Wenn Böhmen liegt am Meer
Der Regen rauscht und rauscht herab, naechtelang, faellt prasselnd auf die Aluminiumdaecher. Wir sind schon im Mai, und die Regenzeit scheint heftiger denn je. Der Fluss wird weiter steigen, so wie es die Kolumbianer in ihrem modernen Schnellboot voraussagten, als sie seltsamerweise am Wahltag Liniendienst zwischen Iquitos und Tamshiyacu zum Transport der Waehlermassen versahen. Die Befestigungsmauer des kleinen Hafens steht zu mehr als der Haelfte unter Wasser und ist damit um gut 1,5 Meter ueber der Normalmarke zu dieser Zeit.
Der Fluss misst bei uns 400 Meter Breite. 300 Meter davon sind jetzt gute 10 Meter tief, die restliche Breite, die Hauptrinne, wird etwa 15 bis 20 Meter tief sein. Obwohl das Gefaelle bis zur Muendung im Atlantik nur 130 Meter auf knappen 2000 Kilometern betraegt, steht man vor einem reissenden, alles verschlingenden Monstrum, das einem selbst in Ufernaehe die Beine in einem Meter Tiefe wegzieht. Unsere Landsleute, die bedenkenlos ihren gesamten Muell in den Strom kippen, folgen gaenzlich dem Motto "Aus den Augen, aus dem Sinn", denn sie kennen die Gewalt dieses Ungeheuers. Der Fluss zieht alles ohne Muehe fort. Wenn er in ein paar Monaten sinken wird (vielleicht tut er es nicht, wer weiss), wird man in seinem Bett nichts finden, auch kein Schiffswrack.
In den Tagen des Regens kommt unser Leben zum Erliegen. Die Menschen liegen in den Huetten und doesen vor sich hin oder widmen sich der diskreten Liebe. Der Unterricht in den Kollegs beginnt je nach Verfuegbarkeit des Lehrpersonals. Manche Eltern lassen ihre Kinder zuhause, denn sie wollen ihnen das Stapfen durch die Schlammassen ersparen. Regenschirme und -Capes gibt es nicht.
In Bel?n, dem Bethlehem der Provinzhauptstadt, sieht alles noch einmal anders aus. Der groesste Teil des Stadtteils steht auf hohen Stelzen oder ist auf Floessen gebaut. Der karmesinrote Kirchturm der Weihnachtskirche, neben dem ruinoesen abgebrochenen Hochhauswrack das Wahrzeichen der Silhouette von Iquitos – langt man per Schiff ein -, steht monumental oben am Huegel, am Eingang zum Armenviertel, dem pulsierenden Herzen Amazoniens. Mittlerweile ist selbst das Rondell der pittoresken "Plaza Venecia" unten im Kohlenviertel von leckenden Wellen umgeben. Die Ziegelbauten stehen trotzig im Wasser, in ein paar Monaten wird das Untergeschoss, jetzt tief im Wasser, wieder vermietet sein. Das die langmuetige Sicht eines der Kanoisten, die jetzt ihre Hauptsaison haben. Alles muss per Kanu zu den Schiffen geschippt werden. Ziegel, Zement, Zucker, Reis. Das eindrucksvolle Colegio "Sachachorro", so wie die Polyklinik zur Gaenze auf 5 Meter hohen Beton-Stelzen gebaut, hat seinen Spielplatz immer noch trocken. Nicht so das Fussballstadion und andere Pisten, wo die Kinder glueckselig plantschen und von den Daechern herabspringen. Die Torpfosten sind endgueltig vom Reich Neptuns eingehuellt. Die Muellmassen, einen Block weiter, treiben ruhig im Wasser. Nicht einer wuerdigt sie eines Blickes. Noch ein Detail: Auch die Latrinen sind verschwunden.
Leben in Bethlehem, ein Tribut an zeitlose Zyklen. Zeitlos die erhabene Geschichte der Wolken am Himmel in diesem Regenwaldbecken. Der Kreislauf des Wassers, unser Leben, in das wir eingehuellt sind. Das Wasser ist unser Schicksal, die Froesche und Kroeten seine ewigen Sendboten.
Boehmen liegt am Meer. In 30.000 Jahren, der Zeit von "Waterworld", und wir, die Ueberlebenden, zu Kiemenmenschen mutiert, wird es wieder weisse Tempel der Dichtung geben, auf den Gipfeln des Ararat und des Kailash, und dort, in weisse Gewaender gehuellt, werden wir uns einfinden, mit Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Max Frisch und den vielen anderen.
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Thomas Bernhard, – eine Lichtgestalt. Danksagung.
Er war, ohne daß ich es recht merkte, meine Referenzgestalt. Er war nicht mein Lieblingsdichter, aber was ich von ihm las, floß wie Honigmet in mich hinein. Das lag wohl auch an seinem fließenden Stil, an dem ihm eigenen Stil, dem dem Österreicher so eigenen, arteigenen Mosern. Dem Grummeln und Murren. Den lauten Selbstgesprächen. Unzensierte laute Selbstgespräche in einer ungekannten Ehrlichkeit. Völlig schnörkellos und in der Thematik verstörend. Genau genommen schrieb er von der eigenen Verstörung. Der Verstörung aus fremd anmutender Sozietät (immer nur die österreichische), Verstörung aus früher Krankheit. Bernhard war zeitlebens lungengeschwächt. Man hätte es ihm nicht angesehen. Er rauchte nicht, trieb sich jedoch in verrauchten Lokalen herum. Sein Stammcafé war der Bräunerhof in der Stallburggasse im ersten Bezirk. Dort sah ich ihn auch das einzige Mal, an einem Vormittag, wie er gerade heraus kam. Unsere Blicke kreuzten sich. Nicht viel später – ich glaube, ein oder zwei Jahre danach – starb er. Ich erinnere mich noch genau, es war ein Samstag, ich las es im Standard, in der Wohnung meiner Freundin, die eine stilbewußte Literatin war. Wir fielen beide aus allen Wolken. Wahrlich ein schwerer Verlust. Unerwartet. Thomas Bernhard tot, kaum 58 Jahre alt. Die Nachricht von seinem Ableben wurde auf seinen Wunsch hin erst nach seinem Begräbnis veröffentlicht. Sein Nicht-mehr-Existieren traf mich schwerer als bei jedem anderen. Da erst – erst da, ja! – wurde mir klar, wie sehr ich mit ihm sympathisiert hatte. Und dazu muß ich jetzt ins Bergwerk einsteigen.
Ich hörte von ihm zum ersten Mal 1976. Das war ein Querverweis über Handke und die Bachmann. Bernhard als Zeitgenosse der Bachmann. Beide sprachen nur in den höchsten Tönen von einander. Sie trafen sich höchst gelegentlich. Ein Paar zu werden war von vornherein ausgeschlossen, denn Bernhard war vom Geblüt natürlicher Eremit. Das war Talent und Gnade. Bernhard mußte sich nie die Ehehölle antun. Wie auch immer, 1976 sprang ich nicht auf seinen Zug auf, sondern auf jenen Handkes, aber zuvor auf jenen Wolfgang Bauers, des Grazer Skandaltheaterschreibers. Auch Turrini blieb hintennach, und Gerhard Roth erst recht. Handke machte das Rennen, und es soll nicht unbedankt bleiben, bis auf den heutigen Tag.
Doch der eigentliche Fackel-, der eigentliche Lichtträger war Bernhard, der Dichter aus Ohlsdorf, oberhalb von Gmunden. Das wurde mir heute nacht klar. Der Dichter, der Mitglied im örtlichen Bauernbund war, denn er arbeitete auf Feldern, hatte Feldgerätschaft, wohnte im Vierkanthof. Diese Bauernattitüde machte ihn mir unangreifbar und brachte ihn mir so dermaßen nah, näher als ich je gedacht hätte. Dazu kam sein Charakterkopf: Die immer rote Knollennase, die oft lief, die tränenden Augen, die Adlerhaarrundung und erst recht diese sonore Stimme, die sich nie festnageln ließ. Bernhards Stimme hatte Timbre. Er war ein guter Sänger. Er hatte immer dieses leicht süffisante Lächeln im Gesicht, und es war eben nicht Süffisanz, sondern Weltschmerz. Ernst Happel war dem ähnlich. Riesengroße Augen, sinnliche Lippen, immer eine Zigarette am Brennen, Kaffeetasse in der Nähe, ruhige Stimme. Wiener Weltschmerz, vorschnell gestorben, wie im Handumdrehen ausgestiegen aus dem Karussell.
Der erste, der sich als Bernhard-Fan entpuppte, war mein Freund Franz Josef, Medizinstudent im letzten Jahr und Hobbyliterat. Wir feierten gemeinsam Silvester und kamen auf den Schreiber wegen eines seiner Bücher, die Franz Josef gerade durchackerte. Ich glaube es war "Im Keller". Franz Josefs Antwort, seine Meinung, die mich immer interessierte, war, Bernhard erfinde nichts und er käme schnell auf den Punkt, schneller als andere, erst recht schneller als Handke, von dem man nie wisse, wohin er wolle. Bernhards Schnörkellosigkeit käme ihm gerade recht. Er sei für ihn wie ein Scharfschütze, der immer das Schwarze anziele. Keiner, der mit der Adjustierung der Zielanpeilung Zeit verbringen müßte. Und er geniere sich nicht, von seinem unmittelbaren Lebensumfeld ungeschminkt zu berichten. So dachte Freund Franz Josef, einer der ersten des Jakobsweges (er ging ihn von Krems bis Santiago in drei Monaten), 1978.
Bernhards Botschaft war trotz allen "Suderns" verdeckt. Er verdeckte durch diesen so typischen Stil des Umdrehens und Umdrehens, des Wiederholens und Abwandelns wie bei einer Fuge das eigentliche Motiv. Und das Motiv war sezierende Trauer. Das Motiv war nicht Trauern um die österreichische Versulztheit. Bernhards Motiv, wie es Elias Canetti nach einem privaten Treffen der beiden in Ohlsdorf im Tagebuch resümierte, war Trauer ob der übergroßen Gestalt des Todes. "Er trauerte, ich wütete", schrieb Canetti.
Bernhard trauerte um seinen Vater, den er nie kennengelernt hatte. Ein Herumtreiber, der keine Alimente zahlen wollte. Schlußendlich starb er 1940 an Gas, in Berlin, 43 Jahre jung, möglicherweise Selbsttötung. Nie erfuhr der Sohn, warum. Der Sohn wuchs bei den Großeltern auf. Der Großvater dient ihm zur Orientierung. Bernhard dankt es ihm zeitlebens. Ab 1950 schreibt er, und schreibend kämpft er sich "gegen den Strom". 1951 lernt er Hedwig Stavianicek in einer Lungenheilanstalt im Salzburgischen kennen, eine um 37 Jahre ältere Frau, mit der er innigste Seelenverwandtschaft verspürt. Er bezeichnet sie ohne Hehl als seinen "Lebensmenschen".
Vielleicht war es diese Herzensbeziehung zu dieser distinguierten Dame der Wiener Gesellschaft, die ihm dermaßen eigenwillige Einblicke in die Seelenverfassung der Wiener ermöglichte, doch sollte ich das nicht geographisch einschränken. Bernhards Blickwinkel war jedenfalls unzeitgemäß, doch seine daraus erschriebenen Aufrührer waren immer in der Zeit. Nicht umsonst war ihm Claus Peymann persönlicher Freund; sosehr, daß er diesem zu Ehren ein kurzes Theaterstück verfaßte. Pikanter Witz der schrägen Art. Ein Anhieb, einem Feldmarschall würdig. Peymann wiederum witzelte, er werde am Burgtheater zuerst Bernhard abarbeiten, dann werde er weiterschauen. Und so war es, – fast. Dann gab es Leute, die, als Bernhards "Burgtheater" erschien, tatsächlich eine Fuhre Dung vor dem Burgtheater abluden. Das war zeitgleich zu Waldheim, doch mit dem hatte der "Schreiberling", wie ihn Piffl-Percevic, der Bildungs- und Kulturminister unter Josef Klaus anläßlich einer Ehrung einmal hinter vorgehaltener Hand bezeichnen mußte, nichts im Sinn.
Es scheint mir nur allzu bezeichnend, daß diese beiden Eigenbrötler, Bernhard und Canetti, dermaßen verkannt werden. Canett war ja mehr noch Essayist. Doch er kam über die Wahrnehmung dieser dermaßen schockierenden, breitflächigen gesellschaftlichen Ignoranz des Todes nicht hinweg. Canetti war im Unterschied zum Ohlsdorfer "pumperlg’sund" und erlaubte sich deshalb immer wieder gelegentliche fuchsteufelswilde Ausbrüche. Dazu war Bernhard nicht in der Lage. Wohl wollte er es auch nicht. Er flüchtete sich auch nie ins Ausland. Lebte nicht wie Canetti in London. Bernhard war im Herzen eine Landratte. Eine österreichische Provinzratte. Kein Haus in der Toskana, nichts in Slowenien, nichts in Paris oder Florida. Bei Bernhard undenkbar.
Bernhard lebte in der Stille. Er horchte in sie hinein. Ein Bauer allein auf seinem Vierkanter, ohne Vieh, ohne das Muhen der Kühe. Auf einem solchen Gehöft beginnen die Steinmauern zu reden. Er lebte ohne Radio, ohne Fernsehen. Die Natur sprach mit ihm, ohne Unterlaß. Bernhard verstand die Vögel. Das Herz dieses großen Mannes, es war butterweich. Wer weiß, wohin er vordrang. Wer weiß, in welche Zeit. Wer weiß, in welches Gefühl. "Auslöschung", so sein letzter Roman. Was heißt Roman? Ein Monolog. Ein Monolog, der den Beweis liefert, wohin es den Dichter trieb, in welche Sphären. In die Sphären des Waisenkindes.
Mehr als alle anderen vermisse ich ihn. Diesen Mann, der aus einem tränenzerflossenen Gesicht sprach, fast immer, wie mir schien, liebevoll. Dieser gedankenverlorene Blick in die Ferne, mitten im Interview.
Gert Voss tot!
Der Mann, der einmal, in einem Gespräch mit dem „Standard“, den Tod als einen Skandal qualifizierte, der Tod als etwas, das lächerlich und überflüssig wäre, ist vorgestern, am 13.Juli 2014, dem Tag des Finales eines wie nie zuvor gewaltgeladenen Fußballspektakels, gestorben, an einer seltenen Form der Leukämie, wie zu lesen ist. Ein begnadeter, hoch und mehrmals dekorierter Schauspieler des deutschsprachigen Raumes, ein Proponent mehrerer Shakespearscher Rollen von bluttriefenden Menschenschlächtern wie Macbeth und Richard III., stirbt an einer aggressiven Blutkrankheit. Das ist das Erste, was ich denke.
Ich sah ihn zuletzt in einem Interview, einem Gedenkinterview zu Ehren George Taboris. Er sitzt neben einem anderen Wiener Kollegen auf einem Sofa. Gealtert, doch keineswegs krank. Zumindest nicht sichtbar krank. George Tabori war über 20 Jahre hinweg eine Erscheinung von 75 Jahren, – so schien es. Gert Voss war ein eigenes Kaliber. Ein Berserker. Eine Art Halbgott. Samson.
Ich nahm von ihm in den 80er-Jahren Notiz, als er gemeinsam mit Claus Peymann und Kirsten Dene ans Burgtheater kam. Eine Hofrevolution, wie sie drastischer nicht hätte ausfallen können. Eine aberwitzige Hofrevolution, deren österreichische Einfädler sich nie zu ihrer Idee deklariert haben. „Wenn das nur gut geht“, dachte ich. „Bei Brandauer und der Pluhar und all den anderen Granden.“ Jeder einzelne der staatlichen Burgtheaterschauspieler war ja eine Institution, eine quasi nicht wegschiebbare. Nein, und gerade deswegen holten sie Peymann, und der packte gleich sein Bochumer Ensemble mit ein, und Thomas Bernhard, der seine Knollennase immer im Wind hatte, schrieb flugs ein Theaterstück, „Ritter, Dene, Voss“. Und dabei hatte er keinem der drei Schauspieler jemals die Hand geschüttelt. Er hatte sie nur inkognito in Bochum gesehen. Scheinbar hatten sie ihn beeindruckt.
Die Inszenierung von Richard III. durch Peymann, Vossens erster Auftritt in Wien, war spartanisch und schob damit die Person Vossens ganz in den Vordergrund. Metallgeländer und Abwasserkanaldeckel. Richard der Dritte ein hinkender Meuchelmörder, der auf einem messerscharfen Kunstfuß daherhumpelt, ein Lustmörder, der ganz in der Zone des Blutes lebt. Ein Monstrum, nach dessen Laune und Bosheit die Menschen seiner Entourage, die Menschen seines Einflusses enthauptet werden oder nicht. Alleine das Thema war bereits ekelerregend. Erst recht Vossens Darstellung. Er dominierte den Saal. Es war praktisch ein Einpersonenstück. Er hing vorne, kurz vor dem Graben. Er sprach mit dem Publikum. Ich saß seitlich, in einer Loge, zum Glück, in sicherer Entfernung, und bekam so seine Energie, seine Blicke, seine Stimme nicht direkt ab. Ja, mich schauderte. Der Saal stand in Flammen, gebannt von dieser Stimme, diesem Anspruch. Ein blutgetränkter Seidenmantel. Eine Kreatur der Hölle, direkt der Kanalisation entsprungen. Es war geradezu eine verhängnisschwangere Okupation Wiens. „Oh Gott“, dachte ich, „das kann nicht gut gehen. Wie wollen die Wiener diesen Narzissen, der zehn Mal schlimmer als Paulus Manker ist, aushalten, und das noch in Verbund mit diesem Regisseur, der darüber hinaus der Direktor dieses Hauses ist? Einem Theatermenschen, der diese Inszenierung erfunden hat?“ Vossens Stimme dominierte den Saal wie niemandes Darstellers sonst. Neben diesem Monstrum verblaßten alle sogenannten „Doyens“ der Szene zu frommen Lämmern, Brandauer und Karl Heinz Hackl – auch er vor wenigen Wochen, etwa im gleichen Alter wie Voss, verschieden … – eingeschlossen. „Oh Gott“, dachte ich, „wie wird das die Pluhar hinnehmen?“ Es kam, wie zu erwarten, zum Aufstand gegen diese Invasion aus Bochum. Teile des Ensembles zogen sich zurück, ebenso wie Teile des Publikums, vor allem die älteren Abonnenten. Es hatte den Anschein, als wolle er die Bevölkerung schockieren und dann auffressen. Dann kam „Ritter, Dene, Voss“ aus Bernhards Feder, der typischen Bernhard’schen Feder, Deutsche Dekadenz, hatte es den Anschein. Die verewigte Brandteigkrapfenszene bei Tisch. Das war nicht mehr skurril. Die Zuschauer verließen in Scharen den Saal, ich erinnere mich, ließen die Sessel geräuschvoll hochklappen. Es war spürbar, sie hatten Vossens Hohnlachen im Rücken. Eine doppelt und dreifache Provokation, das spürte jeder. Das war nicht mehr Rollenspiel, das war Exzeß. In Wien überschritt man nie die Grenze. An der Burg war zuvorderst Noblesse angesagt. Das war die ungeschriebene, geradezu historische Devise. Die Noblesse der Darsteller, die Noblesse des Stückes. Das Stück, so sollten es alle spüren, blieb in der Epoche seiner Entstehung, auch bei modernem Bühnenbild. Die Schauspieler blieben in der Epoche. Sie stellten dar. Sie waren nicht. Sie blieben bei allem sie selbst, in aller Eloquenz, in aller Brillianz, in allem Talent, und in Ihrem Anspruch, den man ihnen, da sie nun mal allesamt Narzisse waren, zubilligte. Das gehörte eben zur Burg. Und nun das. Ein Höllenfürst, schlimmer als Hitler, schlimmer als Göbbels mit Klumpfuß. Kein Gestörter. Kein Psychopath. Ein einsamer Gedächtniskünstler, der sich das Publikum unterwirft. Sie strömten in Scharen hinaus. Das war zuviel für ihre Nerven. Und dieser Mann sollte fortan honoriertes Mitglied des Ensembles werden! Und er wurde es. „Kammerschauspieler“! „Kaiserlich-königlicher Hofkammerschauspieler“. Das war der historische Titel. Ein Staatsbeamter, der nach einem komplizierten Schema bezahlt wird, egal, ob er spielt, sich auf Rollen vorbereitet oder gerade nichts tut.
Voss trat in Wien auf, als hätte er eine Mission. Die Leute verstanden das nicht. Was will der hier? Was hat er uns zu sagen? In der Tat, er hatte etwas zu sagen: Der Sündenpfuhl hier, dieser nicht ausrottbare Opportunismus des diplomatischen Hindurchlavierens, des Sich-mit-jedem-Gauner-ins Bett-Legen, muß ein Ende haben. Bernhard hatte recht, als er zu Peymann meinte, dieser solle nicht die Nationalflagge auf der Spitze der Burg hissen, sondern eine Flagge, auf der geschrieben stünde: „Mord und Totschlag“. Damit, so Bernhard zu Peymann, würde er wirklich und endgültig im im kollektiven Gedächtnis haften bleiben. Ja, Bernhard war ein Freigeist, ein wahrlich freier Geist. Und Voss, ja, er hatte eine Mission, eine den deutschen Sprachraum umfassende. Eine größere als jene Bernhard Minettis oder Josef Meinrads.
Die Meinungen über Voss von Fachkollegen sprechen eine deutliche Sprache. George Tabori sagte über Gert Voss: „Er ist ein gefährlicher, nackter Schauspieler, ein unheimlicher Clown, ein wilder Stier, aus dem Käfig ausgebrochen.“
Und Peter Zadek: „Gert Voss hat überhaupt sehr große Ähnlichkeiten mit Laurence Olivier. Auch Gert Voss hat die Gabe der Vereinfachung und der Klärung. Laurence Olivier hatte diese Ausstrahlung – man guckte nirgendwo anders mehr hin, wenn er auf der Bühne war. Er hatte einen command schon durch seine Stimme. Es war enorm, was Laurence Olivier mit seiner Stimme machen konnte. Das kann Gert Voss auch, der genauso wie er auch sehr scharf denkt.“
Und schließlich Hermann Beil, einer seiner engeren Weggefährten: „Gert Voss gefährdet sich selbst wirklich bis zum Äußersten. Insofern ist er kein Schauspieler, der einfach auf die Wirkung seiner sogenannten Persönlichkeit vertraut. Voss verwandelt die Bühne, indem er um sein Leben spielt. Er geht aufs Ganze, und weil er stets aufs Ganze geht, bringt er immer etwas anderes mit auf die Bühne.“
Ja, das trifft es wohl wirklich, und nicht zufällig saßen Hermann Beil und Gert Voss nebeneinander auf dem Sofa, als sie sich an George Tabori, diese so sympathische Vaterfigur, erinnerten. Gert Voss brachte etwas mit auf die Bühne, sobald er auftrat. Scheinbar war es ein Teufel, ein beängstigender. Etwas Nicht-Verhandelbares. Doch es war etwas Anderes. Ernst. Tödlicher Ernst.
Voss, als er gefragt wurde, was sei der Sinn des Lebens: „Poooh, dazu kann ich nichts sagen.“ Ja, so war er: Ehrlich und realistisch. Ein Realist durch und durch. Ein Mann, der die Erz-Bestie bekämpfte. Das ist nicht untertrieben.
Gert Voss ist tot. Nicht zu fassen. Ein schwerer Blitzstrahl hat Wien gespalten. Die Erde ist aufgebrochen und wird sich nicht mehr schließen. Nicht auf hundert Jahre. Die Geister der Erde kriechen hervor. Und sie werden sich nicht aufhalten lassen. Vossens Katafalk: Gigantisch, so wie seine Darstellungen. Du großer Gott. Hier ging ein Golem von uns, bescheiden, zart, zerbrechlich, abgemagert, mit traurigen, tiefernsten, brennenden Augen. Einer, der im Alter ein wenig friedlicher geworden war. Ja, das war er geworden: friedlich, doch ohne Konzessionen, was das Spiel anbelangte. Vossens Gesicht war in den letzten drei Jahren milde geworden. Ein Seher ist gewichen, auf ewig. Ein Mann, in China geboren, dem Reich der Mitte. Ein Mann, im Zeichen der Waage geboren, Mittler. Ein Mann, in Wien zuhause und dort gestorben, der Stadt der Mitte. Ein Mittler zwischen Himmel und Hölle: Das war Gert Voss.
Farewell, Mylord!
Dietmar Schönherr tot
Nun auch, gestern, Dietmar Schönherr tot. Ein Schauspieler der Regenbogenpresse, aber zeitlebens ein sympathischer, ein bemerkenswerter. Schönherr hatte einen schmalen Charakterkopf und eine ausgeprägt angenehme Stimme. Er war Tiroler, aber auf internationalem Parkett unterwegs, wo man ihm seine Abstammung nicht ansah, um so mehr, als er mit einer Dänin, Vivi Bach, treu und glücklich verheiratet war, zeitlebens. Vivi Bach hatte den leichten dänischen Dialekt, so wie Wencke Myrrhe, die Norwegerin.
Schönherr war mein Jugendheros. Alleine deshalb verdient er es bereits, daß ich um ihn trauere und schreibe. Die Nachricht seines Ablebens auf Ibiza heute morgen ließ mich atemlos. So folgt er seiner geliebten Vivi nach. "Ich bin ein gebrochener Mann. Nichts hält mich mehr hier", hatte er einem deutschen Reporter der "Bunten" letztes Jahr unter Tränen gestanden. Ich laß es in 10.000 Metern Höhe. Das Magazin steckte im Vorderfach. Vivi Bach war tot auf dem Nachmittagssofa gelegen. So hatte er sie gefunden. Ein Tod ohne Ankündigung. Ein Tod ohne Abschied. Sein Gesicht, wie es heute im "Standard" affichiert wurde, zeigt einen 88-Jährigen, der alles durchlitten hat. Einen Kämpfer, der das Leben in seinen spirituellen Aspekten durchdacht, durchlitten hat. Durchlitten! Er war kein Trinker und kein Hurenbock, ganz und gar nicht. Wie gesagt: Er war monogam. Nur Vivi Bach. Ein Vorbild-Katholik. Er war unendlich nobel. Charmant. Er hatte eine betörende, noble, aristokratische Stimme. Er war freundlich. Er war der Schutzengel Nicaraguas. Und er war beileibe kein Kommunist. Er war nur ein sozial Gerechter. Einer der wenigen auf Gottes Erdboden.
Er war mein Heros der Kindheit, kaum hatte das Fernsehen, Schwarz-Weiß, zu uns gefunden. "Raumpatrouille Orion". Ich erinnere mich zeitlebens. Das ging mir unter die Haut. Die Uniformen, die eleganten Bewegungen, die Reisen in die Unendlichkeit. Diese nicht synchronisierte Stimme. Eine deutsche Produktion mit viel Phantasie, ohne platte Prügelei und Niederschießen. Charakterstudien. Ich war ein G’schrapp von Neun. Das prägte mich nachhaltig, bis zum heutigen Tag.
Dann kam die Samstagabend-Eurovisionssendung "Wünsch Dir was!", eine Familiensendung über Familien, moderiert vom Ehepaar Schönherr-Bach. Die beiden glänzten durch gegenseitiges Verständnis, Spontaneität und Entspanntheit, ähnlich wie Hans-Joachim Kulenkampff in seiner Show. Schönherr votierte öffentlich und engagiert für Kreisky. Vielleicht bekam er deshalb die Show, die der ORF mitproduzierte. Mit der Wünsch-dir-was-Show wurde Friedensreich Hundertwasser bekannt, denn er bekachelte das Haus einer Auftrittsfamile in deren Abwesenheit. Schönherr war der Geburtshelfer von Hundertwasser, in aller Gerechtigkeit, denn Hundertwasser wurde quasi über Nacht bekannt. Er trat in der Show auf, nach seinem gelungenen Coup, in typischer Tracht, mit Mütze und Bart. Einmal, zum Ende der Show, sprang Schönherr in voller Montur vom Dreimeter-Trampolin in ein Wasserbecken, inmitten des Studios. Eine Spontanaktion. Alle lachten. So entspannt ging es damals zu. Vivi Bach war immer aufreizend, aber auch nie übertrieben gekleidet. Sie hockten auf bequemen Bänken. Vieles war improvisiert, extrem familiär. Schönherr souverän.
Dann sah man ihn nicht mehr so oft im Fernsehen. Das ging einher mit seinem Engagement für Nicaragua. Das war schon nach Karl-Heinz Böhm, mit weniger oder überhaupt keiner Selbstdarstellung. Schlußendlich waren es ja sozialistische Sandinisten, mit denen er da kooperierte. Er fungierte einmal als Off-Kommentator einer Tierdoku-Serie, einer angenehm unaufdringlichen. Ich sah mir die Sendung extra wegen seiner Stimme an. Schönherr war immer nobel. Ich erinnere mich vage, ihn auch einmal als Ritter gesehen zu haben. Eine Rittergestalt, das war er darüber hinaus. Und einmal als Diskussionsteilnehmer, im Club 2 (oder war er da sogar Diskussionsleiter?). Immer diese umgängliche Noblesse. Dieses leicht nasale Millimetertirolerisch in der Stimme. Eine unvergeßliche Stimme. Er entfloß irgendwie, unaufdringlich. Einer der vielen Unaufdringlichen, die sich aus dem Showgeschäft zurückzogen. Ich vermißte ihn still. Manchmal fragte ich mich, was ist aus ihm geworden? Sein Gesicht nicht mehr zu sehen, nichts mehr von ihm zu hören – was noch schlimmer wog -, es war schade um ihn.
Nicaragua fand ein natürliches Ende, es wurde ein Selbstläufer, Schönherr wurde nicht mehr gebraucht. Er lebte auf Ibiza.
Dieses Gesicht! Dieses nach dem Tod seiner Gattin tief gezeichnete Gesicht! Wie selten eines! Diese unaussprechliche Trauer! Er ließ das Leben an sich heran, er ließ den Tod an sich heran. Ein Heros. Er entschwebte in die Unendlichkeit, in den dunklen Raum. Orion. Orion.
Oh, Herr Schönherr! Sie Wunderbarer! War eine herrliche Zeit mit Ihnen! Danke!
Das Buch gegen den Tod
Danksagung für Elias Canetti
„3.März 1976.
Lieber Thomas Bernhard,
Ich habe Sie hart kritisiert, und Sie schlagen nun besinnungslos um sich.
Sie wissen sehr wohl, wie ernst ich Ihre Sache genommen habe, noch von der „Verstörung“ war ich, ich habe es Ihnen selbst gesagt, stark beeindruckt. Dann bekam ich von Ihnen folgende Äußerung zu Gesicht: „Der Tod ist das Beste, was wir haben.“ Das empfand ich von einem, der dem Tod schon nahe war und ihm entkommen ist, als einen abscheulichen Zynismus. Niemand weiß besser als Sie, wie sehr wir vom Tod verseucht sind. Daß sie sich noch zu seinem Anwalt machen, hat mich mit Mißtrauen gegen Ihr Werk erfüllt. Ich bin überzeigt davon, daß es eben durch diese Überzeugung schwächer wird, und wollte Ihnen das öffentlich sagen. Sie reagieren immer blindwütig auf Kritik. Da ich aber kein Zeitungsschmierer bin, dachte ich, daß ein harter Stoß von mir, den sie in Wirklichkeit ganz anders sehen als in Ihrer Schimpftirade, sie zur Besinnung bringen könnte. Sie haben niemand, der Ihnen die Wahrheit sagt, ist sie Ihnen gleichgültig geworden?
Ihr Elias Canetti“
„Diesen Brief wollte ich abschicken, sehr gegen meine Überzeugung, für den Fall, daß Bernhard von meiner Kritik zu sehr betroffen wäre, nämlich so, daß ich ihn ernsthaft geschädigt hätte.
Ich hab’s mir dann überlegt: Seine Reaktion, was immer ihre Ursache, ist doch so infam, so tief unter dem Schlimmsten, was Menschen auch im Zorn sich herausnehmen können, daß ich es nicht tun darf. Er könnte es stolz auffassen: als einen Versuch von mir, mich seiner Beschimpfung zu entziehen. Dann hätte er aber Erfolg gehabt und wäre in seiner Gemeinheit bestärkt. Das wäre das Gegenteil dessen, was ich erreichen wollte. Der Brief soll bei mir so stehenbleiben, wie ich ihn abgefaßt habe, als Zeichen dafür, wie mir wirklich zumute war.“
(Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München 2014, S.169 f.)
Canetti war österreichischer Literaturnobelpreisträger, immerhin. Wer erinnert sich noch daran? Es war 1981, 13 Jahre vor seinem Tod. Er wurde 89. Seine Tochter Johanna, die er spät, 1971, in zweiter Ehe zeugte, wurde noch groß und erwachsen, 22 Jahre, ehe er starb. Seine Tochter hielt ihn am Leben. 1972, als ihm Johanna von seiner Gattin Hera Buschor geboren wird, vermerkt er in seinem Werkbuch: „Deine Verachtung für alle, die Tod und Geburt gleichgesetzt haben, so als wäre jener durch diese auszugleichen. Jetzt aber denkst du selbst an Geburt, und siehe da, der Tod fällt dir kaum mehr ein, er bedrängt und kümmert dich nicht, plötzlich ist er dir gleichgültig, und es zählt dir nur die erwartete Geburt. Wäre es möglich, daß du vom Tod besessen warst, weil du bis ins hohe Alter hinauf nie auf eine Geburt hin gelebt hast? Dazu wäre zu sagen: Selbst wenn dir dein eigener Tod durch diese Geburt erleichtert wird, so ändert das nichts am Tod all der anderen. An sie hast du doch wirklich gedacht, nicht an dich. Deine Besessenheit war nicht selbstsüchtig, sie war, was sie war, für alle. Welche Geburt, die du erlebst, könnte ihren Tod lindern? Aber eine Erkenntnis hast du aus der neuen Situation deines Lebens gewonnen: Daß die Menschen nicht ernsthaft gegen den Tod rebelliert haben, hängt damit zusammen, daß es ihnen gegeben war, neues Leben zu erzeugen. Damit waren sie beschäftigt, das hat sie bestochen. Eine ungeheure Einrichtung, dieses Erzeugen von Kindern. Das Aufblühen neuen Lebens neben dem eigenen, das verwelkt. Die Hoffnung auf Verbesserung des neuen Lebens, da man mit dem eigenen nicht zufrieden war. Es läßt sich sehr viel für dieses Weitergeben des Lebens sagen, denn mit dem eigenen kommt niemand zurecht. Aufstieg und Abstieg hart nebeneinander.“
Canettis größte Furcht war, zu früh zu sterben, so wie sein Vater, ein scheinbar kerngesunder Mann, den der Herzinfarkt hinweggerafft hatte, als der schwer verstörte Sohn gerade mal sieben Jahre alt war. Was für ein Schlag! Was für eine Verstörung! Canetti verlor auch noch relativ früh seine zwei bereits ins Alter gekommenenen Brüder, die er dann beinahe 40 Jahre noch überleben sollte. Mit der Geburt seiner Tochter Johanna in Zürich veränderte sich das Leben dieses mysteriösen sephardischen Schriftstellers, der Österreich den Rücken zukehrte, bevor das Große Morden auf Europa überschwappte. Er verbrachte einen Großteil seines Lebens in London und ließ sich schlußendlich in Zürich nieder. Der Großteil von Canettis Werk liegt nach wie vor im Nachlaß, der von der Stadtbibliothek Zürich verwahrt bzw. so wie seine Briefe bis 2023 unter Verschluß gehalten wird. Jetzt ist das „Buch gegen den Tod“ erschienen, eine sich durch Canettis gesamtes Leben ziehende versuchte Abrechnung mit dem Tod, wohl entscheidend geprägt vom frühen tragischen Verlust seines Vaters.
Es ist nur allzu bezeichnend, daß Canetti und Bernhard zusammentrafen, doch wer in Österreich wußte davon? So groß ist unsere Ignoranz, ja selbst die Kulturignoranz! Auch Handke war einmal auf Bernhards Vierkanter in Ohlsdorf, doch das geschah aus Höflichkeit, im Beisein anderer Leute aus dem Buchsektor. Handke war schon in jener Zeit klug und ließ sich – auch wenn er durch den Suizid seiner Mutter ein naheliegendes Motiv zur Apportierung gewisser Sichtweisen als Gesprächsthema mit Bernhard gehabt hätte – nicht in die Untiefen der Bernhard’schen Grummelei zerren, doch Canetti kam alleine, und sie wanderten alleine, zu zweit, durch die Felder des Salzkammerguts, ich stelle es mir idyllisch und sonnenbeschienen, mit unaufdringlichem Wind, vor. Mit Bernhard konnte man – werkbezogen – nicht normal reden. Er war zeitlebens verletzt und neigte zu Verletzungen. Er trug die Lungenkrankheit in sich. Das war bei Canetti nicht der Fall. Canetti war Pfeifenraucher und britisch. Und jüdisch, Gott sei Dank. Eine andere Kategorie. Er litt nicht an Österreich. Das hatte er nicht nötig. Er litt nicht an Wien. Die Stadt hatte ihn nicht verstört. Das war wohl seine größte Qualität. Das meine ich ernst. Er hatte Wien mit seinem Roman „Die Blendung“ verdaut. Ein seltsam verstörender Roman, ein seltsam verstörendes Sujet. Die Wiener Verbiestertheit in Gestalt einer Haushälterin, die die Hauptfigur des Romans, einen koryphäenhaften Sinologen, versklavt. Eine antike Domina. Der Roman endet mit der Inbrandsetzung der Bibliothek und dem Feuertod als Befreiungsakt.
Als Canettis Hauptwerk gilt „Masse und Macht“. Er schrieb es über Jahre hinweg, nicht in einem Guß. Er studierte sein Sujet gewissenhaft, in verschiedenen Kulturen, ohne dazu Hampstead zu verlassen (seine einzige Reise über den Kontinent hinaus, zeitlebens, ging nach Marokko). „Masse und Macht“ ist kein Roman, sondern eine Studie. Canettis Interessen waren breiter gestreut als bei gängigen Schriftstellern. Der Tod blieb das generelle Hintergrundtthema. Eine permanente, zurückgehaltene, nur dem Tagebuch, dem Werkbuch anvertraute Klage, eine gnadenlose Anklage. Es interessierte ihn dieser Trieb des Menschen, sich zu Massen zu sammeln und darin, quasi aufgelöst, in den Tod zu rennen. Die Aufgabe des individuellen Bewußtsein. Dieses Interesse ging parallel oder, besser, war eingelagert in die Untersuchung, in die Meditation, in die Betrachtung, wie das Bewußtsein des Sterben-Müssens das Leben des Menschen beeinträchtigt, wie es dieses formt. Dieses Betrachten und Bedenken war eine Lebensaufgabe, von der er 1987 wahrlich luzide bekannte: „Ich glaube aber, daß ich die letzten und eigentlich wichtigen Dinge nur sagen kann, wenn ich weiß, daß ich ihre Aufnahme nicht erleben werde.“
Gerade das schmerzt. Elias Canetti, Literaturnobelpreisträger. Zurecht. Ein wahrlich Großer. Die Größe seiner Betrachtungen liegt im Archiv. Das ist britische Noblesse. So wie der Nachlaß Freuds, der in London liegt, nicht in Wien. Mit Canetti können wir sagen, ein Toter steht auf. Ich wünsche es mir. So wie der Herr aus Ohlsdorf, der verkannte Einsiedler-Bauer, ein Lebtag lang unbeweibt, um den ewig schade ist. Mein Gott. Ein riesengroßes Drama. Direkt vor unseren Augen.
Interview mit Thomas Bernhard 1979
André Müller, DIE ZEIT
Das Hoftor ist offen, aber nirgends ein Laut. Eine Klingel gibt es nicht. Um mich bemerkbar zu machen, müßte ich rufen. Schon meine Anwesenheit erscheint mir als Indiskretion. Ich setze mich auf eine Bank an der Hauswand, um zu warten, bis Bernhard mich findet. Aber dann warte ich doch nicht, sondern schaue durch die Fenster im Erdgeschoß, ob ich ihn in einem der Zimmer entdecke. Ich sehe den Hinterkopf einer Frau und klopfe an die Fensterscheibe. Bernhard sperrt mir die Tür auf. Die Frau ist die Tante. Das Zimmer ist jenes, in welchem bei meinem ersten Besuch das Bügelbrett stand. Es ist stark überheizt. Bernhard sagt, wie zur Erklärung, er sei erkältet. Die Tante will, als sie mich sieht, sofort gehen. Sie werde, sagt sie, einen Spaziergang mit dem Sonnenschirm machen. Bernhard nimmt den Satz auf, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Sie wolle, korrigiert er, einen Sonnenspaziergang mit dem Regenschirm machen, als hätte sie die Begriffe verwechselt. Sie aber bleibt dabei, daß der Schirm ein Sonnenschirm sei, denn sie besäße noch einen anderen für den Regen. Damit sei nichts bewiesen, sagt Bernhard, es seien dann eben zwei Regenschirme. Die Tante setzt sich. Schon bin ich Zuschauer einer Theaterszene. Es ist, denke ich, eine erotische Szene. Anstelle der Berührungen stehen Worte, und die Worte sind Anklammerungen. Ich drücke die Aufnahmetaste meines Tonbandgerätes und sage, als wäre das Einschalten mein Stichwort, den ersten Satz:
"Die Frage ist, wodurch sich ein Sonnenschirm von einem Regenschirm unterscheidet."
"Durch die Farbe", antwortet die Tante. "Ein schwarzer Schirm ist ein Regenschirm. So ist es zu meiner Zeit immer gewesen."
"Durch die Farbe? Ich dachte immer, auch durch die Rüschen."
"Na gut. Da gab es vielleicht eine Zeit, wo das modern war."
"Na ja, Kinderl", sagt Bernhard, "modern ist alle paar Jahre was Neues, also hat es praktisch alles gegeben im Leben … "
"Nein, also schau", sagt die Tante, "es war immer so, daß es auf die Farbe ankam. Ich werde doch wissen, was es sechzig Jahre meines Lebens gegeben hat."
Bernhard: " … noch dazu in Wien, da sind die Leute um die Jahrhundertwende sicher mit allen möglichen extravaganten Schirmen herumgegangen."
Tante: "Ja, mit Sonnenschirmen, das bestreit‘ ich doch gar nicht."
Bernhard: "Wir werden uns wegen einem Schirm umbringen gegenseitig."
Tante: "Nein, dazu habe ich keine Kraft, da werd‘ ich was anderes finden, wofür es sich mehr lohnt, sich anzustrengen. "
Bernhard: "Geht das überhaupt, daß man sich gegenseitig umbringt?"
Ich: "Ja, wenn der eine schon getroffen ist und im Sterben den anderen noch erschießt."
Bernhard: "Stimmt, gegenseitig muß ja nicht gleichzeitig heißen. Aber wenn zwei sich erwürgen zur selben Zeit und gleichzeitig tot sind … "
Tante: "Danke, danke."
Bernhard: " … und die Zunge kommt bei beiden zugleich heraus, und dann kommt einer mit einer Heftmaschine und klammert die zwei Zungen zusammen und schleppt sie hinaus … unterm Regenschirm."
Tante: "Ich überleg‘ gerade: Kann man das? Derjenige, der kräftiger ist, ist ja dann früher fertig."
Ich: "Die Gleichzeitigkeit ist ja überhaupt ein Problem, auch in der Liebe."
Bernhard: "Da kommt sie ja vor."
Ich: "Wirklich?"
Bernhard: "Na ja, auch nicht auf die Hundertstelsekunde."
Tante: "Das hab‘ ich jetzt nicht gehört."
Bernhard: "Macht nichts."
Nun bin ich im Spiel und muß es weitertreiben. Das Tonband läuft. Aber was ist meine Rolle?
"Kennen Sie die Frau Teufl?" frage ich die Tante. "Die nahm, als ich das letztemal hier war, Ihren Platz ein. Nur saßen wir damals im anderen Zimmer."
"Mit der Agi waren wir einmal in Wien", sagt Bernhard, "da war auch die Hilde Spiel mit und ihr alter Mann*, das war recht amüsant, da hat sie eine Gulaschsuppe bestellt, und dann hat sie mit beiden Händen in den Teller hineingegriffen, und dann waren alle angespritzt. Die Spiel hat ein frisches Kostüm angehabt, so ein Seidenkostüm, das war dann überall mit Gulasch gesprenkelt. Das Herrliche war, daß die Agi, die an allem schuld war, beleidigt war, weil man sie nicht bedauert hat, obwohl sie
auch von oben bis unten voll war."
Die Tante schaut zum Fenster hinaus.
"Im Grunde", sage ich, "redet man doch andauernd Blödsinn. Aber es ist so schön, den Blödsinn dann aufzuschreiben . Ich hab‘ mir beim Herfahren die ganze Zeit überlegt: Wie werde ich ihn zum Reden bringen? Und jetzt reden Sie schon von selber."
Bernhard: "Und hiermit verstumme ich auch schon. Denn da wird man natürlich hellhörig, wenn Sie so etwas sagen, und dann schweigt man, und dann ißt man, und dann schweigt man wieder, weil man müd‘ ist vom Essen, und so vergeht die Zeit."
Wo sind meine Fragen? denke ich. Es waren Scheinfragen. Sie haben sich verflüchtigt. Meine Neugier äußert sich nicht mehr in Fragen. Ich bin über die Fragen hinaus.
"Der Grund, weshalb ich hergekommen bin, ist, daß ich von Ihnen einen Text haben will, ganz egal, welchen. Denn Sie sind der letzte … "
Bernhard: " … der letzte Rest."
"Nein, der Höhepunkt. Aber fragen kann ich nicht mehr."
Bernhard: "Fraglos."
Tante: "Ich frage mich schon die ganze Zeit, was das werden soll. Ein Interview? Eine zwanglose Unterhaltung? Oder was soll das werden?«
Bernhard: "Zwanglos ist gar nichts."
Tante: "Doch. Aber wenn du in einem Interview bist, bist du zum Antworten gezwungen."
Bernhard: "Wer sagt das?"
Tante: "Das ist halt so eine Redensart: sich zwanglos unterhalten."
Bernhard: "Redensarten sind bei einem Schriftsteller gefährlich. Alles, was ein Schriftsteller sagt, entlarvt ihn, sofern er überhaupt eine Larve aufhat."
Tante: "Hat doch jeder."
Bernhard: "Weil sie einem ja von einer Sekunde auf die andere nachwächst. Nur, wenn man tot ist, kann man sie nicht mehr aufsetzen. Die letzte Larve ist die Totenmaske. Aber da muß man rechtzeitig einen Bildhauer haben, oder wie nennt man die Leute, die so was machen? Totenmaskeure? Wo findet man auf dem Land jemanden, der einem die Totenmaske abnimmt? Das muß ja innerhalb einer Stunde gemacht sein. Da muß also einer schon instruiert sein von einer Schwester, die ahnt, daß es aus ist. Der rührt schon in seinem Teigerl, und wenn der Betreffende sich dann hinlegt und stirbt, haut er ihm das aufs Gesicht drauf. Es muß noch eine Spur Odem in dem Toten drin sein."
"Haben Sie das gesehen?"
"Totenmasken hab‘ ich schon viele gesehen."
"Ich meine, Leichen."
"Meine Großmutter ist mit mir immer in die Leichenhäuser gegangen, als ich klein war. Dann hat sie mich hochgehoben und gesagt: Schau, da liegt wieder eine. Einmal hat sie erzählt, daß die Leichen durch Drähte mit einer Klingel verbunden werden, damit, wenn sie wieder zu sich kommen, der Totenwärter alarmiert wird. Da schrillte dann irgend etwas. Das hat man gemacht, weil einmal die Frau eines Mühlenbesitzers, die schon tot war, wieder aufgewacht ist. Die war also nur scheintot. Die ist dann in ihrem Papiergewand vom Kommunalfriedhof heimgelaufen und hat an der Haustür geläutet, und ihr Mann, der Mühlenbesitzer, hat heruntergeschaut, und wie er sie gesehn hat, hat ihn der Schlag getroffen, und dann war er tot, und die Frau hat weitergelebt. Von da an gab es dann diese Signalanlage."
Tante: "Erinnerst du dich an die Geschichte, die ich dir einmal erzählt hab‘, von dem Arzt, der nie seinen Beruf ausgeübt hat, und dem Leichenzug, wo plötzlich eine Hand aus dem Sarg fiel, und der Arzt hat gleich zugegriffen und ist draufgekommen, daß da noch Leben drin war, und ein paar Wochen später hat er schon wieder seinen Beruf ausüben können."
Bernhard: "Wieso, wenn er ihn nie ausgeübt hat, kann er ihn ja nicht wieder ausüben."
Tante: "Nicht der Arzt, sondern die Leiche."
Bernhard: "Na, eine Leiche kann erst recht keinen Beruf ausüben."
Tante: "Ich meine, der, der für eine Leiche gehalten wurde."
Bernhard: "Die vermeintliche Leiche."
Tante: "Sonst wäre es ja kein Leichenzug, wenn man gewußt hätte, daß er noch lebt."
Bernhard: "Der vermeintliche Leichenzug."
Ich wundere mich, daß die Tante das aushält, dieses bohrende Scherzen über den Tod. Sie ist fünfundachtzig. Später erfahre ich: Sie ist gar keine Tante. Bernhard nennt sie nur so. Sie ist mit ihm nicht verwandt. Er hat sie 1950 in einer Lungenheilstätte kennengelernt. Er war damals neunzehn. Die Ärzte des Salzburger Landeskrankenhauses hatten ihn bereits aufgegeben. In seinem autobiographischen Buch "Der Atem" beschreibt er diesen alles entscheidenden Moment seines Lebens. Man hatte ihn in ein Badezimmer geschoben, das sich bald als Sterbezimmer herausstellen sollte. Bernhard sah zu, wie ein Mann in einen Zinksarg gelegt und hinausgeschafft wurde. In immer größer werdenden Abständen kam eine Krankenschwester herein, um seinen Pulsschlag zu fühlen: ob er schon tot sei. In dieser hoffnungslosen Situation entschloß er sich, unter Aufbietung all seiner Kräfte weiterzuatmen, das heißt, gegen alle äußeren Widerstände zu überleben. Er wurde dann in ein Sanatorium nach Großgmain und schließlich nach Grafenhof überwiesen, wo auch die Tante zur Kur war.
"Macht Ihnen das nichts aus, daß er andauernd Witze macht über das Sterben?"
Tante: "Ich liebe es nicht. Wenn er mit mir allein ist, macht er es nicht. Er nimmt auf mich Rücksicht."
Bernhard: "Ich halt‘ meine Toten z’ruck. Ich laß sie nicht aus dem Sack. Nur manchmal, zur Erpressung, zeige ich ein paar Totenköpfe und drohe ein bissel, und dann tu ich sie wieder hinein."
"Wird man nicht durch solche Geschichten ständig an den eigenen Tod erinnert?"
Tante: "Das stört mich nicht. Das ist ja mein tägliches Morgenerwachen."
Bernhard: "Du wachst sowieso im Paradies auf."
Tante: "Das weiß ich nicht. Wo ich aufwach‘, weiß ich nicht."
Bernhard: "Vielleicht an irgendeiner Straßenkreuzung, wo Schilder sind, die man nicht versteht, und man weiß nicht, wo man hingehen soll, und ein eisiger Wind pfeift."
Tante: "Es kann ja nicht viel passieren. Entweder es geht weiter, oder es ist aus."
Bernhard: "Und wenn’s aus ist, dann weiß man eh nichts davon, dann kann man auch keine Angst mehr haben. Zuerst ist man krank, dann ist man tot, und ein Toter ist gar nichts, höchstens ein Plastikküberl, das man auf den Müll schmeißt."
Ich: "Solange wir uns über den Tod unterhalten, kann er uns keine Angst einflößen."
Bernhard: "Aber das hält ja keiner lang aus. Da rennt zuerst einer davon, dann der zweite, und dann sind alle wieder für sich allein und befreien sich von dem Gedanken. Das geht nur im Theater, daß man so lang über das redet, aber da ist es ja auch nach zwei Stunden vorbei, und dann rennen alle davon, wenn sie nicht eh schon in der Pause fort sind."
"Aber die Frage ist doch: Wohin rennt man?"
Bernhard: "Nirgendwohin. Man rennt von was weg, aber man nimmt das ja mit. Die Wut und Verzweiflung und alles bleibt ja in einem. Das dauert noch eine Weile, bis die physische Trennung eine wirkliche wird … Wahrscheinlich gibt es gar keine wirkliche Trennung. In jedem sind ja alle Menschen vorhanden, mit denen er einmal zusammen war in seinem Leben. Als Resultat all dieser Menschen sitzen wir da. Alles, was uns begegnet, bleibt in uns drin, und genauso bleiben wir in den andern."
Tante: "Das ist die Unsterblichkeit. Solange jemand da ist, der an dich denkt und von dir redet, bist du unsterblich. "
Bernhard: "Na ja, man muß es sich einfach machen, weil es anders nicht geht. Aber stimmen tut das alles sowieso nicht. Nur weiß ja keiner, was stimmt. Ist ja auch wurscht."
Tante: "Woher kommt bei dir dieses ,Wurscht‘? Das ärgert mich furchtbar. Abgesehen davon, daß ich nicht gerne Würste esse, hasse ich diese Redewendung. Vielleicht stört es mich rein akustisch. Aber was soll es bedeuten?"
Bernhard: "Vielleicht ist das Brat** g’meint, wo das Fleisch und das Fett und das alles hineinkommt, was man sich nicht erklären kann. Das wird dann zur Wurst letzten Endes und wird hineingepreßt in die Natur."
Tante: "Ich gehe."
Bernhard: "Wohin?"
Tante: "In die Küche."
Bernhard: "Kirche?"
Tante: "Nein, das ist mir zu weit."
Sie steht auf.
Bernhard: "Du hast ein Riesenloch rechts im Strumpf, mindestens so groß wie eine Zwetschge."
Tante: "Dann muß ich mich eben ausziehen."
Sie ist aus dem Zimmer. Mir bleibt nichts anderes übrig, als nun doch ein Interview zu versuchen:
Woran denken Sie?
Bernhard: "An gar nichts."
Woran haben Sie gedacht, bevor ich da war?
"Da waren drei Männer da, die wollen Hochspannungsmasten aufstellen. Das ist eine Leitung von Ohlsdorf nach Lambach, und da mußten ungefähr hundertfünfzig Leute ihre Zustimmung geben, weil es durch ihren Grund geht. Aber ich hab‘ nicht unterschrieben, ich hab‘ gesagt, ich unterschreib‘ ja nicht meinen eigenen Schaden. Das wäre ja so, wie wenn man sich bereit erklärt, das eigene Todesurteil zu unterschreiben. Andererseits wollte ich aber nicht die Bauarbeiten aufhalten, weil das genauso absurd ist. Warum soll man das stören, wenn es sowieso gemacht wird? Da mußte man halt eine Lösung finden, so daß die weiterarbeiten können, ohne meine Zustimmung zu haben. Das war gar nicht so einfach."
Zu welcher Einigung sind Sie gekommen?
"Ich hab‘ gesagt, ich bin grundsätzlich dagegen, aber weil ich es eh nicht verhindern kann und damit es erledigt ist, hab‘ ich zugesichert, daß ich keine Besitzstörungsklage einreichen werde, wenn die mit dem Ausheben anfangen. Jetzt muß ein gerichtliches Enteignungsverfahren durchgeführt werden. Aber das ist ja nicht meine Sache. Das geht mich nichts an."
Ist es Ihnen egal?
"Wenn man machtlos ist, kann der Mächtigere sowieso alles machen. In dem Moment, wo ich weiß, daß ich aus einer Sache nicht mehr auskommen kann, muß sie mir wurscht sein, damit ich mich nicht unnötig mit den Nerven ruiniere."
Können Sie so ökonomisch mit Ihren Nerven umgehen?
"Es hätte ja keinen Sinn, sich da aufzuregen. Ich müßte mir einen Anwalt nehmen und als Entschädigung eine bestimmte Summe verlangen, aber erstens kann man das gar nicht entschädigen, und zweitens würde ich mich damit zerfleischen. Ich müßte jedesmal hinfahren, alle drei Wochen wär‘ die Verhandlung. Das Ganze würde sich mindestens eineinhalb Jahre hinziehen, und dann würden sie es ja doch bauen."
Zeigen Sie nie Ihre Gefühle?
"Ich bin zu den Leuten immer sehr freundlich."
Gibt es etwas, wovor Sie sich fürchten?
"Man fürchtet sich immer."
Zum Beispiel davor, überfallen zu werden?
"Angst vor Überfällen hab‘ ich eigentlich nicht. Ich bin ja hier ganz allein. Da müßte ich ja ständig Angst haben. Wenn mich einer überfällt, überfällt er mich eben. Es wird sich ja zeigen, was herauskommt. Entweder er ersticht mich oder er erschlägt mich. Das weiß man ja nicht. Da gibt es ja mehrere Möglichkeiten. Wenn mich einer umbringen will, macht er es sowieso. Wenn man es darauf angelegt hat, jemanden umzubringen, ist das an und für sich das Einfachste von der Welt. So bewacht kann man gar nicht sein, daß das nicht gelingt. Nur darf man halt nicht schwach werden als Mörder."
Was aber geschieht, wenn er Sie nicht ermordet, sondern nur als Störfaktor dableibt?
"Ewig bleibt keiner, weil jeder irgendwann müd‘ wird, der so was vorhat, und es länger als ein Jahr ohne Ausführung nicht aushält. Leute, die so was vorhaben, führen das ja immer zu einem Endpunkt, weil sie sonst wahnsinnig werden. Das ist bei solchen Vorhaben fast genauso wie beim Geschlechtsakt. Den hält man auch nicht aus, wenn er zu keinem Schluß kommt. Man kann es verzögern, das kann großes Vergnügen bereiten, aber ich glaub‘, ein Jahr lang kann man das nicht hinausziehen. Also wird alles zu einem Abschluß gebracht. Nur, was nutzt es, wenn der eine ausscheidet und der nächste schon im Hintergrund lauert? Das hat ja keinen Sinn. Sie liquidieren den einen, und ein anderer wächst viel größer schon hinten nach."
Jetzt sind aber Sie der Mörder.
"Na ja, wenn man die Macht hat, wenn man mächtiger ist als der andere, wird man, bevor er einen umbringt, vielleicht ihn erwürgen. Vielleicht hat man es aber auch gern, erwürgt zu werden. Das weiß man ja nicht. Man weiß ja nicht, was man in so einem Moment dann empfindet. Vielleicht paßt es einem dann g’rad‘ ins Gefühl, daß einer zupackt und zuadruckt."
Wenn man das auf uns zwei überträgt, müßte man annehmen, daß mein Interesse an Ihnen auch irgendwann zu einem Abschluß gelangt.
"Welcher Art?"
Das kann man nicht wissen.
"Da ist also von Messerschleifen bis … ich weiß nicht was, alles möglich."
Sie haben mir ja geschrieben, es wäre Ihnen gleichgültig, von mir ermordet zu werden, was mich erstaunt hat, denn diese Absicht hatte ich gar nicht.***
"Nicht? Die Leute würden einen doch heute, wenn sie könnten, wegen jeder Lappalie ermorden, davor schützt weder schönes noch schlechtes Wetter. Wann habe ich Ihnen denn das geschrieben?"
Im Februar, nachdem Sie in Jugoslawien gewesen waren, wo es Ihnen überhaupt nicht gefallen hatte.
"Was heißt gefallen! Es war halt nicht richtig."
Warum nicht?
"Es hat halt nicht funktioniert."
Das Schreiben?
"Ja klar, das Schreiben. Ich bin da schon öfter ein paar Stunden gewesen und hab‘ gedacht, das wäre das Ideale. Aber das Ideale wäre es halt gewesen, auch diesmal nur ein paar Stunden zu bleiben. Ich wußte nicht, daß in dem Hotel nur lauter sieche, alte Leute wohnen, die hustend und spuckend durch die Gänge schlurfen."
Brauchen Sie Ruhe zum Schreiben?
"Ich kann an und für sich überall schreiben, wenn es soweit ist. Ich kann sicher auch unter Menschen schreiben, bei furchtbarem Lärm, wenn es parat ist, und wenn es nicht parat ist, kann die Ruhe noch so groß und so ideal sein, und es geht nicht. Einen bestimmten idealen Platz gibt‘ s nicht."
Was machen Sie, wenn Sie nicht schreiben können?
"Das ist scheußlich, absolut scheußlich. Aber letzten Endes ist man ja in das auch verliebt, weil man es ja schon weiß, daß ein monatelanges Grausen vorausgeht."
Sehen Sie fern?
"Unter Umständen, Nachrichten oder irgendeinen Blödsinn, was einen halt nicht belastet, je bleder, desto besser."
Gehen Sie spazieren?
"Fast nie. Ich bin kein Spaziergänger, überhaupt nicht. Ich renn‘ halt im Haus herum oder mach‘ irgendwas, ich weiß nicht, irgendeine blöde Beschäftigung, oder ich leg‘ mich ins Bett. Zu Mittag fahr‘ oder geh‘ ich wo essen, und dann denk ich mir, na ja, morgen wird es schon gehen, morgen fange ich an, aber in der Früh graust es mich dann so, daß ich mir wieder irgendeine Tätigkeit such‘, um nicht anfangen zu müssen. Das ergibt sich so. Da trödelt man halt herum, und dann ist es eh zu spät, dann sagt man sich, der Tag ist eh um, und dann ist wieder alles erledigt. Das kann sich Wochen und Monate hinziehen. Was mich hält, ist die Spannung."
Solang man es aushält ohne Schreiben, muß man es ja nicht tun. Rilke sagt, man darf nur, wenn man muß.
"Im Grunde muß man ja überhaupt nichts, man muß sich halt durchbringen, aber auch das nicht. Auch das muß ja nicht sein."
Muß man nicht Geld verdienen?
"Müßte man."
Wieso müßte? Sie tun’s doch.
"Na ja, das ergibt sich auch so."
Wovon haben Sie gelebt, bevor Sie Schriftsteller waren?
"Ich hab‘ fünfzehn Jahre praktisch von meiner Tante gelebt. Die hat mir jeden Tag als Taschengeld eine bestimmte Summe gegeben, ich glaub‘, das waren damals zehn Schilling, davon hab‘ ich sieben fünfzig bei der WÖK**** ausgegeben und zwei fünfzig im Kaffeehaus für einen kleinen Braunen, das hat mir genügt. Am Abend bin ich irgendwohin gegangen, wo Leute waren und wo es was zu essen und trinken gegeben hat, und um drei in der Früh bin ich nach Haus‘ gekommen."
Hat also Ihre Tante Sie ausgehalten?
"Mehr oder weniger. Aber nicht immer. Ich hab‘ dazwischen auch manchmal ein bissel verdient. Eine Zeitlang war ich Gerichtsreporter. Später hab‘ ich dann für die Gösser Brauerei Bier g’führt. Es hat ja oft Schwierigkeiten gegeben, so daß einem gegraust hat, weil das ja nicht angenehm ist, das Nehmen und auch nicht das Geben."
Wann hat sich das dann geändert?
"1965, als ich den Hof gekauft hab‘."
Mit welchem Geld?
"Ich hatte für ,Frost‘ den Bremer Literaturpreis bekommen, zehntausend Mark. Das waren siebzigtausend Schilling, aber der Hof hat zweihunderttausend gekostet. Da hab‘ ich meinen Verleger erpreßt innerhalb einer Stunde, oder nicht einmal, ich glaub‘, eine halbe Stunde hab‘ ich gebraucht. Ich hab‘ gesagt, jetzt oder nie, entweder Sie geben mir das Geld für den Hof, oder ich geh‘ zu einem anderen Verlag."
War "Frost" das erste, was Sie geschrieben haben?
"Nein, geschrieben hab‘ ich schon immer, schon mit zehn Jahren. Ich hab‘ jetzt so Gedichte gefunden, die noch mein Großvater, der Schriftsteller war, korrigiert hat. Da hat er mit Bleistift daruntergeschrieben: sehr gut oder gut oder blöd oder so was."
Was steht in diesen Gedichten?
"Na, der Mond geht halt auf oder die rote Laterne, oder ein endloser Wald zieht sich hin, solche Themen halt, Kinderthemen. Ich hab‘ ja damals auch einen Roman angefangen. ,Peter geht in die Stadt‘ hat er geheißen. Da kommt einer an am Salzburger Bahnhof und will in die Stadt gehen. Aber nach hundertfünfzig Seiten war der immer noch beim Hotel Europa, da ist er g’rad erst in die Straßenbahn eingestiegen, und da hab‘ ich gedacht, das wird nichts, der kommt nicht vom Fleck. Da hätt‘ ich ja zehntausend Seiten vollschreiben müssen, bis der endlich am Domplatz ankommt. Irgendwie wollte ich halt eine Handlung, es war aber keine."
Wie ist es zu Ihrer ersten Veröffentlichung gekommen?
"Das waren Gedichte. Ich hab‘ ja sehr viel Gedichte geschrieben und hab‘ mir eingebildet, die sind besser als von Rilke und Trakl und allen, und dann bin ich halt zum Otto Müller gegangen, in den ersten Stock, und hab‘ dort geläutet und hab‘ gesagt, ich bin der und der, ich bringe Gedichte, möchten Sie, daß das bei Ihnen herauskommt? Und der hat sich hingesetzt und ein paar aussortiert, und die sind dann eben erschienen. Das war 1956. Ich war ja sehr ehrgeizig damals und eingebildet und alles. Nachher, wenn man’s erreicht hat, sieht man eh, daß es eigentlich nix ist. Im Moment ist es so ein Gipfelgefühl. Aber wenn man oben ist, merkt man, das endet ja nie. Es ist ja letzten Endes alles nix. Ich hab‘ mir gedacht, als das erschienen war, na ja, ich weiß nicht, wenn das so einfach geht, kann es ja eigentlich gar nichts wert sein, und hab‘ dann aufgehört, weil es mich nimmer gereizt hat. Nach drei Gedichtbüchern hab‘ ich gedacht: Was hat das für einen Sinn? Zehn, zwanzig Gedichtbücher, wie soll das enden? Das wird ja eher immer blöder. Und hab‘ dann eine Zeitlang überhaupt nichts geschrieben."
Und wann wieder angefangen?
"Das nächste war ein Text für Ballett und Orchester, ,Die Rosen der Einöde‘, das ist bei Fischer erschienen. Ich hatte mal bei den Fischers gewohnt in Frankfurt, die kannten mich durch den Großvater, als ich ein Kind war, und da bin ich mit dem Hirsch***** in den Frankfurter Hof essen gegangen und hab‘ das Manuskript so neben mich hingelegt, und er hat gesagt, was haben Sie da, damit halt was in Gang kommt, und ich hab’s ihm gegeben, und er hat gesagt, das machen wir gleich, und gefragt, was für einen Schriftsatz ich möchte, und ich hab‘ gesagt, ich hätte so Gedichte gesehn von Marini, diese Schrift möchte ich haben, und dann haben die das in der Nacht noch gesetzt, und am nächsten Tag in der Früh waren schon die Korrekturfahnen fertig. Da war ich sehr stolz, weil die haben immer so Zeitungsanzeigen gemacht, da standen alphabetisch die Dichter, und ich stand ganz oben, und irgendwo unten stand Thomas Mann, das hat mich ungeheuer beeindruckt. Als nächstes hab‘ ich dann so kurze Prosastückerln geschrieben, aber ich war damals ziemlich exzentrisch, ziemlich ist fast untertrieben, und als der Umbruch schon gemacht war, hab‘ ich gedacht, ich möcht‘ lieber noch warten und hab‘ telegrafiert: Darf nicht erscheinen, übernehme die Kosten. Da hat der Hirsch eine Wut gekriegt, und dann war die Verbindung kaputt, und dann kam wieder so eine Phase, wo ich quasi nichtstuend in Wien g’sessen bin und bei der Tante gelebt hab‘. Die hat eine Wohnung gehabt, da war so ein Besenkammerl, da hab‘ ich gesagt, wozu brauchst du ein Besenkammerl, da geh‘ ich rein. Und dann bin ich baden gegangen ins Krapfenwaldl******, und plötzlich hab‘ ich wieder Lust g’habt, Prosa zu schreiben, und bin in der Früh aufgestanden um fünf und um neun ins Krapfenwaldl gegangen und hab‘ mich dort in die Sonn‘ g’legt und Zeitung gelesen und bin dann mittagessen gegangen und nach dem Mittagessen noch ins Kaffeehaus, und so zwischen vier und acht hab‘ ich wieder geschrieben, und dann war das Manuskript fertig, und ein Freund von mir war Lektor beim Insel-Verlag, und ich hab‘ gedacht, entweder es klappt oder ich geh‘ nach Afrika zu so einer Hilfsorganisation. Ich hatte dafür schon das Lastwagenfahren gelernt. Bei der Fahrprüfung ist g’rad‘ der Papst Johannes gestorben, 1963, darum weiß ich das noch … Also, ich hab‘ das Manuskript dem Wieland Schmied geschickt, und der hat es dem Arnold******* aufg’schwätzt, und drei Tage später war es schon angenommen und erledigt, und ich hab‘ nicht nach Afrika müssen. Aber dann bin ich wieder dag’sessen und hab‘ gedacht, was soll jetzt werden? Na, und dann war ich in Polen, da waren rote Fahnen, das weiß ich noch, und dann ist das Buch erschienen, und dann hab‘ ich in Hamburg zuerst den Julius-Campe-Preis dafür bekommen, der war dreigeteilt, da haben’s offenbar keinen gefunden, und dann den Bremer Literaturpreis und dann bin ich hierher, und jetzt bin ich da … Haben Sie schon zu Mittag gegessen?"
Bernhard schlägt eine Gaststätte in Steyermühl vor. An der Tür, die offen ist, hängt ein Schild: Ruhetag. Das Lokal, so stellt sich heraus, ist von den Besitzern wegen Unrentabilität verkauft und der Betrieb bis auf weiteres eingestellt worden. Bernhard: "Also kein Ruhetag, sondern die ewige Ruhe." Wir fahren nach Laakirchen, in ein anderes Wirtshaus. Bernhard bestellt Leberreissuppe und gebackene Pilze. Ich esse nichts, um unbehindert weiterfragen zu können.
Haben Sie schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen?
"Als Kind wollte ich mich aufhängen, aber der Strick ist gerissen."
Wie alt waren Sie da?
"Da war ich sieben, acht Jahre alt. Und dann bin ich einmal mit dem Großvater spazierengegangen, wir wohnten damals in Traunstein, und hab‘ während des Gehens ununterbrochen Schlaftabletten geschluckt, und auf einmal ist mir übel geworden, hab‘ ich gesagt, ich muß heim, das war von der Stadt ungefähr dreißig Kilometer entfernt, und bin weggelaufen und tatsächlich heimgekommen, wie, weiß ich nicht mehr, und bin dann vier Tage im Bett gelegen, in einem fort speibend, weil mir nichts im Magen geblieben ist. Da muß ich so zehn Jahre alt g’wesen sein."
Und was war danach?
"Danach bin ich verflucht worden als exaltiertes Kind, das Theater machen will und Unglück über die Familie bringt."
Denken Sie noch immer daran, sich umzubringen?
"Der Gedanke ist immer da. Aber ich hab‘ nicht die Absicht, jedenfalls jetzt nicht."
Warum nicht?
"Ich glaub‘, aus Neugier, reiner Neugier. Mich hält, glaub‘ ich, nur die Neugier am Leben."
Wieso "nur"? Andere sind nicht einmal neugierig und leben trotzdem.
"Ich bin ja nicht gegen das Leben."
Trotzdem gibt es Leute, die Ihre Bücher als Anstiftung zum Selbstmord auffassen.
"Ja, aber es befolgt es ja keiner. Erst neulich, vor vierzehn Tagen, ist plötzlich eine Frau vor meinem Fenster gestanden und hat gesagt, sie muß mit mir reden. Hab‘ ich gesagt: Ja, warum wollen S‘ denn mit mir reden? Ich bin gerade mit einer Mordsgrippe im Bett gelegen. Hat sie gesagt: Bevor es zu spät ist. Hab‘ ich gesagt: Wollen Sie sich umbringen? Hat sie gesagt: Nein, aber Sie. Hab‘ ich gesagt: Ich bestimmt nicht, sind S‘ vernünftig, gehen S‘ nach Haus‘. Hat sie gesagt, nein, und sie müsse herein. Hab‘ ich gesagt, das geht nicht, weil ich kann mich kaum aufrecht halten und würde mich jetzt wieder niederlegen. Hat sie gesagt: Brauchen S‘ keine Angst haben, ich hab‘ eh einen Mann, mit Ihnen ins Bett will ich eh nicht … Das hat sich alles am offenen Fenster abg’spielt, und wie ich das Fenster zumachen wollte, hat sie den Finger dazwischengehalten. Hab‘ ich gesagt: Ich zerquetsch‘ Ihnen den Finger. Da hat sie ihn dann herausgezogen, und ich hab‘ das Fenster zugemacht und bin wieder ins Bett gegangen. Nach einiger Zeit hab‘ ich hinausgeschaut, ist sie noch immer im Hof gestanden. Aber irgendwann ist sie dann doch weg gewesen, und dann hat sie mir einen Brief geschrieben, sie würde am Soundsovielten, es war ein Montag, um 20 Uhr auf dem Friedhof, beim rechten Tor, das sei ihr Lieblingsplatz, da würde sie auf mich warten. Aber ich bin an dem Tag gar nicht daheim gewesen. Und dann hat sie mir noch einen Brief geschrieben, sechzehn Seiten lang, in dem sie ihre ganze Lebensgeschichte erzählt hat, von ihrem Mann, den sie zu früh geheiratet hätte, und solche Sachen. Wahrscheinlich wollte sie sich mit mir zusammen auf dem Friedhof umbringen. Man weiß ja nie, was man alles bei den Leuten auslöst."
Wollen wir uns über die Wirkung von Literatur unterhalten?
"Lieber nicht."
Worüber sollen wir reden? Ich wollte mit Ihnen ein besonders langes Interview machen, so ungefähr zwanzig Seiten.
"Sie können ja ohne Rücksicht auf meine Person hineinschreiben, was Ihnen einfällt, wie es Ihnen halt für den Zweck paßt. Sie können schreiben, daß alles, was Sie sagen, ich gesagt hab‘. Ich würde es auch so machen. Wenn ich einen Gedanken hätte, wäre es mir ganz wurscht, wer den gesagt hat. Ich habe einmal, um Geld zu verdienen, für ,Radio Österreich‘, das ist so eine billige Wiener Radiozeitung, Vorankündigungstexte geschrieben, war aber zu faul, das alles nachzulesen, und so hab‘ ich, wenn zum Beispiel ein Vortrag vom Heidegger war, eigene, von mir erfundene Sätze ausgegeben als Heidegger-Sätze. Da ist mir halt irgendwas eingefallen, und da hab‘ ich geschrieben: Wie schon Heidegger sagte … Wer will nachprüfen, ob das stimmt oder nicht? Da müßten die Leute ja Tausende Seiten lesen."
Das kann ich nicht. Ich kann nicht etwas behaupten, was gar nicht stimmt. Ich kann nicht schreiben, Sie hätten zehn Selbstmordversuche gemacht, wenn Sie erst zwei gemacht haben.
"Na gut, die Fakten müssen halt stimmen."
Ja, und die müßten auch von Ihnen verbalisiert sein, denn ich möchte ja einen Dialog mit Ihnen haben. Es wäre also nötig, daß Sie, wenn Sie zum Beispiel lachen, sagen: Ich lache …
Bernhard: "Aber jetzt lachen ja Sie. Ich untermale jetzt nur Ihr Lachen mit meinen Worten."
Ich sehe, das geht nicht. Ich muß doch wieder versuchen, Fragen zu stellen. Lachen Sie auch, wenn Sie allein sind?
"Ich hab‘ auch allein schon gelacht, aber höchst selten."
Worüber?
"Über irgendeine Situation, das kann ja auch die eigene sein, wenn einem plötzlich irgendwas lächerlich vorkommt."
Auch über Ihre Verzweiflung?
"Ja, auch … (Er beginnt mit dem Essen. Ich stelle das Tonband ab …)
Warum schalten Sie aus?"
Weil Sie wahrscheinlich eh nicht reden beim Essen.
"Dann hört man halt nur das Klimpern der Gabel."
Eigentlich sind Sie ja sehr entgegenkommend. Immer wenn ich was tu oder sage, sagen Sie auch was.
"Na sehen Sie, das ist doch toll. Wenn man was hineinschmeißt, kommt immer was raus."
Ich fürchte nur, ich werde bald nichts mehr zum Hineinschmeißen haben.
"Sie dürfen nicht soviel überlegen. Wenn man zu viel überlegt, kommt einem schließlich alles blöd vor. Wenn ich mir vorher überlege, was ich schreiben will, und mir ein Konzept mache, und mich zu lange damit beschäftig‘, schreibe ich überhaupt nichts."
Mich wundert sowieso, daß Sie so produktiv sind, obwohl Sie sich der Sinnlosigkeit des Schreibens dauernd bewußt sind. Sie leben davon, über die Sinnlosigkeit des Lebens zu schreiben. Man könnte fast glauben, daß das ein Schmäh ist.
"Was kann man wissen? Auch daß es ein Schmäh ist, würde ja an der Sache nichts ändern. Wie man was bezeichnet, ist ja ganz wurscht. Man weiß ja nie, wie etwas wirklich entsteht. Man setzt sich halt hin, und die Anstrengung geht eigentlich fast über die Kräfte, und dann ist es halt wieder vorbei."
Ja, aber welche Motivation für die Anstrengung hat man? Auf dem Weg vom Bett zum Schreibtisch überfällt einen doch schon der Gedanke, daß sowieso alles ganz unsinnig ist.
"Ich hab‘ halt eine unbändige Lust, zu schreiben. Vorige Woche war ich in Stuttgart und hab‘ dort einen Tschechow gesehn, die ,Drei Schwestern‘, da hab‘ ich gedacht, das könnte von mir sein, nur würde ich es viel besser machen, viel komprimierter, und da hab‘ ich sofort Lust gekriegt, wieder zu schreiben."
Wären Sie in Ihrer nihilistischen Lebenseinstellung konsequent, müßte Ihnen diese Lust sofort wieder vergehen.
"Und ich dürfte überhaupt nichts mehr schreiben?"
Nein.
"Aber dann wäre ja nichts vorhanden, und Sie könnten nichts von mir lesen, und wir würden nicht hier sitzen und miteinander darüber reden."
Allerdings. Und es wäre auch nicht diese Frau an Ihr Fenster gekommen, um Ihnen ihr Mitgefühl anzubieten.
"Na, die war ja sehr schnell von mir geheilt und ist nicht wiedergekommen. Ich bin ja nicht jemand, den man bemitleiden müßte, weil ich ja stark bin. Einer, der schwach ist, kann solche Sachen ja gar nicht schreiben. Da gehört eine ganz schöne Robustheit dazu, um so einen Ablauf zustande zu bringen. Je schwächere Leute und Situationen man darstellt, desto stärker muß man selbst sein, sonst ist das völlig unmöglich, und je schwächer man selbst ist, desto stärkere und bejahendere und vitalere Dinge schreibt man dann auf. Wenn ich mir den Zuckmayer vorstelle, der immer gezittert hat und eigentlich zum Umblasen war, der hat sein Heil immer in Indianern gesucht und Rothäuten und Räuberhauptmännern, aber selber war er wie Espenlaub … Obwohl andererseits die Sachen, die ich schreibe, sich schon mit dem eigenen Zustand decken. Das ist halt periodisch. Wenn ich besonders gut beieinander bin und gut aufgelegt und stark und vital, schreib‘ ich ja nicht, da hab‘ ich überhaupt keine Lust zu schreiben."
Was machen Sie dann?
"Wann?"
Wenn Sie vital sind.
"Dann habe ich kein Verlangen, zu schreiben."
Ich meine: Wie sieht diese Vitalität bei Ihnen aus? Sind Sie dann verliebt?
"Schon lange nicht mehr. Ich hab‘ mich völlig verausgabt vor zwanzig Jahren."
Meinen Sie, sexuell verausgabt?
"Nein, das Sexuelle hat mich nie interessiert. Es war ja auch gar nicht möglich, schon durch die Krankheit, weil ich ja in der Periode, wo das alles ganz natürlich gewesen wäre und hätte anfangen müssen, gar nicht in der Lage war, das zu machen. Wenn man froh ist, daß man überhaupt überlebt, und sich von Sanatorium zu Sanatorium wurschtelt, hat man ja keinen Gedanken für so was. Man denkt dann nur an das eine: Ich will nicht sterben … Aber das kann sich auch am nächsten Tag schon wieder ändern."
Warum sagen Sie das? Wenn man um etwas so kämpfen mußte wie Sie um Ihr Leben, schmeißt man es doch nicht einfach so weg.
"Man kann, das weiß doch jeder, in Zustände kommen, in denen einem das Leben von einer Sekunde auf die andere vollkommen egal wird. Man kann in eine Stimmung hineinfallen. Und im nächsten Moment kann man schon wieder lebendiger sein als jemals zuvor."
Haben Sie das erlebt, diesen raschen Wechsel von Lebensüberdruß und Lebensbejahung?
"Natürlich."
Das heißt also, Sie wissen, daß es so ist, und Sie werden sich, wenn Sie in eine Selbstmordstimmung geraten, daran erinnern, und dann wird Ihnen, so behaupte ich, der Selbstmord nicht mehr gelingen.
"Wieso nicht?"
Weil Sie zu viel darüber nachgedacht haben.
"Das nützt einem gar nichts. Es bewahren einen dann weder die Vernunft noch irgendwelche Verstandessachen davor, daß man es tut. Man tut es oder man tut es nicht, das ist alles. Und wenn man es nicht tut, dann lebt man halt weiter."
Können Sie sich vorstellen, in einen Gefühlszustand zu kommen, in dem Sir Ihre Selbstkontrolle verlieren?
"Nein, die verliere ich nie. Aber das hat ja nichts zu bedeuten. Mein Gott, was soll ich denn sagen? Was wollen Sie hören?"
Sie sollen sagen, daß Sie sich nicht umbringen werden.
"Das kann ich nicht. Das weiß ich nicht, weil ich zu oft erlebt hab‘, wie sich in einer Stunde Menschen und Dinge und Situationen vollkommen verändern. Davor ist im Grunde nichts und niemand gefeit. Es gibt phantastische Systeme, wo man glaubt, daß man eine endgültige, unheimliche Sache aufgestellt hat, und im nächsten Moment ist sie weg. Es ist auch ein Betonbau nichts anderes als ein Kartenhaus. Es muß nur der entsprechende Windstoß kommen."
Gut, vielleicht ist meine These ein Blödsinn, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sich jemand im Zustand der Selbstbeobachtung umbringt, vorausgesetzt natürlich, daß er nicht an ein Weiterleben nach dem Tod glaubt. Hat sich jemals jemand, der wirklich ein Atheist war, vor dem Spiegel das Leben genommen?
"Das weiß ich nicht. Aber ich könnte mir schon vorstellen, daß sich jemand ganz bewußt umbringt, daß er sich zum Frühstück hinsetzt und sagt, so, jetzt schneide ich mir die Pulsadern auf. Das hat ja der Bruder meines Großvaters getan, der hat ein Zetterl geschrieben, auf dem er vollkommen vernünftig und klar dargelegt hat, warum er es gemacht hat. Es gibt überhaupt nichts, was man sich nicht vorstellen kann, weil ja jeder Mensch vollkommen anders ist. Es gibt auf der Welt keine zwei gleichen Menschen. Es gibt ja auch keine Philosophie, die eine Gültigkeit hat, die über den, der sie gemacht hat, hinausgeht. Was der Kant geschrieben hat, ist ja ganz lieb und nett, aber es ist auch nur eine Philosophie von einer Person für eine Person. Daß sie dann Hunderte, Tausende oder Millionen Menschen zu ihrer eigenen machen, ist ja eine andere Sache, weil die das halt akzeptieren und sich quasi wie ein Schwamm damit vollsaugen lassen. Deshalb sind das aber trotzdem keine Wahrheiten, die über die eine Person hinausgehen und sich außerdem auch innerhalb dieser Person andauernd ändern. Der Mensch lebt absolut zu nichts und zu allem. Jeder Schlußpunkt hebt alles Vorausgegangene wieder auf, und dann kann man wieder von vorne anfangen, falls man überhaupt weiß, was vorne ist und was hinten. Jede Zeit ist immer ein Ausgangspunkt. Es bleibt immer die Anfangssituation, nur gibt es halt heute ein Nylon und ein Dralon, was es vor hundert Jahren nicht gab, aber was sind das für Sachen? Zwangsjacken, die sich die Menschheit ausdenkt, damit sie was hat, wo sie wieder heraus muß."
Aber das sind doch Selbstverständlichkeiten, was Sie jetzt sagen.
"Es gibt ja nur Selbstverständlichkeiten, nur sind das die am wenigsten zugänglichen Dinge, weil sich die Leute immer wehren dagegen und immer glauben, es müßte was Besonderes geben. Es gibt nichts Besonderes, und es gibt nichts Ausgefallenes und im Grunde auch nichts wesentlich Interessantes für die Allgemeinheit. Nur für die eigene Person können Sie dem Leben immer wieder neue Wendungen geben, und da kommen dann einige, die behaupten, daß das auch für sie interessant sei, aber das ist natürlich ein Blödsinn. Die Menschen hängen sich halt an was an, weil sie schwach sind, an irgendwelche Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Aber wer sagt denn, daß diese Regeln überhaupt stimmen? Ich kann ja behaupten, eins und eins ist nicht zwei. Kein Mensch weiß heute mehr, in welchem Hirn das überhaupt aufgetaucht ist, daß eins und eins zwei ist. Auf diesem blöden Einfall beruht ja eigentlich alles. Dabei ist es ein Unsinn. Man könnte genausogut Millionen anderer
Systeme aufstellen."
Naja, gut.
"Was heißt das? Da sagen Sie in einem Atemzug drei so elementare Begriffe: na, also nein, ja und gut. Das schmeißen Sie einfach so hin. Da nehmen Sie eine webewegende Dreieinigkeit an Wörtern nur so als Füllsel. Das ist doch eine Ungeheuerlichkeit."
Ich merke schon, über Selbstmord können wir nicht mehr reden.
"Ist ja auch gar nicht nötig. Wenn Sie sich umgebracht haben, schreiben Sie mir."
Ich bringe mich ja nicht um. Das ist es ja, was ich Ihnen die ganze Zeit klarmachen möchte.
"Na, das kann man nicht sagen. Ich hab‘ einen Freund gehabt, mit dem war ich ein Achtel Wein trinken, das war ein völlig kleinbürgerlicher Typus, der ganz liebe Gedichterln geschrieben hat und fürchterliche Prosa und dumm war, wie es Kleinbürger halt sind, und drei Frauen gehabt hat und von jeder zwei Kinder, und sich mit dem dicken Bauch und einem Kaufhausanzug ganz wohl gefühlt hat, der ist nach Hause gegangen, hat das Dirndlgewand seiner Frau angezogen, sich den Busen ausg’stopft und sich an der Tür aufgehängt in diesem Aufzug, ein Mensch, der ungefähr fünfundvierzig Jahre alt war und nie eine Spur von Lebensüberdruß gezeigt hat."
Na, das beweist ja die Richtigkeit meiner These, denn hätte sich der im Spiegel gesehen, mit dem Dirndl und dem Strick um den Hals, hätte er doch bestimmt lachen müssen und sich nicht mehr umbringen können. Ich meine, dieser Moment der Komik hätte das doch verhindert.
"Eigentlich ja."
Na sehen Sie. Man kann doch, wenn man einmal angefangen hat, über sich nachzudenken, in so eine Stimmung gar nicht mehr kommen. Man wird ja nicht depperter, je älter man wird, sondern gescheiter.
"Das ist die Frage. Es kann ja sein, daß man einen Hirnschaden erleidet. Vor solchen Tendenzwendungen ist auch der Stärkste nicht sicher. Ich hab‘ eine Schwester, an sich ein starker Charakter, die ist seit Jahren so labil, daß sie eigentlich nur noch von einer Nervenheilanstalt in die andere wandert. Die droht andauernd mit Selbstmord. Mein Bruder, der Internist ist, fährt dann jedesmal zu ihr hin und redet ihr zu, daß sie’s nicht tun soll. Ich hab‘ zu ihm gesagt, er soll sie in Ruhe lassen. Wenn sie springt, springt sie. Er soll ihr den freien Willen lassen."
Und was sagt der Bruder?
"Der sagt: Wie kann man nur so kalt sein?"
Das erinnert mich an die Frau in Ihrem letzten Roman********, die auf die Frage, ob sie sich eines Tages umbringen werde, nur "ja" sagt und es dann tatsächlich tut.
"Wenn ich so was beschreibe, so Situationen, die zentrifugal auf den Selbstmord zusteuern, sind es sicher Beschreibungen eigener Zustände, in denen ich mich, während ich schreibe, sogar wohl fühle vermutlich, eben weil ich mich nicht umgebracht habe, weil ich selbst dem entronnen bin. Da kann man ja dann wunderbar d’rüber schreiben. Ein anderer könnte das nicht, oder es würde was vollkommen Hölzernes dabei herauskommen … Was denken Sie jetzt? Ihr Gesicht ist auf einmal vollkommen verändert."
Ich überlege gerade, ob Sie sich wirklich schon einmal ernsthaft umbringen wollten. In Ihrer Autobiographie steht ja nur, daß Sie, als Sie todkrank waren und von den Ärzten schon aufgegeben, sich zum Leben entschlossen haben. Das ist ja was völlig anderes, als wenn einer das ganz mit sich alleine ausmacht.
"Wer weiß, ob das, was ich da geschrieben hab‘, überhaupt stimmt. Ich bin immer wieder selbst überrascht, wie viele Leben man als das eigene ansieht, die zwar alle miteinander Ähnlichkeit haben, aber eigentlich doch nur Figuren sind, die mit einem selbst genausoviel und sowenig zu tun haben wie irgendwelche andere Leben. Es stimmt ja immer zugleich alles und nichts, so wie ja auch jede Sache gleichzeitig schön und schiach ist, tot und lebendig, geschmackvoll und geschmacklos. Es kommt nur darauf an, wofür man gerade am empfänglichsten ist. Einen großen Reiz hat praktisch alles. Mein Standpunkt ist die Gleichwertigkeit aller Dinge. Auch der Tod ist für mich nicht außergewöhnlich. Ich red‘ ja über den Tod wie ein anderer über a Semmel."
Diesen Standpunkt, oder vielmehr diese Standpunktlosigkeit kann man sich aber nur in einer privilegierten Situation erlauben. Einer, der in einem bürgerlichen Beruf steht, muß sich die in der Gesellschaft geltenden Werte zu eigen machen, sonst kann er das gar nicht ausfüllen.
"Drum hab‘ ich mich ja gegen so einen Beruf immer gewehrt. Die Versuche waren ja da, daß man mich wo hineinstecken wollte in ein Büro, wo ich 2300 Schilling im Monat verdient hätt‘. Da bin ich ja am nächsten Tag schon davongelaufen."
Zu Ihrer Tante?
"Na irgendwohin, wo es halt weitergegangen ist, wo, war ja egal, nur eben nicht dorthin, wo die anderen wollten, weil die anderen wollen einen ja ständig venichten und wünschen einem nur das Böse und Schlechte. Es denkt doch jeder nur an den eigenen Vorteil, ohne Rücksicht auf einen andern. Es wünscht einem ja nie jemand was Gutes. Das sogenannte Gute wendet sich immer nur den Gescheiterten zu, wo man also mit Befriedigung feststellen kann, daß das Angekränkelte sind, mit denen es sowieso bergab geht. Die werden dann überhäuft mit Prädikaten wie ,Genie‘ und ,großartig‘ und ,du bist gut‘ und ,immer leiden die Guten‘, und dann badet die Menschheit in diesen Platitüden. Aber wehe, wenn es bergauf geht mit einem, dann wird der mit allen Scheußlichkeiten, die es nur gibt, beworfen. Nur kann man da auch wieder fragen: Was ist bergauf? Was ist bergab? Es kann jemand das Gefühl haben, daß es mit ihm bergauf geht, während sich ein anderer innerlich totlacht bei dem Gedanken: Wenn der nur wüßte, wie wahnsinnig bergab es in Wirklichkeit mit ihm geht."
Woher kommt bei Ihnen diese negative Beurteilung der Menschen? Im Grunde kennt man doch nur sich selbst und sonst niemand.
"Das kann man nicht sagen, denn sich selbst kennt man ja nur im Blickwinkel zu den anderen Menschen, weil sonst wäre man ja gar nicht vorhanden und könnte sich selbst nicht betrachten. Sich selbst können Sie nur betrachten, wenn Sie absolut ein Bild von Ihrer Umwelt und den anderen haben, weil alles auf dem Vergleich beruht. Wenn Sie außer sich nie was sehen, können Sie sich selbst weder beurteilen, noch was empfinden."
Na ja, darum bin ich ja zu Ihnen gefahren.
"Sehen Sie. Sie sind zu mir gefahren, weil es mich gibt und vier Milliarden andere auch."
Nein, zu den vier Milliarden anderen bin ich nicht gefahren. Die kenne ich nicht.
"Na, sind S‘ froh, daß Sie die nicht kennen! Stellen Sie sich vor, Sie hätten vier Milliarden Leuten die Hand schütteln müssen, da wären Sie ja nie bei mir angekommen, das fände ich großartig, weil da wär‘ Ihnen nach einem halben Jahr die Hand abgefallen."
Kennen denn Sie die vier Milliarden?
"Die braucht man ja nicht zu kennen, weil die eh alle gleich sind, weil das eine Masse ist, die, wie es so schön heißt, zu allem fähig ist und sich nie ändert, und weil auch die Situationen immer die gleichen bleiben, und die Leute, die in 1700 Meter Höhe in Afghanistan wohnen und in 1700 Meter Höhe im Salzkammergut, ziemlich ähnlich empfinden, nur haben sie im Salzkammergut eine Lederhose und in Afghanistan irgendein anderes Gewirke am Leib, aber die Gefühle und Geschichten, die sie haben, sind ganz die gleichen."
Glauben Sie nicht, daß sich, wenn wir dort auftauchen, was ändern könnte?
"Das wäre herrlich, wenn in Kabul, sobald wir da auftauchen, eine große Mordwelle ausbrechen würde und auf Schritt und Tritt, wo wir gehen, alles, was sich vor uns bewegt, umfallen würde und tot wär‘."
Sie machen Witze.
"Und schon bin ich wieder ganz ernst, von einer Sekunde zur andern … Und da soll man sich nicht von einem Moment auf den andern umbringen können! Es bringen sich ja sehr viele um, die als Witzeerzähler bekannt sind, gut aufgelegte, positive, fröhliche Menschen. Der Negative bringt sich ja nicht so oft um, weil das der spekulative Typ ist und also viel eher der Neugierige … "
Schon. Aber von einem Moment auf den andern bringt sich ja keiner um, weil man ja für die Ausführung eine gewisse Zeit braucht. Man muß zumindest die Tabletten im Wasser auflösen oder auf das Hochhaus hinaufgehen, von dem man hinunterspringt. Das dauert ja ein paar Minuten, und dann ist der Moment schon vorbei … Was sagen Sie dazu?
"Gar nichts."
Wollen Sie ein anderes Thema?
"Ja, welches?"
Sie haben bei der Herfahrt im Auto gesagt, Sie wollten schon immer anders sein als die andern.
"Das will doch jeder."
Ich nicht. Wenn man ohnehin schon herausfällt aus dem Normalen, wünscht man doch eher, unterzutauchen.
"Na schön, damit kein Mißverständnis entsteht … Das muß man genau untersuchen. Das hat sicher zwei Seiten. Jemand, der sowieso schon zum Ausgefallenen neigt, wird letzten Endes immer versuchen, sich zu verstecken. Er will halt nicht auffallen. Er will so reden und so fressen und so simpel sein wie die andern. Das wollte ich auch, als ich hierherkam. Ich hab‘ gedacht, ich werd‘ mir zwei Kühe halten und in den Stall gehen und melken und werd‘ mir Gummistiefel anziehn und eine Schlosserhose, möglichst verdreckt, stinkert und speckig, und werd‘ mich acht Wochen nicht waschen, damit ich möglichst so ausschau‘ wie die Leut‘ hier. Aber das geht nicht, das gelingt nicht, weil man das bewußt nicht herstellen kann."
Haben Sie es versucht?
"Ich hab‘ das alles versucht, bis ich gemerkt hab‘, in der Richtung kann ich nur Zeit verlieren. Man muß den ausgefallenen Weg gehen mit allen exzentrischen, brutalen, scheußlichen, verklemmten, verqueren Dingen die in einem, in Ihnen, in allen drin sind. Man kann nicht untertauchen unter hundert Hubertusmäntel und mitlachen am Stammtisch und die höchste Befriedigung in einer gelungenen Nudelsuppe am Sonntagvormittag sehen oder in einer Obsttorte zu Ostern, das geht nicht. Man ist anders, man will es nicht sein, abgesehen davon, daß von denen, die von uns aus betrachtet, alle gleich sind, ja auch jeder wieder ein anderer ist, aber es läßt sich trotzdem mit dem Nudelwalker darüberfahren. Es gibt halt außerdem noch ein paar besonders ausgefallene Sumpfpflanzen, die ein bisseI zu weit in die Höhe schießen und dadurch sehr gefährdet und ausgesetzt sind. Das ist natürlich blöd, wenn eine Feuerlilie oder Riesenaster versucht, unter den Leberblümchen unterzutauchen, weil es angenehmer wäre da unten, gleichzeitig aber stolz ist, daß sie diese Feuerlilie ist. Einerseits möchte sie großartiger und besser sein als die andern, gleichzeitig aber total geschützt wie die Leberblümchen. Das ist das Grauenhafte und Furchtbare an so einer Situation, weil das nicht geht. Man muß sich abfinden mit dem, wie man ist, und muß das Beste draus machen."
Gibt es irgendwelche Menschen, mit denen der Umgang Ihnen angenehm ist?
"Ich kenne niemanden, mit dem ich wirklich länger zusammensein möchte und könnte. Also eine Dauer wäre unmöglich. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, daß jemand zwei Tage und Nächte bei mir im Haus wohnt, ganz wurscht, wer das ist, außer meiner Tante, die ist fünfundachtzig, aber das ist auch nur unter gewissen Umständen möglich, also auch schwierig, aber halt ins Groteske gesteigert und dadurch erträglich. Aber länger als eine Woche geht auch das nicht."
Haben Sie früher einmal, abgesehen von Ihrer Tante, mit jemandem zusammengewohnt?
"Als Kind im Internat, und im Krankenhaus, aber nachher nie wieder."
Haben Sie Freunde, zu denen Sie auf Besuch gehen können?
"Auch das ist schwierig, weil ja in der Wiederholung auch ein Problem liegt und in der Gegend hier, wenn ich ehrlich bin, eigentlich niemand ist, mit dem ich was anfangen könnte. Ich hab‘ ein paar Leute, wo ich hingehen kann, um mich zu beruhigen. Da kann ich mich gehenlassen, aber daß ich mich mit denen auf der gleichen Ebene unterhalten könnte, das ist auch fast nicht möglich."
Spielt da eine Rolle, daß Sie ein bekannter Schriftsteller sind, dem man sich nur mit einer gewissen Verehrung nähert?
"Ja, das ist blöd, weil ich ja letzten Endes immer der gleiche bleibe, während die anderen sich verändern mir gegenüber und verkrampft sind und sich nicht mehr normal bewegen und das dann mir in die Schuhe schieben und sagen, ich hätt‘ mich verändert, was gar nicht wahr ist. Da denk‘ ich mir dann, warum geh‘ ich da überhaupt hin, wo ich mir dauernd solche Blicke anhören muß. Muß ja nicht sein. Außerdem fühl‘ ich mich über lange Zeit sowieso alleine am wohlsten. Mir genügt, wenn ich ab und zu ins Kaffeehaus geh‘ und zuhöre, was die anderen reden. Ich muß gar nicht mitreden mit denen. Aber natürlich hat man dann manchmal doch das Bedürfnis, und dann sind die Leute, mit denen man könnte, in Brüssel oder Wien oder Zürich oder sonstwo, das ist halt schwierig. Ich müßte in eine Stadt ziehen aber das kann ich mir aus gesundheitlichen Gründen nicht leisten, weil ich in der Stadt einfach eingehen würde. Ich bin ja an sich gar kein Landmensch. Die Natur interessiert mich überhaupt nicht, weder die Pflanzen noch die Vögerl, weil ich die sowieso nicht unterscheiden kann voneinander und noch heute nicht weiß, wie eine Amsel ausschaut. Aber ich weiß halt genau, ich kann mit meinen Bronchien in der Stadt auf die Dauer nicht leben. Ich werd‘ jetzt auch im Winter den Hof nicht mehr verlassen, weil ich mich halbert umbringe, wenn ich in der Stadt bin. Es gibt ja nur diese zwei Möglichkeiten: Entweder man ist in der Stadt, wo es interessant ist, aber da geh‘ ich zugrunde, oder man hat einen Menschen, aber der geht einem halt mit der Zeit auf die Nerven. Da wird man halt nie eine Lösung finden."
Kommen Sie dadurch nicht in die Gefahr, sich vollkommen zu isolieren und letzten Endes verrückt zu werden?
"Heute mach‘ ich es so, daß ich von Zeit zu Zeit künstlich irgendweIche Kontakte herstelle. Ich zwinge mich dazu, meine Unlust zu unterdrücken. Also die Unabhängigkeit bei mir besteht heute in einer Freiheit zum Zwang. Man halst sich die Dinge dann selbst auf. Wenn keine Zwänge von außen da sind, dann kommen sie halt von innen. Sonst könnte man ja nicht existieren. Im Prinzip ist gar nicht so viel Unterschied zwischen einem, der von außen gezwungen ist, was zu tun, und einem, der sozusagen machen kann, was er will. Ich versteh‘ gar nicht, warum man dieser sogenannten Freiheit so viel Bedeutung beimißt. Gut, vor zwanzig Jahren hätt‘ ich nicht gewußt, wie ich einen Brief aufgeben soll, weil ich kein Geld für eine Briefmarke gehabt hab‘. Heute fehlt mir kein Geld. Wenn ich heute sag‘, ich möchte jetzt fünfmal um die Welt fahren mit verbundenen Augen, weil ich was sehen will, dann kann ich es machen, aber ob das so was Besonderes ist, weiß ich nicht. Ob es dafürsteht, daß sich da jemand hinsetzt und Steine übereinanderlegt und Wiesen umgräbt und Bäume beschneidet und sich da ein Häuserl hinstellt und dort ein Hoteltscherl und da ein Betterl und dort ein Betterl und es dann wieder hinausschmeißt und wieder ändert, das weiß ich nicht. Jeder soll es machen, wie er will, nach seinen Bedürfnissen und seinen Möglichkeiten."
Liegt nicht hier gerade die Schwierigkeit, weil ja die Möglichkeiten selten den Bedürfnissen angepaßt sind?
"Ich hab‘ das Gefühl, irgendwie deckt sich das immer. Wenn man etwas ganz intensiv anstrebt, dann kommt man auch hin, ob das jetzt ein Gefängnis ist oder ein Irrenhaus. Nur wäre mir das Irrenhaus dann noch lieber. Aber es kann ja sein, daß beides eintritt, was weiß man?"
Das Irrenhaus hätte den Vorteil, daß Sie den ganzen Tag alles und jeden beschimpfen könnten, und keinen würde es stören, weil man Sie nicht ernst nehmen würde. Sie hätten die Freiheit der Narren. Aber die haben Sie ja wahrscheinlich schon heute. In Ihrem Buch "Der Stimmenimitator" gibt es eine Stelle, in der Sie den Leser mehr oder weniger zur Ermordung sämtlicher mitteleuropäischer Staatspräsidenten auffordern. Wäre das nicht in einem belletristischen Verlag unter dem Deckmantel der Kunst, sondern in einer politischen Zeitschrift erschienen, hätten Sie jetzt ein Verfahren als Sympathisant am Hals …
"Ich bin ja Sympathisant, nur ich weiß nicht, für was."
Ich meine: Sie können heute sagen, was Sie wollen, es wird gedruckt, und es wird keinen erschrecken.
"Das weiß ich nicht. Ich hab‘ zum Beispiel der ZEIT einen Brief geschrieben, das ist jetzt ungefähr drei Monate her, so eine spontane Sache gegen den Kreisky*********. Das haben die fünf Wochen liegenlassen, und dann haben sie mir geschrieben, sie hätten es irgendwohin weitergeleitet, und dort ist es dann in der Versenkung verschwunden. So was macht man nicht einmal mit der Frau Hintermüller. Ich will damit nur sagen, daß ich genauso wie jeder andere Machenschaften und Zufälligkeiten ausgesetzt bin. Wenn diese Leute nicht wollen, daß an dem Kreisky was angekratzt wird, weil der dort sehr beliebt ist und sie ihn als einen tollen Burschen anschauen, dann nützt es auch nichts, wenn ich das auf meine ironische Art formuliere, dann wird es halt nicht gedruckt."
Haben Sie sich denn noch weiter dafür eingesetzt, daß es gedruckt wird? Haben Sie dafür gekämpft?
"Das wär‘ ja ganz blöd, gegen die Redaktion der ZEIT kämpfen zu wollen, wo doch nur lauter freundliche Opportunisten sitzen. Das hätte doch gar keinen Sinn."
Was haben Sie denn geschrieben gegen den Kreisky?
"Na, da war im ZElT-Magazin so ein blödsinniges Feuilleton über ihn, so leichtfüßig geschrieben, wie das halt dort der Brauch ist, und das hab‘ ich halt widerlegt und geschrieben, daß er ein alter, seniler Pimpf ist … Oder ein anderes Beispiel: Die Deutsche Akademie hat mir einen Katalog zugeschickt, der die Unterschriften aller Büchner-Preisträger enthalten sollte. Ich war eh einer der Letzten, der ihn gekriegt hat, denn als er hier ankam, war er schon ganz zerfleddert, da hatten die ihn schon dem Canetti nach London und dem Johnson und ich weiß nicht, wem aller, geschickt gehabt, und da hab‘ ich mir gedacht, ich bin ja net blöd, daß ich für solche Repräsentationsgeschichten meine Unterschrift hergeb‘, und hab‘ es halt nicht gemacht … Aber ich weiß nicht, warum ich das eigentlich jetzt erzähle … "
Vielleicht als Erklärung dafür, warum Sie sich heraushalten aus allem.
"Ja, obwohl das doch zum Großteil lauter gescheite Leut‘ sind, der Canetti und der Frisch und der Koeppen, die da alle schon unterschrieben hatten, und lassen sich zu solchen gedankenlosen Sachen hinreißen, und wenn sie wohin fahren können und mit Herrn Scheel********** mittagessen, dann fahrn sie halt hin, aber ich tu es nicht, weil ich den scheußlich und grauslich finde und seine Frau eine blöde Ziege. Warum soll ich mit denen essen und trinken? Ich mach‘ es halt nicht."
Was haben Sie gegen den Scheel? Kennen Sie ihn?
"Ich brauch‘ ihn ja nicht zu kennen. Es genügt ja, wenn man den anschaut und hört, was er redet. Die Physiognomie eines Menschen ist ja was sehr Interessantes, da ist ja alles schon drin."
Wer bleibt denn da überhaupt übrig, den Sie nicht für einen Idioten halten?
"Na keiner, das ist es ja eben."
Aber dann ist es ja so, wie ich sage: Sie schimpfen auf alle, ohne Unterschiede zu machen, bis Sie niemand mehr ernst nimmt, und Sie mit Ihren Angriffen keinen mehr treffen.
"Warum soll das nicht treffen? Das hat halt seine Wirkung, oder es hat sie nicht. Darauf kann der, der es macht, sowieso keine Rücksicht nehmen."
Hat es Sie geärgert, wie man an der Münchner Universität mit Ihnen umging?
"Das hätte doch gar keinen Sinn, sich über sowas zu ärgern. Diese Leute haben ja nicht einmal gewußt, was sie selber wollen. Dieses Buhlen der Intellektuellen, die den einfachen Leuten in den Arsch hineinkriechen, damit sie da irgendwas ernten, ist ja pure Heuchelei. Die kann man ja nicht belehren, weil man kann eine Masse nicht quasi zu einer Elite machen. Da gehe ich, bevor sie meiner Tante eine auf den Hut hinaufhauen, lieber hinaus. Ich bin sowieso ein Feind von dieser ganzen Vorleserei und wollte es ja auch gar nicht machen. Aber da es nun einmal so war, ist es mir auch egal. Mir gibt es einen unheimlichen Auftrieb zum Schreiben, das ist das Positive, weil man aus der Wut heraus ja sehr gut arbeiten kann. Darum braucht man immer wieder solche Anregungen, aber man muß sich nicht sorgen, daß nichts passiert und man einschläft, denn so eine Art München erlebe ich jede Woche an jedem Ort und jedem Tisch. Überall kommen dieselben Sachen heraus. Wenn Sie wollen, können Sie sich überall die Wut und Aggression holen, die Sie brauchen."
An wen denken Sie, wenn Sie schreiben?
"Das ist natürlich eine ganz blöde Frage."
Na, so blöd auch wieder nicht. Denken Sie an jemanden, auf den Sie eine Wut haben, oder manchmal auch an einen, der Sie versteht?
"Ich denk‘ an niemanden, der das einmal lesen soll, weil mich gar nicht interessiert, wer das liest. Ich hab‘ meinen Spaß am Schreiben, das reicht mir. Man will es halt immer besser und überlegter machen, das ist alles, so wie ein Tänzer immer besser tanzen will, aber das passiert ja von selber, weil jeder, ganz egal, was er macht, durch die Wiederholung zwangsweise zu einer Perfektion kommt, das ist bei einem Tischtennisspieler genauso wie bei einem Springreiter und einem Schriftsteller und einem Schwimmer und einer Bedienerin oder Putzerin. Die wird nach fünf Jahren auch besser putzen als am ersten Tag, wo sie alles zerschlagen hat und halt mehr ruiniert hat, als was sie geputzt hat."
Ist Schreiben nicht immer auch ein Kontaktversuch?
"Ich will ja gar keinen Kontakt. Wann hab‘ ich jemals einen Kontakt wollen? Im Gegenteil, ich hab‘ es immer abgelehnt, wenn jemand das wollte. Briefe schmeiß‘ ich sowieso weg, weil es schon rein technisch nicht möglich ist, sich darauf einzulassen, sonst müßte ich es so machen wie diese Sau-Schriftsteller, die sich zwei Sekretärinnen halten und alles beantworten und jedem Arschloch hinten hineinkriechen mit einem Brieferl. Das lehne ich von vornherein ab, weil ich es gar nicht kann, weil das gar nicht möglich ist, da würd‘ ich ja jeden Tag zwei oder drei Briefe bekommen, und nach vier Monaten würde ich vollkommen erstickt sein. Deshalb laß ich mich auf so was erst gar nicht ein und hab‘ auch dafür gar nichts übrig. Ich will, daß meine Arbeit gedruckt wird, daß da ein Buch kommt und daß das für mich dann erledigt ist. Das stell‘ ich dann in den Kasten, damit ist es nicht verloren und schaut außerdem sehr gut aus. Ich schreib‘ meine Sachen auf ein ganz billiges, schäbiges Saugpostpapier, und der Übergang zu so einem Schriftbild ist mir sehr angenehm, und dann schickt der Verleger monatlich irgendein Geld, und damit ist die ganze Geschichte erledigt."
Warum haben Sie mich denn dann überhaupt eingeladen, wenn Ihnen jeder Kontakt widerlich ist?
"Na ja, weil’s halt so ist. Was soll ich jetzt da drauf sagen? Ich hab‘ ja da kein System. Ich mach‘ es einmal, und dann mach‘ ich es hundertmal wieder nicht. Widerlich sind Sie mir nicht, und was Sie mit mir machen, ist mir wirklich vollkommen wurscht … naja, wurscht auch nicht, aber ich hab‘ gedacht, dem liefere ich mich halt aus, weil ich überhaupt ein Mensch bin, der sich ausliefert, zum Unterschied von anderen, die ständig versuchen, möglichst nirgendwo anzuecken. Und dann hab‘ ich ja auch manchmal Lust, so was zu machen. Ich bin ja auch als Kind immer schon boshaft gewesen und hab‘ mich eingelassen in Sachen. Daß Sie kein Heiliger sind, weiß ich, aber das ist mir egal. Ich hab‘ da keine Gedanken. Vor acht Jahren sind Sie schon einmal hiergewesen,
Wer war Thomas Bernhard? Gespräch mit André Müller, DIE ZEIT, 1979, Ende
…da habe ich Sie gesehen, und jetzt sind Sie halt wieder da. Was soll ich anderes sagen? Sie würden sich wundern, auf was ich alles nicht reagiere, weil es mir eigentlich nicht dafürsteht, und meine Lebenszeit eigentlich zu bemessen ist, um mich mit so etwas aufzuhalten, und weil ich ein Feind von Gewäsch und Korrespondenz bin. Vielleicht finden Sie zwanzig Briefe von mir irgendwo, das wär‘ schon sehr viel, weil es mich nicht interessiert. Wenn wer auftaucht, ist er halt da, dann kann ich es eh nicht verhindem. Wenn ich telefoniere, ist es nur, soweit es meine Sachen betrifft. Ich bin ja da sehr egoistisch. Ich telefonier‘ nur mit dem Verlag oder, wenn es ein Stück ist, mit dem Theater, und was nachher passiert, ist mir vollkommen uninteressant, und wenn das morgen alles nicht ist, wäre es mir auch eigentlich vollkommen egal. Da geh‘ ich halt irgendwo in eine Schottergrube und setz‘ mich hin und hakel die Lastwagen ab, die herausfahrn, und verdien‘ dreimal soviel, wie ich jetzt verdien‘. Aber ich hab‘ halt noch keine Lust, das aufzugeben, das Schreiben und die Zustände, in die ich da komme, weil es mir einen großen Spaß macht und weil ich ja absolut nichts anderes brauche und weil ich auch das Gefühl hab‘, etwas zu machen, was mir keiner nachmacht, nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt nicht. Das klingt jetzt vielleicht überheblich, aber es lassen sich ja auch Eisenbahnwaggons miteinander vergleichen. In einen geht man hinein und sieht, der ist dreckig, und in einem anderen ist es halt sauber … Wenn man Prosa schreibt, ist man zwischen vierzig und sechzig im idealen Alter, bei manchen ist es früher, aber ich bin ja eher ein Spätentwickler, und es wäre ein Irrsinn, das abzutöten, wenn man gerade auf dem Höhepunkt ist. Da müßte man ja verrückt sein. Aber natürlich ist man vor Verrücktheit auch nicht gefeit … "
Ich will ja gar nicht, daß Sie mit dem Schreiben aufhören. Ich dachte nur, daß der Kontakt mit einem, der Sie versteht und Sie mag, auch für Ihre Arbeit von Vorteil sein könnte.
"Mich fördert nur, wenn ich möglichst für mich allein bin, ganz gleich, was das alles mit sich bringt, und es sind ja im Grunde nur lauter Unannehmlichkeiten, aber ich hab‘ sie ja gern, ich bin ja in das verliebt, was andere gar nicht auf sich nehmen würden. Setzen Sie den Handke einmal drei Tage hierher, der würde Ihnen schreiend davonrennen zu seiner Tochter. Der ist doch ein ganz weiches, schwaches Familienkinderl, spricht aber dauernd übers Alleinsein. Das sind genau die, die gar nicht alleine sein können, weil dazu gehört nämlich eine ganz schöne Kraftanstrengung. Wenn man das nicht sein kann, kann man halt auch nicht in der Art schreiben, wie ich das mache, ob das jetzt eine Bedeutung hat oder nicht, ist ja ganz wurscht. Der Handke hat halt seine liebe Tochter. Das ist eine Sache, die mir total widerspricht, weil ich bin schon immer gegen Familie und all diese Sachen gewesen, weil ich Leute einfach nicht aushalte, die eine Familie haben und ein Kind haben, und die das Kind zu Weihnachten mit Skianzügen und solchem Zeug überhäufen und mit dem Kind dann nach Sankt Moritz zu ihrem schicken Verleger fahren, das ist mir so widerlich, daß es mich graust, diese Leute, die einmal da hingehen und einmal dort hingehen und sich nach Amerika einladen lassen und dort vorlesen und da vorlesen und sofort zu einer Redaktion rennen, wenn sie irgendwas machen, so daß das übermorgen alles in der Zeitung drinsteht, das ist mir einfach zum Grausen. Ich mag es nicht, und ich mach‘ es auch nicht. Das erzeugt natürlich eine Irritation und den Widerwillen der anderen Leute. Aber das ist mir egal. Es ist meine Stärke, daß ich es aushalte, den Dampfnudeldeckel geschlossen zu halten. Jeder soll machen, was er will. Wenn ich mich nach dem richten würde, was über mich seit fünfzehn Jahren gesagt und geschrieben wurde, müßte ich mich schon hundertmal umgebracht haben, weil es ist ja immer das gleiche. Als der ,Frost‘ erschienen ist, hat man auf der einen Seite geschrieben, es ist das großartigste Buch, was es gibt, und auf der anderen, es ist ein Scheißdreck. Das hat mich immer begleitet. Das war nie anders."
Könnten Sie verdeutlichen, warum Ihnen Familien mit Kindern so widerlich sind?
"Vermutlich, weil ich das alles in einer sehr verunglückten und unangenehmen Form selber erlebt hab‘."
Bei unserem ersten Interview haben Sie gesagt, man sollte allen Müttern die Ohren abschneiden.
"Das hab‘ ich gesagt, weil es ein Irrtum ist, wenn die Leute glauben, sie bringen Kinder zur Welt. Das ist ja ganz billig. Die kriegen ja Erwachsene, keine Kinder. Die gebären einen schwitzenden, scheußlichen, Bauch tragenden Gastwirt oder Massenmörder, den tragen sie aus, keine Kinder. Da sagen die Leute, sie kriegen ein Bauxerl, aber in Wirklichkeit kriegen sie einen achtzigjährigen Menschen, dem das Wasser überall herausrinnt, der stinkt und blind ist und hinkt und sich vor Gicht nicht mehr rühren kann, den bringen sie auf die Welt. Aber den sehen sie nicht, damit die Natur sich weiter durchsetzt und der Scheißdreck immer weitergehen kann. Aber mir ist es ja wurscht. Dagegen was zu sagen, wäre genauso blöd, wie wenn ich mich gegen diese Hochspannungsleitung auflehnen würde. Die wird gebaut, und damit hat sich’s. Meine Situation kann nur die eines skurrilen … ich möcht‘ nicht einmal sagen Papageis, weil das schon viel zu großartig wäre, sondern eines kleinen, aufmucksenden Vogerls sein. Das macht halt irgendein Geräusch, und dann verschwindet es wieder und ist weg. Der Wald ist groß, die Finsternis auch. Manchmal ist halt so ein Käuzchen drin, das keine Ruhe gibt. Mehr bin ich nicht. Mehr verlang‘ ich auch gar nicht zu sein."
Ihr besonderes Kennzeichen, so schreiben Sie in Ihrer Autobiografie, ist die Gleichgültigkeit.
"Das läßt sich auch nicht so ohne weiteres sagen. Mir ist nichts gleichgültig, aber es muß mir alles gleichgültig sein, weil es sonst nicht weitergeht. Das ist der einzige mögliche Satz, der darauf zu sagen wäre."
Wie wichtig ist Ihre Tante für Ihr Leben und Ihre Arbeit?
"Das ist seit meinem neunzehnten Lebensjahr der absolut wichtigste Mensch in meinem Leben."
Erschreckt Sie der Gedanke an ihren Tod?
"Dieser Gedanke ist mir fast unerträglich, aber man wird sehen, das wird ja bald jetzt passieren. Das könnte mich umschmeißen, wenn ich ganz offen rede, ja, das könnte sein. Da bin ich sicher ganz ausgeliefert … Aber auch das kann man erst sagen, wenn das Ereignis eintritt, weil man ja nichts vorwegnehmen kann. Wenn sie stirbt, dann ist sie gestorben. Dann rufe ich Sie an … als Onkel."
Also ist doch dieser eine Mensch nötig, zu dem man gehört?
"Es gibt immer irgendwo eine Milchmagd, die irgendwann auftaucht. Nichts, das gibt’s nicht."
Stimmt denn dann überhaupt der Satz noch: Ich will allein sein?
"Es bleibt mir nichts anderes übrig, verstehen Sie? Um mich ausleben zu können, wie ich will, bleibt mir nichts anderes übrig als das Alleinsein. Es ist eben so, daß Nähe mich tötet. Aber ich bin deshalb nicht zu bedauern. Jeder ist an allem selbst schuld."
Gibt es etwas, das Ihnen das Schreiben ersetzen könnte?
"Einen Ersatz gibt es für nichts. Ich könnte Rad fahren, aber glauben Sie, daß das etwas ersetzt?"
Was tun Sie, wenn Ihnen eines Tages nichts Neues mehr einfällt?
"Solche Fragen führen zu nichts. Das ist so, wie wenn Sie eine Sängerin fragen, was sie ohne Stimme tun würde. Was sollte die darauf sagen? Daß sie dann stumm singt? Man denkt ja sowieso jedesmal, wenn man geschrieben hat, daß es aus ist, daß man eh nicht mehr kann und eh nicht mehr will. Aber mich interessiert ja sonst nichts."
Und wenn Ihnen morgen die große Liebe begegnet?
"Ich könnte es nicht verhindern."
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*) Hilde Spiel (1911 – 1990), österreichische Journalistin und Schriftstellerin, war von 1972 bis 1981 in zweiter Ehe mit dem Schriftsteller Hans Flesch von Brunningen verheiratet
**) österreichisch für: Wurstfülle
***) Wie für das erste Bernhard-Interview war auch für das zweite eine lange Vorbereitungszeit nötig. Den Anfang machte ein Brief, in dem ich dem Schriftsteller vorschlug, mich in seiner Nähe einige Tage lang einzumieten und zu beschreiben, was ich erlebe. Es kam keine Antwort. Als Bernhard im November 1978 in München war, um an der Universität eine Lesung zu halten, erinnerte er sich an mein Ersuchen. Wir verabredeten uns zu einem Bier nach der Lesung. Aber die Lesung fand gar nicht statt. Linke Demonstranten, die gegen das Regime im Iran protestierten, besetzten den Saal. Bernhard entkam durch den Notausgang. Das gemeinsame Bier tranken wir trotzdem. Er sagte, am 20. Dezember um 9 Uhr früh wolle er im Rathaus-Cafe in Gmunden das Interview machen. Aber am 14. Dezember rief er mich an, er fahre nach Jugoslawien. Ende Januar war er wieder zurück. Am 8. Februar 1979 schrieb er mir: "Wenn ich weiß, daß Sie gegen Ende März kommen, freue ich mich insgeheim, selbstverständlich. Ich bin dann sicher mit allem einverstanden, das Sie mit mir tun, auch wenn Sie mich umbringen. Mir liegt nicht viel an meiner Existenz. Aber der Selbstmord kommt mir jetzt lächerlich vor. Allerdings wechseln die Anschauungen, die ich darüber habe, fortwährend. Im Moment bin ich in die Armseligkeit verliebt, wenn nicht vernarrt. Wir sehen uns gegen Ende März, wenn wir noch leben! Sehr herzlich, Ihr Bernhard." Ich nahm das "Ende März" wörtlich und schrieb, ich würde am Einunddreißigsten kommen, zu Mittag. Am 29. März erhielt ich ein Telegramm: "Erwarte Sie Samstag, den 7. April, herzliche Grüße." Zwei Tage vor diesem Samstag kam morgens ein Anruf: "Wie geht es Ihnen? Ich muß mit meiner Tante zu einer ärztlichen Untersuchung nach Wien, bin aber am Dienstag wieder zurück. Kommen Sie Mittwoch." Dabei blieb es.
****) Wiener öffentliche Küche, ein Gastronomieunternehmen mit Selbstbedienung
*****) Rudolf Hirsch (1905 – 1996), von 1954 bis 1963 Geschäftsführer des S. Fischer Verlages
******) Name einer Wiener Freiluftbadeanstalt
*******) Fritz Arnold, Lektor des Insel-Verlages, später bei Hanser.
********) "Ja", Roman, erschienen 1978 bei Suhrkamp.
*********) Bruno Kreisky (1911 – 1990), österreichischer Bundeskanzler von 1970 bis 1983. Der Leserbrief, den Bernhard der ZEIT schrieb, ist nachzulesen in: André Müller, "Im Gespräch mit Thomas Bernhard", Verlag Bibliothek der Provinz, 1992, Seite 109.
**********) Walter Scheel, deutscher Bundespräsident von 1974 bis 1979
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Eine Kurzfassung des Interviews erschien am 29. Juni 1979 unter der Überschrift "Der Wald ist groß, die Finsternis auch" in der ZEIT.
Der vollständige Text wurde erstmals publiziert in: André Müller, "Entblößungen" (bei Goldmann)