Wohin geht die Reise?

Als der lange Stillstand dieser Welt begann, war der 16. März 2020. Ich war zu dieser Zeit in Peru, meiner Ursprungsheimat, in der ich meine, schon gelebt zu haben. Sarinah erzählte mir, dass ich damals als ein Mädchen mit Zöpfen von ca. 12 Jahren dort gelebt hatte, Kräuter sammelte, um den Menschen dort zu helfen, ich war ein Kräuterhexlein.

Die tiefe Verbundenheit zum Dschungel und diesem kleinen, unberührten, reinen Paradies lässt mich daher immer wieder ins Tagträumen versinken und Kraft tanken.

Ich selbst erfuhr vor Ort am 13 März 2020, dass eine weltweite Quarantäne ausgerufen wird und damit ein Flug nach Hause nicht möglich war. Ein fürchterliches Virus, in China geboren, Covid 19, ist in unserem Leben angekommen und bringt uns Krankheit und Tod, es fliegt um die Welt und legt uns alle lahm. War es Zu-Fall? Gewollt, oder Leichtsinn aus dem Labor?

Nach 7 Monaten konnte ich im August dann auf Umwegen und sehr beschwerlich mit Wolfgang nach Hause fliegen. Jetzt, nach einem Jahr Pandemie, befindet sich die ganze Welt noch immer in einem riesigen Gefängnis mit Ausgangssperren, Reiseverboten und Lockdown 3 jetzt im März 2021 noch immer mit Covid 19. Es folgte ein Zu- und Aufsperren, öffentliche Plätze bleiben leer, 2 m Abstand zu meiner nächsten Person, Menschenansammlungen bei Strafen verboten, Maskenmenschen rund um mich, eine Mimik kann ich nur über die Augen erhaschen! Lächelnde Gesichter kaum noch, jeder ist in sich versunken. Dieser Virus verändert unser Leben, macht uns Angst und bringt uns den Tod, aber der Tod ist immer präsent, er erinnert uns nur an unser vergängliches Leben. Kostbare Lebenszeit wird mir mit den Maßnahmen und der Pandemie gestohlen.

Es ist eine Zeit von völlig absurdem Irrsinn und Massenwahnsinn, ekelhafter Geschäftemacherei mit dem Virus. Der Ausweg, so sagt man, ist eine weltweite globale Impfung und Testungen, aber auch darüber werden inzwischen Legenden geschrieben, Unsicherheit ist in unseren Gesichtern zu sehen.

Die Zeit fordert uns auf, in unser Innerstes  hineinzublicken, aufzuräumen und unseren aufgestauten Müll vom gelebten Leben zu rekapitulieren, Zeit dazu haben wir ja genug.

Eine wahre Geschichte am Rande: Ein alter gebrechlicher Mann, auf seinem Stock gestützt und nach vorne gebeugt, sitzt ganz alleine auf der Ecke einer Parkbank, rundum keine Menschenseele. Da kommen zwei Ordnungshüter, sie sagen: „ Sie dürfen hier nicht sitzen!“ Der Mann sagt: „Ach so, ich darf hier nicht sitzen?“ Er steht schweigend auf und geht. Er hat sich doch nur ausgeruht!

Kann das wirklich sein, denke ich? Wo bleibt hier die Menschlichkeit ?

Wohin geht die Reise?, frage ich mich in meiner Einzelhaft. So drücke ich es für mich aus. Ich habe keine Kristallkugel bei der Hand, in der ich lesen kann. Aber eines weiß ich gewiss, wir sind in Quarantäne statt Urlaub am Meer. Wir brauchen inzwischen einen Kompass bei der Hand um durch den immer wechselnden Maßnahmen-Dschungel zu kommen, Verwirrtheit.

Eines steht fest: die Hoch – Zeit der vergangenen Jahre ist vorbei, Neues wird geboren, wo der Weg uns hinführt wissen wir nicht. Ich erlaube es nicht, daß mein freies Leben fremdbestimmt wird, es ist mein Leben, es gehört nur mir.

Die mächtigste Gnade die wir als Erdlinge erfahren ist der freie Wille.

Es erfordert bewusste Disziplin, liebevolle Gedanken zu denken und Geduld hält uns den Raum offen, damit Neues entstehen kann wie die Geburt einer neuen Welt. Wir lernen mit dem Herzen zu sehen.

Wir Leben im Fluss des Panta Rhei

 

Archivo:Alexander Mann - The Lonely Road.jpg

3 Antworten

  1. Ein Urwald für die Ewigkeit

    Heute ist Frühlingsbeginn, der 21. März 2021, es ist 9 Uhr früh, als ich mich entscheide, meinen morgendlichen Spaziergang zu machen, es ist sehr kalt und es schneit. Ich packe mich also ein und marschiere los. Ich nenne es Hirn Auslüften, schwere Gedanken die im Karussell ihre Kreise ziehen, sollen in der Morgenluft in die Freiheit entlassen werden. Niemand ist zu sehen, die Straßen sind leer gefegt. So gehe ich einfach los, es schneit, und nach einigen Schritten sehe ich Musiknoten, die vor meinen Augen herumtanzen und auf und ab sich im Wind wiegen, ich betrachte sie und sehe, dass dies meine Gedanken sind, so verwandelt entschweben sie in das Nirgendwo. So bete ich im Gehen das Diamantene Mantra, ich spüre mich nicht mehr,  „ICH BIN LEERE“, sondern ich fühle unter mir weichen Boden, ich bin im Dschungel. Ich sehe an mir hinunter, ich bin barfuß, ein leichtes langes wallendes Kleid, und ich schwebe über den weichen Moosboden. Es offenbart sich ein sonniger Morgen, eine mystische, magische Welt. Schmetterlinge und Kolibris fliegen um mich herum, die Vögel zwitschern ihr Morgenlied. All die wundersamen Baumriesen, die mächtig in den Himmel wachsen, der Sonne entgegen, deren Blätter rauschen und sich wundersame Geschichten erzählen. Ganz in der Ferne höre ich Axtschläge durch den urwüchsigen Urwald hallen. Ich rieche die Pilze und das Harz der Bäume, dem Humus und den Holzmoder. Es ist alles noch wie damals vor 10 Jahren, als ich das erste Mal durch den Dschungel ging, nur etwas wilder. Der eine oder andere Riese hat sich stumm des Nachts im ewigen Kreislauf der Schöpfung schlafen gelegt. Die Erinnerung ist ganz nah und doch so fern. Die Zeit spielt hier in diesem weihevoll dunklen Blätterdach keine Rolle, weder beim Wachsen noch beim Vergehen. Dieser Ort lebt von der Flora und der Fauna. Ich schwebe noch immer über den Waldboden dahin. In der Ferne aber doch auch ganz nah höre ich den einsam klagenden Ruf eines Waldkäuzchens und nehme ein geheimnisvolles Ächzen wahr. Der Herr des Waldes ist ganz nah, ich spüre seine Aura, seine Anwesenheit, seinen Schutz. Meine Erinnerung an meine letzte Anwesenheit von Februar bis Juli 2020 setzt ein, wo ich auch so geheimnisvolle Erlebnisse hatte. Das Käuzchen wiegte mich jede Nacht in den Schlaf. Ich stehe vor dem großen Tor, meine Wangen sind feucht, es sind Tränen der Erinnerung, sie bringen mich zurück in das Hier und Jetzt. Schneeflocken berühren meine Augen, sie tanzen für den Frühling und für mich.

     

  2. Die Nichtstuer

     

    Die Nichtstuer leben ohne den Staat. Sie bezahlen keine Steuern und sind (oder waren) bis vor kurzem identitär nicht erfaßt. Sie nehmen keine Medikamente und kennen ein Krankenhaus nicht. Sogar eine Stadt kennen sie nicht. Die Nichtstuer sehen nicht fern und haben natürlich auch kein Handy. Sie kommunizieren von Angesicht zu Angesicht, und das auf recht eigentümliche Art. Nicht so wie wir das kennen. Sie glucksen viel und ihre Worte verstehst du sowieso nicht. Die Geschlechter reden untereinander. Da ist der Spaß, das verhaltene Sich Belustigen. Tritt bei den Männern eine Frau hinzu (angekündigt), erstarren alle und nehmen ernste Miene an, den Blick gesenkt. Umgekehrt genauso. Ein Mann hat bei waschenden Frauen nichts verloren, außerdem singen die Frauen beim Waschen. Sie waschen natürlich am Bach oder am Fluß. Wenn die Nichtstuer sich modern geben wollen, dann haben sie vielleicht ein Radio (die Jungen), doch das lebt nur so lange wie die Batterie vorhält. Über Strom verfügen die ausgebufften Nichtstuer natürlich nicht.

    Bei den Nichtstuern geben sich die Frauen den gesamten Tag über geschäftig. Das Baby tragen sie, wie nicht anders zu erwarten, umgeschnallt. Die Nichtstuerfrauen sind wahre Arbeitstiere. Das verstehen sie selbst als naturgegeben, während es den Männern nicht immer anzusehen ist, womit sie sich gerade beschäftigen. Untertags liegen sie oftmals in der Hängematte und schaukeln gemächlich. Aber auch nicht alle. Manche sind fort, unsichtbar, zuweilen für Wochen, ja, für Wochen. Dann sind sie im Wald, auch die Jungmänner. Die Nichtstuermänner beschäftigen sich mit Wild, Pflanzen und Geistern. Soviel ist sicher. Mit Wild und Tieren, die kein Wild abgeben, wie die schwarze Boa und der Tiger, oder der große Ara. Die Nichtstuer kennen sich mit Spinnen, Vipern und Skorpionen erstaunlich gut aus (und noch mehr, man staune, über Ameisen), und sie sind die Einzigen, die versiert über Pilze Auskunft geben können. Den Männern ist es zuweilen vorbehalten, in Rage zu verfallen. Gleichwohl: es wirkt ein wenig gespielt, gar holprig. Wenn Frauen das passiert, werden sie dem Medizinmann übergeben. Der klärt ab, was vorliegt und übergibt sie unter Umständen dem Häuptling. Der wiederum übergibt sie seinem Hauptsoldaten und überläßt es diesem, ob er sie in die Gruppe seiner Raufbolde integriert.

    Die Nichtstuer beschäftigen sich mit Dingen, über die sie sich prinzipiell nicht auslassen. Die Nichtstuer sind die Dichtmacher. Sie reden nicht. Sie schauen dich nur an. Sie beäugen. Das tun sie immer. Zuweilen machen sie sich sehr schnell lustig über dich, sobald sie erkennen, du bist ein blasierter Irrer, der nicht weiß, was er da spricht. Ein Teufel somit, ein Gefährder des Gemeinwesens. Dann bist du sowieso verloren und kannst wieder abziehen. Wenn der Haupthexer gut gelaunt ist und vielleicht leise Barmherzigkeit in sich aufkommen spürt (über die er natürlich niemals sprechen würde), bietet er dir mit teuflischem Grinsen eine Medizin an. Die Augen der zuschauenden Raufbolde glitzern verdächtig. Die Aussicht auf Schadenfreude wirkt nur allzu verführerisch. Der böse Medizinmann erklärt dir, er wird dir nur ein bißchen Pulver in die Nase blasen (nicht Zinga in flüssiger Form), und dann wirst du schon sehen. Und die Augen der wilden Rasselbande lodern geradezu. Geredet wir ja, wie gesagt, wenig, und was geredet wird, verstehst du nicht, auch nicht akustisch. Die Nichtstuer als Geheimniskrämer der Sonderklasse. Der schlimme Außenseiter, den es ans Ende der Welt im Gebiet des Yavari-Miri zu diesen Wilden, die sich selbst „Matsé“, „die Einen“, nennen, verschlagen hat, will natürlich um jeden Preis Format beweisen, streckt den Rücken durch und zeigt Brust. „Ja“, sagt er, natürlich in seiner Muttersprache. „Ich mach’s!“ „Willst du das wirklich?“, fragt der Hexer mit murmelnder Stimme und hinterhältigem Blick. „Ja“, sagt der Gringo geradewohl, so als stünde er unter schwerer Hypnose und müsse ausgefuchsten Marsianern Rede und Antwort stehen, „ich mach’s wirklich. Hier und jetzt. Dafür bin ich doch hier, auch wenn ihr mich auslacht, was außerdem euer gutes Recht ist. Immerhin glaube ich nicht an das Virus, sondern nur an meine eigene Stärke. Also, was warten wir noch? Fangen wir an!“ Der Häuptling der Nichtstuer nickt gefällig zu seiner Bande von Nasenbohrern. Sein Kopf wackelt. „Ihr habt ihn gehört“, bestätigt er. „Der todesmutige Gringo wagt sich drüber! Junge, bring die Medizin!“ Ein Jungspund schwattelt los. Er weiß, große Show ist im Anziehen. Der zweite neben ihm, ein Unangesprochener, weil es sich zufällig um den Sohn des Brujos handelt, darf das Blasgerät bringen. Der Medizinmann haucht die Medizin an, gestikuliert nach allen Richtungen und hält eine Rede Richtung Busch (nicht Richtung Himmel), also ganz offenkundig nicht für die Männer gedacht. Und die Frauen haben bereits in ihrem Bewerkstelligen innegehalten. Auch sie ganz gespannt, unisono aufmerksam aus der Entfernung zulugend. Eine Geste an den Oberbösewicht, die Nummer Eins. Der ergreift die Gerätschaft und füllt mit optimalem Pokerface wie Tony Guoga aus Lettland den doppelläufigen Blasrohrkopf. Ohne Umschweife tritt er an den Weißhäutigen heran und setzt das Gerät unterhalb der Nase an. Der Blasstoß klingt wie ein dumpfer Schuß unter einem Kissen. Der gottesfuerchtige Herr in Tropenkleidung wird aus dem Stand hochgehoben und fällt wie ein lebloser, armloser Klotz zurück auf den halbweichen Boden. Die Krieger wenden sich ab. Die Frauen nehmen ihre Arbeit wieder auf. Einzig der Medizinmann läßt sich nieder. Er wird beobachten, und er wird lange beobachten. Alle anderen verschwinden von der Bildfläche und bleiben verschwunden. Der Gringo derweilen stirbt einen qualvollen Tod (so vermeint er), nämlich den Tod der Gewohnheit, den Tod der Angst. Und nach 24 Stunden (oder gar 48) steht er wieder auf, ganz von alleine, und geht langsam zum Bach. Dort setzt er sich für ein paar Stunden nieder, solange, bis ihm eine Frau, schüchtern lächelnd, Essen bringt. Der Herr räuspert sich und bedankt sich artig, in der Sprache der Nichtstuer. Es ist ihm zum Weinen, doch das wäre das Letzte, was er sich hier erlauben könnte.

     

        

  3. Kestenbetsas Liebe zum Chaos

    Immer noch Regen. In Lima Ausnahmezustand, so wie in Hollywood. Der Tod fährt Ernte ein, auch unter den Oscar-Preisträgern. Ein anderer, ein Waliser, rechnet mit 83 nicht mehr, je nochmals diese vergoldete Statue überreicht zu bekommen. Doch die Jury denkt anders. Antony Hopkins bedankt sich artig und gedenkt im selben Atemzug seines viel zu früh dahingerafften Kollegen und Mitnomminierten, Chadwick Boseman. Die Liste wird immer länger. Christopher Plummer bekam gerade zuletzt den Preis, und heute ist auch er schon wieder tot. Ich bin entsetzt. Gespenstisch! Eine Cocama-Medizinfrau, die ich wegen ihrer Gesänge, die mir nicht aus dem Kopf gehen, dringend anrufe, weil ihre Süße Stimme mir immer unkompliziert antwortet, antwortet mir jedoch zu meiner größten Überraschung nicht aus Nauta, wo ihr Stamm ansässig ist, sondern aus Lima. Was hat sie dorthin verschlagen? Mein Wort fällt in einen tiefen Brunnen. Ich höre es geradezu durch die Leitung glucksen. Die Dame, die ich seit langem kenne und zu schätzen gelernt habe, antwortet mir beinahe aus dem Zusammenhang gerissen. „In Lima steht die Zeit still. Niemand ist auf den Strassen zu sehen. Die vergangene Nacht war gespenstisch. Irgend etwas wird noch in dieser Welt geschehen. Zur Not bewegen Sie sich bitte nicht vom Fleck!“ Ich gucke verdutzt ins Leere, doch bedanke mich zum Glück noch rechtzeitig bei der herzerwärmenden Dame höflich. Ist irgendwo ein Attentat geplant? Hat es jemand auf mich abgesehen? Schlußendlich, wenn ich mich nicht irre, gelte ich in Österreich ja bereits seit guter Zeit als die Unperson schlechthin. Ich werde mit der Reise zu meinem Oberhäuptling Don Guillermo, die für morgen geplant war, noch 24 Stunden zuwarten. Besser so. Außerdem schnürt der Regen wie in Salzburg herunter, und Reinhold Messner philosophiert über die Wichtigkeit seiner Armbanduhr. „Spätestens zu Mittag mache ich mich vom Gipfel auf den Rückweg. Das ist eisernes Gesetz. Als wir uns 1970 auf dem Nanga Parbat nicht daran hielten, kam es zur Katastrophe.“ Er spricht vom Tod seines Bruders Günther, der nie gefunden wurde. Das alles, recht bedacht, ist nur mehr gespenstisch. Selbst die Webseite der KLM gerät zum Scherbenhaufen. Abstürze hüben wie drüben. Meine Moral hat einen Knacks und meine Cocama-Dame sitzt in Lima, wo sie ja eigentlich gar nicht hingehört. Zum Glück schreitet die Liberalisierung unter den Peruanern voran, divergent zu den Vorschriften in öffentlichen Gebäuden. Ein Ruck geht durch die Gesellschaft. Die Angst wird Schritt für Schritt abgelegt. Recht so! Und die Polizistinnen in ihren hautengen Uniformhosen schwingen sich elegant auf ihr Dienstmotorrad. So soll es mir recht sein.

     

    Ein Tag später: Einen Freund nach Jahren wiederzutreffen, gereicht zur Ehre. Die Regenzeit könnte jetzt nachlassen, nach dem Verkehr auf der Straße ins 60 km entfernte Nauta zu schließen. Die Loretaner, so dünkt mich immer wieder, wissen immer genau, ob es heute regnen wird oder nicht. Sie planen größere Aktivitäten je nach Sonnenfreundlichkeit, so wie auch all die Ständler in Belén, die nur dann alles auspacken, wenn Aussicht auf Gutwetter besteht. Wehmut umfaßt mich, kaum bin ich am Flughafen vorbei. Lange ist’s her, daß ich zum letzten Mal hier vorbeifuhr, 2016. Manche Streckenteile sind kaum wiederzuerkennen. Rege Bautätigkeit rechts und links. Manches dafür auch wiederum abbruchsreif, so wie der Busterminal, der wie eine Ruine wirkt. Kein Wunder nach all der Stilllegung. Auf Kilometer 13 biegt Martin wie gewohnt ab, auch hier alles anders. Das Hinweisschild für den „Geist der Anaconda“ gehört der Vergangenheit an. Ich habe nichts Anderes erwartet, dennoch spüre ich ununterdrückbare Irritation. Es dämmert mir augenblicklich, das ist die Last der Toten. Oh wie schade: Die Toten, die nicht mehr reden. Wie sehr vermisse ich euch! Die kostbaren Verluste ringsum. Guillermo hat fast ein Jahr in Spanien verbracht, wie wird das sein „Camp“ überstanden haben? Die Industriezone, in der früher Sand im großen Stil abgebaut wurde, ist stillgelegt. Überall macht sich bereits wieder Gebüsch breit. Ein Paradies zum Indianerspielen, denke ich, während Martin sich mit seinem Motokar die schlammige Steigung hoch zum kurzen Plateau kämpft. Oben Geisterstille. Niemand zu erblicken. Keine Geräusche. Keine Sanddiebe mit ihrem Hamster mitten auf der Straße. Alles verwuchert. Schlimm. Das Shipibo-Camp links verlassen, so wie der „goldene Hahn“ rechts, Guillermos vorvorletztes Projekt. Die letzte Steigung, dann haben wir’s geschafft. Der Eingangswachturm verlassen. Keine Pumpgun-Garde wie anno dazumal, 2010. Das Gatter steht offen, ich signalisiere Martin, fahren wir kurzerhand hinein. So hören sie uns wenigstens. Das Gemeinschaftshaus der Frauen steht noch, so wie die aufgelassenen Ruinen der Arbeiter. Ich fühle mich bereits zur Genüge jenseitig. Ein altbekanntes Gefühl. Alles wirkt lautlos, niemand ist zu sehen, und würdest du jemanden sehen, würden sie dich angaffen als kämst du direkt von Andromeda. Eine desorientierte US-Amerikanerin zu erspähen, oder einen Russen mit wütendem Blick, dafür stehen die Chancen schon höher. Doch das „Fachpersonal“? In dieser kultivierten Mondlandschaft weißen Sandes, wo jeden Augenblick Todesschreie von Dutzenden Schweinen vom Nachbarn rechterhand losbrechen können, ihr brüllend grelles, gehördurchdringendes Quieken zur Fütterungszeit, das einen augenblicklich ins Zwielicht der Absurdität stürzt, in dieser logiklosen Jenseitigkeit regieren einzig und allein Panik und Verwirrung. Die innere Absurdität setzt sich postwendend fort. Der erstaunte Wächter vor dem ehemaligen Wohnhaus des Häuptlings richtet mir aus, der Chef, wenn überhaupt, erwartet mich in San Juan, Avenida de la Participación. Bitte um Verständnis. Martin hat den Braten bereits gerochen. Er weiß, am Bahnhofsvorplatz hier in Shipibo-Land wird mit gezinkten Karten gespielt. Er grinst sülzig. Das liebe ich ja sosehr an ihm, dem Freund, der dem Tod zum wiederholten Mal wie ein Springfloh von der Schippe gehüpft ist. Alle Achtung! Also fahren wir zur neuen Adresse, was bleibt uns Anderes übrig? Der Wächter weiß die Hausnummer des Chefs natürlich nicht, dafür die Telefonnummer schon. Ein Jahrhundertgespräch: „Onkel, da steht ein Gringo, der dich besuchen kommen will. Empfängst du ihn?“ „Was für ein Gringo?“ „Doctor Lobo aus Tamshiyacu, sagt er!“ „Ach du meine Güte! Er steht vor meiner Hütte?“ (Der Chef nennt seine Villa eine Hütte). „Ja, aber er muß nicht aufs Klo.“ „Gut so. Aber frag ihn, ob er auf’s Klo muß. Dann sperrst du auf.“ „Onkel, es ist sowieso alles offen.“ „Besser so. Also bitte, gib ihn mir. Sag ihm, er braucht sich nicht genieren. Ich tu es auch nicht!“ Ich bekomme das Handy überreicht und gelange so ins Privileg, die schnarrende Stimme eines Indiobösewichts aus dem Äther zu kappen. Zum Glück bin ich von Don Agustin bereits hinlänglich diesbezüglich vorbereitet. Wenn er den Stuhlgang seines Hundes bereden will, bitte, gerne. Mal sehen, ob ich zu zittern beginne. Tue ich agratt nicht. Der gute Herr nennt mir zwar keine Hausnummer, stellt mir jedoch freundlicherweise Fischsuppe in Aussicht. Dafür sende ich ihm gedanklich ein Busserl. Wir radeln los. Mitten im Durchkämpfen durch die Sandmassen realisiere ich, daß ich ja immer noch nicht Guillermos Adresse kenne, trotz des Telefonat wie im Traumvakuum. Was nur, um Himmels Willen, ließ mich dermaßen vertrauensvoll einfach los radeln? Und Martin, der Gute, läßt offenkundig auch seine Gedanken, wer weiß, wohin, dahinschweifen. Üblicherweise kommt nach 30 Sekunden, so wie bei seinen anderen geistesversunkenen Kollegen, mitten im Abgasdunst die Frage: „Para dónde?“ Dann klären wir einmal ab, wohin überhaupt. Offenkundig waltet hier momentan Gott- oder Christusvertrauen (Elias würde sagen: „Papi, das ist dasselbe!“ Für ihn ist Christus Gott. Daran besteht kein Zweifel. Elias geht sowieso vor. Ayahuasca hat es klar bezeugt) und erfüllt mich ganz. Keinerlei Unruhe erfüllt mich. Wir radeln einfach weiter. Momentan ist es sowieso ein schweres Rumpeln. Da bleibt für Sorgen keine Zeit. Einmal, damals, an einem sonnig heißen Vormittag, kippte sogar eine unserer Fuhren. Das war mit Italo, Tochter Eugenias damaliger Mann. Kestenbetsa kam auf dem Motorrad mit seinem Sohn sportlich dahergerauscht und grinste vom Sozius aus breit zu uns herüber. Ich fand das nur passend. Ein in der Mondlandschaft umgekipptes Motorrad, doch alle lachen nur. Ich dachte mir nur: „Wenn schon, denn schon. Was Anderes ist bei diesem Herrn in dieser Gegend nicht zu erwarten!“ Das war 2011. Wir kämpfen uns also durch, bis zur Ausfahrt des Varrijals und starten durch. Immer noch finde ich keine Zeit für einen etwas nüchterneren Gedanken, denn Staub und Sandkörner der Piste peitschen gefährlich augennah ins Gesicht. Ich nestle nach dem Brillenetui, doch leider: Fehlansage. Keine Brille eingepackt. Also kneife ich die Augen zusammen und lasse den Dingen ihren Lauf. Gedankenleer lasse ich den Blick in der tropischen Gegend schweifen. So also sieht das Mischmasch der Außenzone dieser weltabgeschiedenen Dschungelstadt aus. Niemanden kümmert hier auch nur irgend etwas. Alles ist improvisiert und schon wieder verfallen. Die Hälfte der Gebäude Ruinen oder nie fertiggestellt. Als ich den Blick nach unten wende, merke ich, meine linke Hand hat sich wieder einmal verselbständigt und hält das Handy in der Offenen. Ich wische und öffne den Nachrichtendienst. Fett grinst mir Guillermos hingekritzelte Nachricht entgegen: San Pablo de la Luz, Avenida Principal, dritter Häuserblock, ein doppelstöckiges, grünes  Gebäude. Na, wer sagt’s denn!? Bei den Indios löst sich immer alles von selbst. Ich atme durch. In solchen Momenten wird mir klar: Hier schaltet und waltet doch jemand. Der eine und wahre Regisseur. Wir landen also in San Pablo. Das unausbleibliche große Rätselraten der Zielgeraden beginnt. Wie kann eine Schlammstraße die Hauptstraße sein? Wir irren eine Weile herum, vor und zurück, und fragen uns durch. Alle Herren äußerst freundlich. Zuletzt, vor einer provisorischen Fussgängerzone, die steil bergab geht, fragen wir den letzten Daherkommenden. Kryptisch verweist er uns ums Hauseck. Dort stünde ein etwas besseres Häuslein. Häuslein. Von Hauseck und Versteckspielen war zwar in der Nachricht keine Rede, doch Guillermos diesbezügliche Faible ist mir mittlerweile bereits geläufig. Wir lassen auslaufen. Vor der Haustüre Maurer am Betonmischen. Wir sind richtig. Bei Guillermo wird immer gebaut. Immer. Auch am Mond und auf Müllabladeplätzen. Denn als etwas anderes kann ich diesen mir bis dato unbekannten Stadtteil San Pablo nicht bezeichnen. Müllabfuhr ist hier unbekannt. Ein paar Meter weiter eine Steilböschung. Unten das Buschdickicht des Schwemmlandes des Rio Itaya. Wir haben zwar bedeckten Himmel, doch du könntest nackt herumlaufen. Ich trete ein und mache Anstalten, gleich nach hinten zur Frühstücksrunde weiterzugehen. Eine Dame bittet um Geduld. Der Opa kommt schon breit grinsend wie ein österreichischer Badewaschel dahergewatschelt. Wir umarmen uns herzlich und ich folge ihm ins Obergeschoß. Als ich mich umblicke, realisiere ich, wir sitzen hier im Wartezimmer eines Dentisten. Alles ist offen, leer und still. „Schenke der Welt ein Lächeln, und die Welt wird dir zurücklächeln!“, lese ich an der Wand. Dazu zwei Zähne. Guillermo hat sich nicht sehr verändert. Ich bin mir sicher, hunderte Frauen sehnen sich nach ihm. Wir schweifen in der Nebelzone herum. Für 15 Minuten kehrt Stille ein, als er auf seinem Handy zu schreiben beginnt, mit langsam tippender Bocksklaue und offenem Mund natürlich. Grad daß ihm der Speichel nicht heraustropft. Ich merke, das ist eine kleine Falle und beobachte ihn gelassen und entspannt. Seltsam, ich fühle mich pudelwohl, wie zuhause bei Opa. Opa tut gerade innerlich gepackt Kreuzworträtsel lösen, und da darf ihn nimand stören. Die Stille endet damit, daß er mir den Namen und die Telefonnummer seiner Administratorin  zeigt, offenkundig eine Deutsche, zumindest dem Namen nach. Ihr Foto schiebt er mir freundlicherweise auch noch nach. Na, wer sagt’s denn? Eine von den Hundert. „Dezember paßt mir, Herr Kollege“, kommt es unkompliziert. „Ansonsten bin ich unterwegs. Du weißt ja, ich ziehe viel und gerne herum, überall. Spanien, Amerika, Türkei.“ „Türkei?“ „Ja, mein Sohn ist gerade dort.“ „In Istanbul?“ „Ja, in Istanbul.“ „Andere Welt…“ „Ja, sehr andere Welt.“ Dann geht’s ab ins Consultorio, es gehört seiner Tochter, wie er mir mit tief zufriedener Stimme klarlegt. Zwei Behandlungsstühle, doch alles mit Plastik gegen Staub abgedeckt. Wie aus dem Nichts fragt er mich nach meinem Beruf. „Bist du Arzt?“ „Nein. Mich interessiert nur die Verwirrung. Verwirrte Leute“, kommt es postwendend aus mir, und ich spüre, wie tief unten der Grubenhunt dahinrollt. Täusche dich nur ja nicht in diesen Indios. Unten darf ich in den Patio weiter, eine Ehre. Knusprig gebratene Gamitana-Stücke liegen auf Tellern herum. Die Zahnärztin (sie muß es sein) zeigt sich entzückt und reicht mir die Hand. Wie komme ich nur zu dieser Ehre? Ich verneige mich nach allen Seiten und draußen verabschieden wir uns, diesmal ohne Umarmung. „Hat alles geklappt?“, fragt Martin routinemäßig. „Lebt seine Mutter noch?“ „Ja, aber sie ist jetzt schon älter. Er arbeitet jetzt mit einer 35-Jährigen. Sagt, sie arbeitet sehr gut.“ „Ja, so sind sie, diese Indios. Für die existieren wir nicht.“ Spricht’s und steigt auf den Starter. Wenigstens Martin existiert.

     

     

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