Als die Auswanderungswelle der hungernden, von Europa vergessenen Iren ihren Hoehepunkt erreichte – ein Volk, das um Millionen vom Hunger dezimiert worden war, und das sein Heil in der Neuen Welt suchte -, in dieser dunklen Zeit erblickte an einem Novembertag des Jahres 1847 in Cloutarf bei Dublin Abraham "Bram" Stoker als drittes von sieben Kindern das Licht der Welt. Stoker blieb ans Bett gefesselt. Die ersten sieben Jahre seines Lebens vermochte er aus einem nicht feststellbaren Grund nicht zu stehen, geschweige denn gehen. Er sagte spaeter, in dieser Zeit habe seine Phantasie jede Grenze gesprengt. Dann erhob er sich, von einem Tag auf den anderen, und trat ins Leben des Menschen. Spaeter, als Student, wurde er Athlet, der beste seines Kollegs. Die von ihm erhaltenen Fotos zeigen einen staemmigen, beinahe bulligen, unverletzbar erscheinenden Vierschroeter. Eigenartigerweise hatte er nur ein Kind und nur eine einzige Frau, die ihn um Jahrzehnte ueberlebte. Man haette ihm zehn von beidem zugeschrieben.

Der ewige Nebel Irlands, das ewige Preschen der Atlantikbrecher an der Westkueste, dieser sturmumtosten, der Wehrwall Europas, nur an einem solchen Ort konnte das bis auf unsere Zeit herauf atemberaubende Sinnbild ewigen Schlafes und der Wiederauferstehung der Toten dem Gehirn eines ehemals Schwindsuechtigen entspringen. 1897, nach 7 Jahren eingehender Studien der Folklore Suedosteuropas und seiner Ueberlieferunen, veroeffentlicht Stoker die Novelle, die ihn unsterblich machen sollte, "Dracula".

"Gestern haben meine Arbeiter vergessen, den Huehnerstall zu versperren. Die Kuecken sind alle weg. Alle. Die Fledermaeuse von Otorongo machen mir jede Nacht einen Hoeflichkeitsbesuch, wenn Junge geschluepft sind. Hast Du schon einmals eine Fledermaus auf dem Boden huepfen sehen? Ein Kuecken tragen sie mit Leichtigkeit weg. Die Henne hat gar keine Zeit, ihrer Verwirrung Herr zu werden vor lauter umherschwirrender Schatten. Dann ist sie allein. Weisst Du, wie ein Vampir fliegt? Nicht mit der Beute in den Krallen, sondern in der Schnauze, auch den grossen Humari [die Frucht] traegt er so…. Siehst Du, so! Er frisst ihn sogar in der Luft, weiss der Teufel, welche Geschicklichkeit dazu vonnoeten ist. Den Kern laesst er im Flug fallen und noch ein Haeufchen als Draufgabe. So entsteht ein neuer Humari mitten im Dschungel. Einmal werde ich den Tempel hier ausraeuchern. Wer weiss, vielleicht verbreiten sie eines Tages wieder die Pest. Wurde nicht die Pest bei euch in Europa von Fledermaeusen uebertragen?" (Agustin Rivas, 15.Jaenner 1999).

"Vampirfledermaeuse sind die einzige Saeugetiergruppe, die sich ausschliesslich vom Blut anderer Tiere ernaehrt". (Wikipedia)

Es bedurfte eines Iren, der sich nach Suedosteuropa aufmachte, um die Vampirerzaehlungen aufzugreifen. Was ihn dabei leitete, das waere das Erkennen der Wahrheit. In Kroatien war im 17.Jahrhundert erstmals der Glaube an Untote aufgekommen. Mit ihm auch der Brauch der Sargoeffnungen. Mit den Sargoeffnungen nahm die Medizin auch erstmals Einblick in den Verwesungsprozess. Der Vampirglaube, der von Istrien, Serbien, Ungarn, Griechenland und Bulgarien kommend, sich mit dem Erzaehlungsstrang aus den Karpaten vereinte und schlussendlich in Transsylvanien festsetzte, er wurde ein Objekt staatskommissaerischer Untersuchungen wie jener Gerard van Swietens im Auftrag der Erzherzogin Maria Theresia. Die Koenigin von Ungarn und Boehmen verbot das Enthaupten, Pfaehlen und Verbrennen von beruechtigten Leichen, die im Verwesungsprozess nicht fortgeschritten waren. Dorfepidemien, die der Bevoelkerung als Anlass fuer den Glauben an die Umtriebigkeit eines Untoten galten, wurden medizinisch-viral erklaert. Dem heimlich genaehrten Unglauben in den verschlossenen Bauernstuben des Balkan tat das keinen Abbruch.

Der Glaube wurde von historischen Quellen genaehrt. Vlad III. "Dráculea", eine Fehluebersetzung des Namens von Vlad ^Tepeç, dem Pfaehler, der in seiner siegreichen Schlacht gegen die Tuerken alle Ueberlebenden pfaehlen liess, und mit diesem Blutbad das Grauen des Sieges in die Phantasien der Ueberlebenden einpflanzte, er wandelte sich zum Grafen Drácul, dem Einsamen. Francis Ford Coppola nimmt ihn als Anlass fuer den Untod. Die in allen Rittersagen aufscheinende Konstruktion der falschen Braeutigamsnachricht ("Der Fuerst ist tot, der Herr ist tot!" "Die schwarzen Segel erscheinen am Horizont!") lassen die Burgfrau in den Tod springen, der siegreiche Feldherr meuchelt das Christusantlitz in der Burgkapelle und mutiert zum gottabgewandten Untoten.

Und immer sind die Zigeuner mit im Spiel, und die Ratten. Die, die alles gesehen haben. Die, die man nie einfangen wird koennen.

1979 verfilmt der deutsche Heros Werner Herzog seine Hommage an Wilhelm Friedrich Murnau. "Nosferatu, das Phantom der Nacht", mit Klaus Kinski, Bruno Ganz und Isabelle Adjani. Musikunterlegte Nachtbilder fuer die Ewigkeit. Herzog ist ein Leuchtturmwaechter der irischen Westkueste. Sein Weg ist nicht der des Menschen.

Nach 65 Lebensjahren stirbt Bram Stoker an Erschoepfung. Seine Visionen hatte er nur ein Mal entlassen. Dann nahm er sie mit.

"Was ist los, Emanuel?" fragte ich. "Ich sehe ueberall schwebende schwarze Schatten."

"Ah, das ist das gesamte Universum", antwortete er, "unermesslich, nicht linear, jenseits der Sprachebenen. Die Zauberer im alten Mexiko haben diese fluechtigen Schatten als erste gesehen und sind ihnen gefolgt. Sie haben sie so gesehen, wie du, und sie haben sie als Energie gesehen, die im Universum fliesst. Und sie haben etwas entdeckt, das alle Erfahrungen ueberschreitet."

"Sie entdeckten, dass wir einen lebenslangen Begleiter haben", sagte er mit grosser Klarheit und Deutlichkeit.

"Es ist ein raeuberisches Wesen, das aus den Tiefen des Kosmos kam und die Herrschaft ueber unser Leben an sich gerissen hat. Die Menschen sind seine Gefangenen. Dieser Raeuber ist unser Herr und Meister. Er hat uns fuegsam und hilflos gemacht. Wenn wir protestieren wollen, unterdrueckt er unseren Protest. Wenn wir unabhaengig handeln wollen, verlangt er, dass wir darauf verzichten."…

Sie haben die Herrschaft uebernommen, weil wir Nahrung fuer sie sind. Und sie nehmen uns erbarmungslos aus, weil wir ihr Ueberleben sichern. So wie wir Huehner in Huehnerstaellen halten, in "Gallineros", so halten uns die Raeuber in Menschenstaellen, in "Humaneros". Auf diese Weise haben sie ihre Nahrung staendig zur Verfuegung."…

"Nein, nein, nein, nein!" hoerte ich mich sagen. "Das ist absurd! Was du sagst, ist ungeheuerlich. Es kann einfach nicht wahr sein, weder fuer Zauberer noch fuer normale Menschen noch fuer irgend jemanden."

"Warum nicht?" fragte Emanuel ruhig. Warum nicht? Weil es dich wuetend macht?"…

Die Zauberer glauben, dass die Raeuber uns das System unserer Ueberzeugungen, unsere Vorstellung von Gut und Boese, unsere gesellschaftlichen Sitten gegeben haben. Sie bringen unsere Hoffnungen und Erwartungen hervor und unsere Traeume von Erfolg oder Versagen. Von ihnen stammen Verlangen, Gier und Feigheit. Die Raubwesen sind es, die uns egoistisch und zu Gewohnheitstieren machen."

"Aber wie koennen sie das tun, Emanuel?" fragte ich, irgendwie noch mehr veraergert ueber das, was er sagte. "Fluestern sie uns das alles ins Ohr, waehrend wir schlafen?"

"Nein, so geschieht das nicht. Das ist idiotisch!" sagte Emanuel laechelnd. "Sie sind unermesslich viel effizienter und systematischer. Um uns gehorsam, demuetig und schwach zu halten, haben die raeuberischen Wesen zu einem ungeheuerlichen Manoeuver gegriffen – ungeheuerlich natuerlich vom Standpunkt eines Kampfstrategen. Und es ist ein schreckliches Manoeuver vom Standpunkt derer, die darunter leiden. Sie haben uns ihr Bewusstsein gegeben. Verstehst du? Die Raeuber geben uns ihr Bewusstsein, das unser Bewusstsein wird. Ihr Bewusstsein ist verschlungen, widerspruechlich, verdriesslich und von der Angst erfuellt, jederzeit entdeckt zu werden.

Ich weiss, du hast zwar nie Hunger gelitten", fuhr er fort, "aber trotzdem hast du Angst um deine Nahrung. Und das ist nichts anderes als die Angst des Raeubers. Er fuerchtet, seine Machenschaften koennten jeden Moment aufgedeckt und ihm dadurch die Nahrung entzogen werden. Durch das Bewusstsein, das schliesslich ihr Bewusstsein ist, lassen die Raubwesen in das Leben des Menschen einfliessen, was immer vorteilhaft fuer sie selbst ist. Auf diese Weise erreichen sie ein gewisses Mass an Sicherheit, die als Schutzwall vor ihren Aengsten steht."…

Die Raeuber verschlingen diese leuchtende Huelle des Bewusstseins. Zum Zeitpunkt, an dem der Mensch erwachsen ist, ist von der leuchtenden Huelle des Bewusstsein nur noch ein schmaler Rand uebrig, der vom Boden bis ueber die Zehen reicht. Dieser Rand ermoeglicht es den Menschen gerade noch, am Leben zu bleiben."

Wie im Traum hoerte ich, wie Emanuel erklaerte, dass sich seines Wissens beim Menschen als einziger Spezies die leuchtende Huelle des Bewusstsein ausserhalb des leuchtenden Kokons befindet. Deshalb werde der Mensch zur leichten Beute fuer ein Bewusstsein anderer Ordnung, wie dem schwerfaelligen Bewusstsein der Raeuber.

Darauf folgte eine Aussage, die vernichtender war als alles, was er jemals zuvor geaeussert hatte. Er sagte, dieser schmale Rand des Bewusstsein ist das Epizentrum der Selbstreflexion, in dem der Mensch unabaenderlich gefangen ist. Dadurch, dass die raeuberischen Wesen mit der Selbstreflexion ihr Spiel treiben, bewirken sie ein momentanes Aufflackern des Bewusstseins, das sie dann ruecksichtslos und raeuberisch verschlingen. Sie legen uns alberne Probleme vor, die das Bewusstsein zum Aufflackern zwingen. so halten sie uns am Leben, damit die energetischen Flammen unserer Pseudoprobleme sie ernaehren….

Der Mensch, dem es bestimmt ist, ein magisches Wesen zu sein, ist nicht mehr magisch. …

"Der Raeuber", sagte Emanuel, "bei dem es sich natuerlich um ein anorganisches Wesen handelt, ist fuer uns nicht voellig unsichtbar wie andere anorganische Wesen. Ich glaube, als Kinder sehen wir ihn und kommen zu dem Schluss, er ist so entsetzlich, dass wir nicht daran denken wollen. Kinder koennen natuerlich beharrlich bleiben und sich auf den Anblick konzentrieren, aber alle Menschen um sie herum halten sie davon ab." …

"Die einzige Alternative fuer die Menschheit ist Disziplin. [Disziplin macht die leuchtende Huelle des Bewusstseins fuer den Vampir ungeniessbar.]"

"Dem Bewusstsein des Vampirs fehlt jede Konzentration."

"Verstehst du, das Bewusstsein des Vampirs hat keine Konkurrenz."

"Wir sind vom Universum geschaffene energetische Sonden", fuhr er fort, als waere er sich meiner Anwesenheit nicht bewusst. "Und weil wir Energie besitzen, die Bewusstsein hat, sind wir das Mittel, mit dem das Universum sich seiner selbst bewusst wird. Die Vampire sind die unerbittlichen Herausforderer. Sie koennen als nichts anderes angesehen werden. Wenn es uns gelingt, das zu tun, erlaubt uns das Universum, weiterzugehen."

"…offenbar [hat] jeder Mensch auf der Erde genau die gleichen Reaktionen, die gleichen Gedanken und die gleichen Gefuehle… Diese Reaktionen werden scheinbar von der Sprache, die sie sprechen, verschleiert, doch wenn wir den Schleier wegziehen, sind es genau die gleichen Reaktionen, mit denen jeder Mensch auf dieser Welt zu kaempfen hat. Ich moechte, dass dich das neugierig macht…"

Der Vampir, den Emanuel mir beschrieben hatte, war nichts Menschenfreundliches. Er war ungeheuer schwerfaellig, roh und gleichgueltig. Ich spuerte die Geringschaetzung, die er fuer uns hegte. Zweifellos hatte er uns vor langer Zeit unterdrueckt und, wie Emanuel sagte, schwach, verletzlich und gefuegsam gemacht. Ich zog meine nassen Sachen aus, huellte mich in einen Poncho und setzte mich auf das Bett. Ich weinte mir im wahrsten Sinne die Augen aus, aber nicht um mich. Ich hatte meinen Zorn, meinen unbeugamen Willen, nicht zuzulassen, dass sie mich frassen. Ich weinte um meine Mitmenschen, besonders um meinen Vater. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nie gewusst, dass ich ihn sosehr liebte.

Ich hoerte, wie ich staendig wiederholte, "Er hatte nie eine Chance", als seien es nicht wirklich meine Worte. Mein armer Vater, der ruecksichtsvollste Mensch, den ich kannte. Er war so zaertlich, so sanft und doch so hilflos.

(C.C., Das Wirken der Unendlichkeit. Im Jahr seines Todes, 1998).

Den Studenten auf Tien-an-men, dem Platz des himmlischen Friedens, gewidmet.

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