren des 14.Juli geniessen wollte, aus einer inneren Furie sondergleichen? Freilich, heute sagen sie, ihr muesst auch die guten Seiten an ihm sehen. Er hat uns Arbeit gebracht und schliesslich auch die Autobahn gebaut. Das sagen sie eine Zeit lang, dann ist auch der letzte Zeitzeuge gestorben, bis 2035. Aber was habe ich mit ihm, dem Braunauer? Der Daemon, der damals in ihm war, er ist fort. Aber sein Beispiel lebt. Wohl das ist es, was wir, die Veraengstigten, nach und nach realisieren. Das Monstrum ist tot. Pinochet ist tot. Aber zum Katafalk des aufgebahrten Stalin stroemten Millionen, es kam zu einer Panik und Tausende wurden zertreten. Dann, wenn er unter der Erde liegt, dauert der Schrecken immer noch an. Wird er nicht wieder auferstehen? Er hat es uns doch versprochen! Er wird Rache nehmen, grummelte er noch, alle offenen Rechnungen begleichen. Freut euch nicht, dass ich unter der Erde liege, so sagte er doch, noch am Totenbett, ich werde wiederkommen. Ihr werdet von mir keine Ruhe haben!
Die Unrast der Toten. Darum das systematische Verbrennen in Indien. Das den-Geiern-zum-Frass-Vorsetzen in Tibet. Dieses kleine Restrisiko wollen wir minimieren. Ja, die Untoten sind ein Thema, denn die Masse der unschuldig und ahnungslos in den Tod Befoerderten nimmt mit jedem Tag zu. Das ist mit ein Grund fuer die Rundum-Paranoia der USA. Die "Tunshis" aus dem Irak koennten in den USA einfallen, und gegen die gibt es keinen Schutz. Diese Geister wird keiner so schnell los. Der Geist der unschuldig Getoeteten.
Es gibt noch andere Tote. Die Foeten. Der Gedanke ist quaelend. Denn das Bewusstsein ist nicht zerstoerbar. Es geht nur wieder fort. Aber beobachtet es uns nicht von ferne? Zieht es uns nicht an? Wie sich befreien von dieser Schuld, wenn nicht durch die Beichte und Reue auf Knien?
Wie mit einem Toten reden? Wohl ist es nicht noetig. Nur auf ihn hoeren! Was kann ich dem Toten schon sagen? Nichts ausser Dank. Mehr nicht. Aber auf ihn hoeren, das ja! Wir sind Glieder des Leibes Christi und somit befaehigt, die Tuer zum Reich der Toten offen zu halten. Das Licht des Jenseits taucht hinunter in die bodenlosen Gebeinkammern der unerloesten Seelen, es zieht sie hoch. Wir sprechen mit Christus, ja, wir sprechen mit ihm, und durch ihn, den Herrn, sprechen wir mit unseren Toten, den unsrigen, denn sie waren Menschen. Gottes Gedanke.
Gruess mir Schweden, Reini.
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Der Mann, der das Antiserum bei sich trug
Marianne Kirchmaier
Josef und Max Breiteneder